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Bestimmungsfaktoren der Außenpolitik | bpb.de

Bestimmungsfaktoren der Außenpolitik

Joachim Betz

/ 13 Minuten zu lesen

Nach Jahrzehnten militärischer Zurückhaltung ist Indien auch auf diesem Gebiet Großmacht, seit 1998 Atommacht. Entsprechend selbstbewusst strebt das Land nach internationaler Geltung, ohne sich allzu eng in Bündnisse einzubinden. Regional bleiben der Konflikt mit Pakistan und eine engere Kooperation mit umliegenden Staaten bestimmend - auch, um den Einfluss Chinas zu begrenzen.

Am 4. September 2017 treffen sich die Staatsoberhäupter der BRICS-Staaten Jacob Zuma, Wladimir Putin, Narendra Modi, Xi Jinping und Michel Temer (von li. nach re.) zu ihrem neunten Gipfel in Xiamen, China, und versichern sich, ihre Zusammenarbeit weiter zu vertiefen. (© Reuters/ Kenzaburo Fukuhara/ Pool)

Die Außen- und Sicherheitspolitik ist in Indien immer ein Bereich gewesen, in dem die Regierung selbstständig agieren konnte, weitestgehend auch ohne größere Konsultation oder Mitentscheidung des Parlaments. Die wesentlichen Konstanten dieser Politik sind: die Aufrechterhaltung von Souveränität und territorialer Integrität Indiens, das Streben nach globalem Großmachtstatus (unter anderem durch Erlangung eines ständigen Sitzes im UN-Sicherheitsrat) und regionaler Dominanz, außenpolitische Autonomie (also keine feste Bindung an eine Allianz) und das Heraushalten "raumfremder" Mächte aus dem eigenen Sicherheitsbereich, der seit den 1980er-Jahren sehr weiträumig definiert wird und einen Großteil des Indischen Ozeans einschließt. Diese Grundpositionen werden von fast allen gesellschaftlichen Gruppierungen und politischen Parteien geteilt.

Haltung im Ost-West-Konflikt

Nach der Unabhängigkeit verfolgte Indien zunächst eine "idealistische Außenpolitik", die als Ziel eine friedliche Welt mit gegenseitiger Toleranz propagierte und – mit seiner führenden Rolle in der Bewegung der Blockfreien – einen dritten Weg jenseits der Konfrontation der Supermächte suchte. Doch sollte die indische Version der Blockfreiheit schon bald eine prosowjetische Schlagseite bekommen, begünstigt auch durch die staatswirtschaftliche Ausrichtung der indischen Entwicklungsstrategie und die amerikanische Aufrüstung Pakistans. Die kleineren indischen Nachbarn wurden in das von den Briten übernommene Sicherheitssystem integriert. Mit der Führung der VR China bestand Einigkeit in der antikolonialen Ausrichtung. Dies wurde durch den Abschluss eines Freundschaftsvertrages über Nichteinmischung und friedliche Konfliktbeilegung untermauert. Stärkere eigene Rüstungsanstrengungen schienen zunächst entbehrlich. Das sollte sich mit der Niederlage im indisch-chinesischen Grenzkrieg (1962) deutlich ändern, dem auch bald eine Annäherung zwischen Pakistan und der VR China folgte. Abschlägig beschiedene Wünsche nach Lieferung modernen Kriegsgeräts durch die USA führten Indien kurze Zeit später noch stärker an die Seite der Sowjetunion.
Die folgenden Jahre standen im Zeichen indisch-pakistanischer Konflikte. Pakistan war 1965 der Angreifer, wurde aber zurückgeschlagen. Die USA belegten die Kontrahenten mit einem Waffenembargo, die Sowjetunion vermittelte vergleichsweise unparteiisch in den Friedensverhandlungen von Taschkent. Nach den gesamtpakistanischen Wahlen von 1971 drohte sich der Osten vom Westen des Landes abzuspalten, Millionen Menschen flohen nach Indien. In diese gespannte Situation platzte die Nachricht der amerikanisch-chinesischen Annäherung. Die indische Regierung sah sich zum Abschluss eines Vertrages mit der Sowjetunion genötigt, der im Angriffsfall sofortige Konsultationen – allerdings keinen automatischen Beistand – vorsah und nur bei großzügiger Interpretation noch dem Kriterium von "Blockfreiheit" genügte. Nach dem militärischen Sieg über die im Osten kämpfende westpakistanische Armee im Dezember 1971, dem die Unabhängigkeit Ostpakistans als neuer Staat Bangladesch folgte, bemühte sich die indische Regierung wieder um stärkere außenpolitische Neutralität. Das sollte sich 1979 mit der sowjetischen Intervention in Afghanistan wieder ändern, deren Verurteilung sich Indien nicht anschloss. Dies brachte der indischen Außenpolitik einen beträchtlichen Prestigeverlust.

Neuausrichtung nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Staaten

Der Zusammenbruch der sozialistischen Staatenwelt und das Ende der Blockkonfrontation veränderten die jahrzehntelang gültigen Grunddeterminanten der indischen Außenpolitik. Als Folge der Genfer Friedensverhandlungen über Afghanistan 1988 begann der Wert Pakistans als strategischer Sicherheitspartner für die USA zu sinken; parallel dazu verlor Indien für die Sowjetunion an Bedeutung, verstärkt nach deren Aussöhnung mit China.
Die Entspannung zwischen den beiden Supermächten stand im Gegensatz zur fortgesetzten Aufrüstung und Weigerung Indiens, dem Atomwaffensperrvertrag beizutreten, weil dieser Indien den Besitz von Atomwaffen verboten hätte. Mit der Entspannung verringerte sich auch das Gewicht der Blockfreienbewegung; Indien verlor damit eines seiner wichtigsten außenpolitischen Foren. Schließlich brachte der wirtschaftliche Zusammenbruch der vormals sozialistischen Staaten den beiderseitigen Austausch zum Erliegen.
Die offizielle indische Außenpolitik reagierte auf diese neue Lage zunächst hilflos, entschied sich aber später zu einer deutlichen Kurskorrektur – parallel zur wirtschaftlichen Öffnung. Beobachter sehen in dieser Korrektur einen Wechsel zu einer pragmatischen Strategie. Deren Hauptbestandteile sind die starke Annäherung an die USA, der Versuch, durch einseitige Vorleistungen engere Kooperation in Südasien zu erreichen, und eine Wendung nach Südostasien (look east policy). In den Zusammenhang dieses Politikwechsels gehören auch der Wille, durch Dialog mit der VR China eine Lösung der strittigen Grenzfrage zu erreichen, den bilateralen Wirtschaftsaustausch zu intensivieren und sich in Fragen der global governance (etwa der Handels- und Klimapolitik) abzustimmen.

Annäherung an die USA

Die Absicherung des wirtschaftlichen Aufstieges Indiens ist strategisch an die erste Stelle getreten. Das verlangt gute Beziehungen zu allen wichtigen Mächten. Die Regierung war sich im Klaren darüber, dass künftig technisches Wissen und Know-how eine herausragende Rolle in der internationalen Machtverteilung spielen werden, es darüber hinaus in einer neuen internationalen Ordnung auch auf gemeinsame politische und kulturelle Werte, insbesondere die Förderung von Demokratie und Menschenrechten sowie die Achtung gesellschaftlicher Pluralität, ankommt. Dabei und bei der Abwehr des internationalen Terrorismus sieht sich Indien in besonders enger Gemeinschaft zu den Vereinigten Staaten.
Die Beziehungen zu diesen besserten sich erheblich. Zunächst betraf dies die militärische Zusammenarbeit, die sich in verstärkten indischen Rüstungskäufen, in gemeinsamen Flottenübungen und 1995 in einem bilateralen Sicherheitsabkommen niederschlug. Verstimmung brachten die indischen Nukleartests 1998, die von den USA und anderen Staaten mit Wirtschaftssanktionen beantwortet wurden, das nuklear nachziehende Pakistan aber mehr schmerzten als Indien und die bald wieder aufgehoben wurden. Auch durch die Bereitschaft der indischen Regierung, mit den USA wiederholt über die indische Nuklearpolitik Gespräche zu führen, begannen sich die Beziehungen wieder zu bessern.

Im März 2000 kam es zu einem Staatsbesuch Präsident Bill Clintons, bei dem sich die amerikanische Seite den indischen Standpunkt in der Kaschmirfrage zu eigen machte und zwischen den "natürlichen Verbündeten" USA und Indien eine "strategische Partnerschaft" vereinbart wurde. In der Folgezeit versuchte Indien, sich als verantwortliche Nuklearmacht zu profilieren und verzichtete auch auf weitere Tests. So wurde im März 2006 ein bilaterales Abkommen vereinbart, nach dem Indien nach 30 Jahren Unterbrechung wieder mit Nuklearbrennstoffen und -technologie versorgt werden durfte. Dafür musste es einen Teil seiner Nuklearanlagen internationaler Inspektion öffnen. Dieser Vertrag konnte in Indien 2008 nur mit Mühe durch das Unterhaus gebracht werden.
Auch aus anderen Gründen verbesserten sich die bilateralen Beziehungen: Die USA stiegen, bedingt durch die wirtschaftliche Liberalisierung Indiens, zwischenzeitlich zum größten Handelspartner Indiens und einem der wichtigsten Investoren auf. Der Umfang der überdurchschnittlich gut ausgebildeten und finanziell bemittelten indischstämmigen Minderheit in Amerika ist erheblich gewachsen und soll heute mehr als drei Millionen Personen betragen. Indiens Einfluss in den USA wird gestärkt durch den sogenannten Caucus on India and Indian Americans im amerikanischen Kongress, der zurzeit 110 Abgeordnete zählt. Überdies sind beide Staaten demokratische und gesellschaftlich plurale Gemeinwesen, auch wenn die "Wertegemeinschaft" nicht so weit führt, dass Indien nun daran Interesse hätte, die Demokratie zu exportieren oder Beziehungen zu außenwirtschaftlich wichtigen, aber undemokratischen Staaten (etwa dem Iran) zu kappen. Indien möchte sich auch keineswegs in ein von den Vereinigten Staaten gelenktes Bündnissystem zur Eindämmung der VR China einspannen lassen, sondern seine Autonomie wahren.
Das früher enge Verhältnis Indiens zur Sowjetunion / zu Russland hatte sich nach dem Ende des Ost-West-Konflikts zunächst deutlich abgekühlt. Der strategische Wert des indischen Partners sank erheblich. Der bilaterale Handel auf Verrechnungsbasis (im Wesentlichen Öl und Rüstungsgüter gegen eher zweitklassige indische Fertigwaren) brach zusammen. Russland suchte überdies erfolgreich den Ausgleich mit China und belieferte den Konkurrenten Indiens mit Rüstungsmaterial. Zudem kritisierte Moskau die Nichtzeichnung des Atomwaffensperrvertrages durch Indien und stoppte den Export entsprechender Technologien.
Das Problem der im bilateralen Handel aufgelaufenen indischen Schulden konnte bei einem Staatsbesuch des russischen Präsidenten 1993 gelöst werden. Darüber hinaus kam es bei diesem Besuch zur Unterzeichnung eines Vertrages über Freundschaft und Zusammenarbeit, der sich nicht mehr gegen Dritte richtete. Später nahm Russland die Lieferung schweren Wassers für die indischen Reaktoren wieder auf, protestierte allerdings gegen die indischen Atomtests.

Eine wirkliche Wende im bilateralen Verhältnis brachte erst der Amtsantritt Präsident Wladimir Putins 2000. Bei dessen erstem Staatsbesuch wurde eine "strategische Partnerschaft" zwischen beiden Staaten vereinbart, danach die Rüstungskooperation wieder ausgeweitet. Indien und Russland sind sich einig in einer Abwehr amerikanischer Hegemoniebestrebungen. Russland unterstützt den Wunsch Indiens nach einem ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat, arbeitet mit Indien in der Gruppe der BRICS (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) zusammen und enthält sich jeglicher Kritik an den indischen Aktionen in Kaschmir.
Das bilaterale Verhältnis wird überwiegend von enger Rüstungskooperation geprägt, bei dem Indien auch Zugang zu modernsten russischen Technologien erhält. Das indische Militär bezieht 2/3 seiner Rüstungsgüter aus Russland, auch wenn es über die Qualität der russischen Waffen bisweilen klagt. Wirtschaftlich sind die bilateralen Beziehungen marginal – sowohl was den langsam wieder ansteigenden wechselseitigen Handel als auch die Investitionen anbetrifft. Dennoch ist die indische Führung vom Wert der Partnerschaft überzeugt, schon allein, um die weltpolitische Dominanz der USA und Chinas einzuhegen.

Indiens Politik gegenüber seinen Nachbarstaaten

Die zweite Wende betrifft das Verhältnis zu den Nachbarstaaten. Dieses war von Beginn an schwierig, weil Indien wirtschaftlich, geografisch und bevölkerungsmäßig Südasien stärker dominiert als vergleichbare Mächte (etwa Brasilien) ihre Region. Es nimmt nicht wunder, dass daraus Ängste der Nachbarn, beherrscht zu werden, erwuchsen. Eine paternalistische Großmachtattitüde, die Indien lange Zeit in der Region an den Tag legte, verstärkte diese Ängste noch. Ausdruck versuchter bzw. tatsächlicher Bevormundung, der sich die kleinen Staaten kaum entziehen konnten, waren u. a. die Freundschafts- und Beistandspakte mit Bhutan, Nepal, Bangladesch und – nach Intensivierung des dortigen Bürgerkriegs – auch mit Sri Lanka, die den Spielraum dieser Staaten verminderten. Dazu kamen indische Militärinterventionen in Sri Lanka und auf den Malediven, einseitige Maßnahmen, die die Entwicklungsmöglichkeiten der Nachbarn beschnitten (etwa der Bau des Farakka-Staudamms, der die Landwirtschaft in Bangladesch trockenlegte), sowie ausgeprägte Erpressungsversuche bei Selbstständigkeitsbestrebungen der kleineren Nachbarn, etwa die Aufkündigung des Transitabkommens mit Nepal 1989. Pakistan konnte sich als größter Nachbar diesen Bestrebungen am ehesten widersetzen, entsprechend spannungsreich verliefen die beiderseitigen Beziehungen.

Skepsis gegen Regionalabkommen

Die Dominanz Indiens war auch lange nicht mit einem regionalen Projekt verbunden, das dem Land größere Lasten oder gar Machtteilung (etwa bei der Bildung einer regionalen Gemeinschaft) abverlangt und damit den Nachbarn den Anreiz genommen hätte, die Übermacht Indiens durch Verbindung mit raumfremden Mächten zu kompensieren. Dies wurde überdies durch die lange Zeit unterschiedliche politische und wirtschaftliche Entwicklung auf dem Subkontinent verhindert. Initiativen zur Bildung einer regionalen Gemeinschaft (South Asian Association for Regional Cooperation, SAARC) kamen angesichts dieser Probleme nur spät (1980) in Gang, sie gingen bezeichnenderweise auch nicht von Indien, sondern von Bangladesch aus. Mitglieder der 1985 gegründeten SAARC sind Bangladesch, Bhutan, Indien, die Malediven, Nepal, Pakistan und Sri Lanka. Seit 2007 gehört Afghanistan dazu.
Die indische Regierung sah die Initiative zunächst als Versuch der Nachbarn, Indien kollektiv unter Druck zu setzen, Pakistan fürchtete sich dagegen vor Überschwemmung seines Marktes mit indischen Waren. Beide Staaten hielten sich deshalb zunächst zurück. Konsequenterweise wurden daher zunächst nur Kooperationen in eher technischen, unpolitischen Sektoren und regelmäßige Gipfeltreffen vereinbart sowie auf die Behandlung sensibler Themen wie Handel, Währung, Industrialisierung und Außenpolitik verzichtet.

Erst im Mai 1993 wurde ein Handelspräferenzabkommen abgeschlossen, das einen bescheidenen Anfang zur (in anderen Regionen wie Lateinamerika oder Südostasien schneller voranschreitenden) Verringerung der intraregionalen Zölle brachte; es wurde 2004 zu einer Freihandelszone (South Asian Free Trade Area, SAFTA) ausgebaut. Diese operierte aber immer noch mit einer langen Negativliste nicht liberalisierter Importe, der Zollabbau zog sich lange hin und die nicht tarifären Handelshemmnisse blieben ausgenommen.
Indien hat aber neuerdings in Bezug auf seine Nachbarschaft einen deutlichen Kurswechsel vollzogen: Neben seinem aktiven Einsatz für das schon genannte Freihandelsabkommen hat es mit allen Nachbarn außer Pakistan bilaterale Abkommen geschlossen, die für die ärmeren unter ihnen (mit Ausnahme Sri Lankas) für nicht sensible Güter zollfreien Zugang zum indischen Markt ermöglichen. Bangladesch wurden Transitrechte im Handelsverkehr zu Nepal und Bhutan eingeräumt, ohne eine Gegenleistung dafür zu verlangen. Im Jahr 2015 konnte auch das lästige Problem Dutzender bangalischer bzw. indischer Enklaven auf dem jeweiligen Territorium des Nachbarn gelöst werden. Schließlich leistet Indien auch beträchtliche Entwicklungshilfe für die ärmeren südasiatischen Staaten.

Konflikt mit Pakistan

Grenzgebiete zu Pakistan und China (© mr-kartographie, Gotha 2017)

Problematisch sind nach wie vor die Beziehungen zu Pakistan, das lange versucht hatte, das Machtgefälle zu Indien durch amerikanische Waffenlieferungen auszugleichen, militärisch aber völlig ins Hintertreffen geraten ist. Pakistan wollte später seine konventionelle Unterlegenheit durch Vorantreiben der nuklearen Option kompensieren; Indien betrieb dies eher mit Blick auf China. Beide Staaten verweigerten die Unterzeichnung des Nichtweiterverbreitungsvertrags und trieben ein Kernenergieprogramm voran, das in Indien durch Eigenentwicklung, in Pakistan über verdeckte Käufe nuklearer Komponenten, Industriespionage und vermutliche Unterstützung Chinas Erfolg hatte. Im Jahr 1998 erschreckten beide Staaten die Welt mit Atombombentests und später der wiederholten Drohung, diese notfalls auch gegeneinander einzusetzen.
Deeskalation gegenüber Pakistan wäre der Testfall für eine deutlich andere Haltung Indiens gegenüber den Nachbarn. Hierbei ist die Bilanz durchwachsen. Zwar betont die indische Regierung seit geraumer Zeit, dass ein "stabiles, gemäßigtes und prosperierendes Pakistan im Frieden mit sich selbst und seinen Nachbarn" im indischen Interesse liege und 2004 wurde auch tatsächlich ein langjähriger Dialog über nahezu jedes bilaterale Problem gestartet, der auch vorzeigbare Ergebnisse brachte (Wiedereröffnung von Konsulaten, Ankündigung von Raketentests, Schifffahrtsprotokoll etc.), leider kam dieser Prozess nach den Anschlägen von Mumbai (2008) vorläufig zum Erliegen und die pakistanische Seite reagierte mit Verzögerung der versprochenen Handelserleichterungen gegenüber Indien. Auch unter der Regierung Modi gab es bisher ein Hin und Her von Gesprächsbereitschaft und Rückzug, wobei die Gründe für den Rückzug nicht immer wirklich schwerwiegend waren.

QuellentextFragile Nachbarschaften

[…] Am 15. August 1947 wurde Indien unabhängig. Großbritannien gab seine Kolonie frei. Britisch-Indien wurde aufgeteilt in ein muslimisches Pakistan und in die indische Union. […] Das erste Ergebnis der Teilung Indiens waren Flucht und Vertreibung von etwa 20 Millionen Menschen mit Hunderttausenden Toten. Die Idee, die Konflikte zwischen Muslimen und Hindus durch die Schaffung zweier getrennter Staaten beizulegen, war gescheitert. Aus einem Pulverfass waren zwei geworden. Dabei waren die neuen Herren weder in Pakistan noch in Indien sonderlich religiös. Angesichts der unterschiedlichen Religionen in Indien war das wohl ein Glücksfall. […] Man könnte die Geschichte der beiden Staaten als einen Prozess beschreiben, in dem die "Mitternachtskinder", so der Titel von Salman Rushdies großartigem Roman über das geteilte Indien, sich immer gewalttätiger radikalisieren. Bis sie sich als Atommächte gegenüberstehen. […]

Jahrhundertelang kamen die Invasoren Indiens aus dem Nordwesten: irakische Araber, Mamluken und Tughluqs, beide ursprünglich türkische Sklaven, Paschtunen aus Afghanistan. Bis 1835 war Persisch Amtssprache in Indien. Jahrhundertelang unterstanden die Gebiete des heutigen Nordindiens, Pakistans und Afghanistans einem Herrscher. Das Grab des Begründers des Mogulreiches zum Beispiel steht nicht in Delhi, sondern in Kabul. Das heißt nicht, dass Indien Expansionsgelüste in diese Richtung hat, es erklärt aber, warum Neu-Delhis Eliten sich so dafür interessieren, was dort passiert.

Mit Narendra Modi, geboren 1950, wurde 2014 ein radikaler Hindu-Politiker Premier des Vielvölkerstaates. […] "Indien an erster Stelle", das ist Modis Parole. […]
Natürlich blickt Indien nach wie vor auf Pakistan, seinen gefährlichsten Nachbarn. Aber ökonomisch wird Indien vor allem von China bedroht. Es sind nicht nur die Millionen Billigprodukte aus China, die den Markt überschwemmen. Chinas Expansionswille wirkt sich viel massiver aus. China baut Häfen aus vor Myanmar, Bangladesch, Sri Lanka und Pakistan. Das sind Indiens Nachbarn, das betrachtet Indien als sein Einzugsgebiet. China hat eine effektive, große Flotte. Indien ist erst dabei, eine zu bauen. China braucht eine funktionierende Verbindung zu den Golfstaaten. Indien wehrt sich. Gegen den von den Chinesen betriebenen Ausbau des pakistanischen Hafens von Gwadar vergrößert Indien seinen Hafen in Karwar im indischen Staat Karnataka. Gegen den massiven Ausbau von Kyaukpyu (Myanmar), wo China auch Pipelines installiert, baut Indien im nur 60 Kilometer entfernten Sittwe seinen eigenen Hafen- und Energiekomplex auf. […]

Wem das alles schon kompliziert, ja gefährlich genug erscheint, den muss man daran erinnern, dass Millionen Bangladeschis nach Indien fliehen, dass Indien mit Pakistan und China um Gebiete von Kaschmir streitet. Seit Jahrzehnten. […]

Arno Widmann, "Jede Menge Pulverfässer", in: Berliner Zeitung vom 15. August 2017 © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Rundschau GmbH, Frankfurt

Beziehungen zur ASEAN-Gruppe

Einen gewaltigen, schon lange anhaltenden Wandel gibt es in den Beziehungen Indiens zu den südostasiatischen Staaten in der ASEAN (Association of Southeast Asian Nations). Um diese Region hatte Indien lange Zeit einen großen Bogen gemacht wegen ihres engen Anschlusses an das westliche Allianzsystem und ihrer ausgeprägt marktwirtschaftlichen Entwicklungsstrategie. Das hat sich mit der look east policy seit Mitte der 1990er-Jahre zu ändern begonnen: Indien benötigte nach den wirtschaftlichen Reformen neue Absatzmärkte und Investoren. China war allerdings beim Beziehungsaufbau zu den ASEAN-Staaten vorausgeeilt, weswegen Indien nun rasch nachzog; zunächst als Dialogpartner von ASEAN, später mit einem eigenen Freihandelsabkommen, das Indien größere Konzessionen abverlangte und daher erst nach mühseligen Verhandlungen 2010 in Kraft trat. Indien hat auch bilaterale Verteidigungsabkommen mit fast allen ASEAN-Staaten geschlossen. Sie dienen alle der Ausbalancierung der US-Suprematie im asiatisch-pazifischen Raum und der Bildung eines Gegengewichts zum Aufstieg Chinas.

Verhältnis zu China

Militärstärken China / Indien (© Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbild 621 162; Quelle: Global Firepower Index)

Das chinesisch-indische Verhältnis war in neuester Zeit deutlichen Spannungen ausgesetzt; 2013 drangen chinesische Truppen in den von Indien beanspruchten Teil Ladakhs ein. Die Konfrontation wurde abgelöst durch den Rückzug der chinesischen Truppen und ein Abkommen zur Kooperation bei der Grenzverteidigung; es löste allerdings nicht die seit Jahrzehnten strittige Grenzfrage. Diese hat eine lange Vorgeschichte: Tibet war bis kurz vor dem Ersten Weltkrieg britisches Protektorat, nach Lösung dieser Verbindung wurde auf der Konferenz von Shimla (1914) die McMahon-Linie vertraglich zur verbindlichen Grenze zwischen Tibet und Britisch-Indien festgelegt. China betrachtete aber Tibet stets als "abtrünnige Provinz" und hat daher der Grenzvereinbarung nie zugestimmt. Die Beschneidung der Autonomie Tibets nach 1949 durch die chinesische Zentralregierung führte zu einem Aufstand und der Flucht des Dalai Lama nach Indien, wo ihm und seiner Anhängerschaft Asyl gewährt wurde. China versuchte danach seine territorialen Ansprüche jenseits der McMahon-Linie durchzusetzen und errichtete militärische Außenposten in einem von Indien beanspruchten Teil Kaschmirs (dem Aksai Chin), gefolgt von Gegenreaktionen Indiens. Es kam zum Krieg (1962) und einer demütigenden Niederlage Indiens, in deren Folge China dauerhaft Teile des eroberten Gebietes besetzt hielt.

Erst in den späteren 1980er-Jahren einigten sich beide Staaten auf die Einrichtung einer Grenzkommission und die Ausdünnung der Truppenstärke jenseits der Waffenstillstandslinie. Diese Kommission schaffte es in bislang 16 Verhandlungsrunden nicht, das Problem aus der Welt zu schaffen. Dies erklärt sich durch die strategische Bedeutung der von China seit 1962 besetzten Gebiete, durch die früher die einzige Allwetterstraße von Zentralchina in die aufmüpfige Provinz Sinkiang führte. Die Verzögerung bei der Lösung der Grenzfrage dient heute aber auch dazu, Indien die Risiken einer zu starken Annäherung an die USA zu demonstrieren und seiner Regierung Zurückhaltung im Umgang mit den Exiltibetern aufzuzwingen.

Neben dem offenkundigen Territorialdisput geht es im indisch-chinesischen Verhältnis um die künftige politische Dominanz in Asien und die Konkurrenz um Weltgeltung. Indien fühlt sich von China zunehmend eingekreist; die außenpolitische Elite Indiens hat angefangen, das bislang praktizierte gleichwertige Engagement zu allen Großmächten zu überdenken und einen engeren Schulterschluss mit den USA zu erwägen.
China und Indien haben vor allem dann gemeinsame Interessen, wenn es darum geht, Interventionen durch die USA und andere westliche Staaten sowie deren Forderungen zur Übernahme globaler materieller und finanzieller Verantwortung zurückzuweisen, etwa bei der Bekämpfung des Klimawandels oder der Liberalisierung des internationalen Handels.

Abgesehen davon, dass Indien und China punktuell gemeinsame Interessen verfolgen, betreiben sie eine ausgeprägte geostrategische Einkreisungspolitik gegeneinander, wobei China deutlich mehr Machtmittel zur Verfügung stehen. Die chinesische Politik zielt im Kern darauf ab, Indien durch die Ermutigung mehr oder weniger feindlicher Nachbarn zu schwächen sowie südasiatische Staaten wirtschaftlich und militärisch stärker an China zu binden – durch Rüstungshilfe, Ausbau von Häfen und Horchposten –, dadurch Indien in Konflikte mit seinen regionalen Nachbarn zu verwickeln und sein Ausgreifen andernorts zu vereiteln.
Hauptsächliches Ärgernis für Indien stellt die militärische Unterstützung Pakistans durch China dar. Peking ist schon seit Jahrzehnten der verlässlichste Rüstungslieferant dieses Landes; es hat geholfen, dort die ersten drei Atomkraftwerke zu errichten. China arbeitet mit Pakistan auch bei der Raketentechnologie zusammen; Pakistan ist dadurch in der Lage, Raketen zu bauen, die zahlreiche indische Ziele erreichen könnten.
Seit geraumer Zeit begegnet Indien der chinesischen Einkreisungspolitik damit, dass es zum einen bessere Beziehungen zu den Erzfeinden Chinas (Japan, Vietnam, auch Singapur) aufbaut und zum anderen sich die zunehmenden südost- und ostasiatischen Ressentiments gegenüber einer als aggressiv empfundenen Politik Pekings im Südchinesischen Meer zunutze macht. So wurde mit Japan 2005 eine umfassende strategische Partnerschaft vereinbart und 2008 ein Abkommen über militärische Kooperation unterzeichnet. Zudem kultiviert Indien auch seit Jahren seine Beziehungen zu Vietnam; es hat mit diesem Land ein Verteidigungsabkommen geschlossen und unterstützt es bei der Modernisierung der Streitkräfte.

Fussnoten

Professor Dr. rer. soc. Joachim Betz, Jahrgang 1946, war Leitender Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Asien-Studien des GIGA (German Institute of Global and Area Studies / Leibniz-Institut für Globale und Regionale Studien) und ist Prof. emeritus für Politische Wissenschaft an der Universität Hamburg.
Seine fachlichen Schwerpunkte sind Politik und Wirtschaft Südasiens, Verschuldung, Rohstoffpolitik, Globalisierung und Entwicklungsfinanzierung.