Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Die "Eroberung der Welt" und der Konflikt um universelle Rechte | Europa zwischen Kolonialismus und Dekolonisierung | bpb.de

Europa zwischen Kolonialismus und Dekolonisierung Editorial Einleitung Die "Eroberung der Welt" und der Konflikt um universelle Rechte Die Epoche des Hochimperialismus Krisen und Niedergang der europäischen Imperien Die Auflösung der europäischen Imperien und ihre Folgen "Wir" und die "Anderen": europäische Selbstverständigungen Die "Anderen" in den Metropolen Kultureller Wandel und hybride Identitäten Ausblick Literaturhinweise Karten Impressum

Die "Eroberung der Welt" und der Konflikt um universelle Rechte

Prof. Dr. Gabriele Metzler

/ 9 Minuten zu lesen

Ab dem 15. Jahrhundert gilt die Neue Welt in Europa als Quelle unermesslichen Reichtums. Auswanderungswillige sehen dort die Chance auf ein besseres Leben und Privatunternehmer beuten lokale Rohstoffe aus, die Handelsschiffe nach Europa bringen. Ermöglicht wird dies durch den Einsatz von Sklaven. Doch die Vorstellung universell gültiger Menschenrechte, die mit der französischen Revolution 1789 aufkommt, stellt die herrschende Praxis zunehmend in Frage.

Eine Weltkarte von 1502 zeigt mittig links die Demarkationslinie von 1494, die gemäß dem Vertrag von Tordesillas die Einflussbereiche von Portugal und Spanien trennt. (© INTERFOTO / Granger, NYC)

Der Anspruch der europäischen Mächte, die Welt untereinander aufzuteilen, wird vielfach mit der Epoche des Hochimperialismus im späten 19. Jahrhundert in Verbindung gebracht, doch er reicht sehr viel weiter zurück. Tatsächlich dürfte er zu keinem Zeitpunkt nachdrücklicher und umfassender erhoben worden sein als im Vertrag von Tordesillas, den Spanien und Portugal, vermittelt von Papst Alexander VI., 1494 miteinander abschlossen. Mit diesem Vertrag zogen sie auf der Karte der damals bekannten Welt kurzerhand eine Linie zwischen Nord- und Südpol, die ungefähr dem heute gültigen 46. Längengrad entsprach. Was östlich dieser Linie lag, also Afrika und Asien, sollte Portugal zustehen; der westliche Teil, vor allem Südamerika, wurde als spanische Interessensphäre anerkannt. Eine Ausnahme bildete das heutige Brasilien, das noch zum Einflussbereich Portugals zählte, weshalb dort bis heute Portugiesisch und nicht – das sonst in Lateinamerika übliche – Spanisch gesprochen wird.

Fünf Phasen der europäischen Expansion vom 15. bis zum 19. Jahrhundert

Mit diesem aus heutiger Perspektive geradezu Atem verschlagenden Federstrich setzten die beiden dominierenden Seemächte ihrer Zeit den Auftakt zur Expansion Europas in die Welt. Der Historiker Benedikt Stuchtey unterscheidet fünf Phasen, in denen sich dieses Ausgreifen vollzog: Waren (1.) zunächst Spanien und Portugal die treibenden Mächte, so traten seit dem 17. Jahrhundert (2.) mit England, Frankreich und den Niederlanden Konkurrenten auf den Plan, die ihrerseits eigene Gebiete zu kontrollieren begannen (Abb. Karte I). Im 18. und frühen 19. Jahrhundert (3.) erfolgte der Aufstieg Großbritanniens zur globalen Supermacht. Um 1770 hatten die Europäer bedeutende Kolonialreiche etabliert, so in Nordamerika (Großbritannien, Frankreich), Südamerika (Spanien, Portugal), Indien (Großbritannien, das dort bald auch Frankreich verdrängte), Südostasien (Niederlande, Großbritannien), Südafrika (Großbritannien, Niederlande) sowie Neuseeland und Australien (Großbritannien). Freilich sagten sich in dieser Phase auch bereits die ersten Kolonien von ihrem jeweiligen Mutterland los: Großbritannien verlor 1776 bzw. 1783 die 13 Kolonien in Nordamerika, Frankreich verlor 1804 Haiti, Spanien musste in den 1820er-Jahren auf seine Besitzungen in Südamerika verzichten und Portugal 1822 auf Brasilien.
Kurz darauf, im Jahr 1830, nahm Frankreich jedoch Algerien ein und gab damit den Startschuss zur kolonialen Durchdringung des afrikanischen Kontinents (4.), die ganz wesentlich die Epoche des Hochimperialismus im späten 19. Jahrhundert bestimmte. In dieser Zeit begannen auch die USA, sich als imperialistische Großmacht zu etablieren. Im Krieg gegen Spanien eroberten sie 1898 Kuba, Puerto Rico, die Philippinen und Guam (5.). Der Aufstieg der USA und ihr Handeln als globale Macht sind seitdem ein bedeutender Einflussfaktor für die internationale Politik.

Die ferne Welt rückt näher

Die Form und die Intensität kolonialer Herrschaft fielen durchaus unterschiedlich aus. Vielfach handelte es sich nur um militärische Stützpunkte, die beispielsweise die britische Regierung entlang der westafrikanischen Küste errichten ließ, um den Seeweg nach Indien abzusichern. Manchmal entstanden aber auch Siedlerkolonien wie etwa in Nordamerika, in Südafrika oder in Australien. Bei weitem nicht immer waren europäische Staaten die treibenden Akteure. Oftmals gaben mit königlichem Statut ausgestattete private Handelsgesellschaften wie etwa die englische East India Company den Takt der Expansion vor. Auch die wirtschaftliche Durchdringung der kolonialen Räume fiel unterschiedlich aus: Sie reichte von der Ausbeutung lokaler Rohstoffe und dem Handel mit Luxuswaren bis hin zur Einrichtung großer Plantagenwirtschaften, die wiederum vom Sklavenhandel abhängig waren. Eine Begleiterscheinung kolonialer Herrschaft und Wirtschaft war ein ausgeprägter "ökologischer Imperialismus", so der US-amerikanische Historiker und Geograf Alfred Crosby: Mit den Menschen aus Europa kamen bis dahin unbekannte Krankheitserreger in die Neue Welt und führten dort zu massenhaftem Sterben der einheimischen Bevölkerung. Außerdem wurden Pflanzen und Tiere aus ihrer ursprünglichen, natürlichen Lebenswelt in neue Umgebungen verbracht, um dort mit ihrem Anbau bzw. ihrer Zucht größere Gewinne zu erzielen – was mitunter gravierende Folgen für die Fauna und Flora vor Ort hatte.

Für die Menschen in Europa waren die Kolonien vor dem Aufkommen moderner Massenkommunikationsmittel weit entfernt – und dennoch waren sie ihnen ganz nahe. Denn die Neue Welt befeuerte Fantasien und Weltsichten, sie war ein Vorstellungsraum, den "die Anderen", lange Zeit als "edle Wilde" Beschriebenen, besiedelten. Die Neue Welt galt als Quelle unermesslichen Reichtums, was Gold- und Silbereinfuhren etwa aus Südamerika zu bestätigen schienen. Sie war in exotischen Waren ganz handfest präsent, etwa in Gewürzen und teuren Stoffen wie Seide, in Genussmitteln wie Zucker, Kakao, Kaffee oder Tabak, aber auch in Rauschmitteln wie Opium. Europäische Herrscher und Oberschichten stellten ihren sozialen Status durch den Konsum solcher Luxuswaren zur Schau, während diese für das Gros der Bevölkerung lange Zeit unerreichbar blieben.

Aber auch mittleren und unteren Schichten boten die Kolonien Chancen auf ein besseres Leben und sozialen Aufstieg. Menschen, die aus religiösen Gründen verfolgt oder wirtschaftlich an den Rand der Gesellschaft gedrängt waren, wanderten massenweise in die Kolonien aus. Die Amerikas (Nord-, Mittel- und Südamerika) waren das bevorzugte Ziel, doch auch in Südostasien, Südafrika und Australien suchten Menschen aus Europa ihr Glück. Auch politisch Verfolgte strebten dort nach Sicherheit. Und die Anstellung im kolonialen Herrschaftsgefüge sicherte einer aufstrebenden Mittelschicht Einkommen und gesellschaftliche Anerkennung. Indes: Nicht alle gingen freiwillig. Denn im 18. und 19. Jahrhundert wurden Kolonien auch als Straflager für europäische Häftlinge genutzt, so etwa Australien oder Französisch-Guyana.

Die atlantischen Revolutionen des 18. Jahrhunderts als Zäsur

Am 4. Juli 1776 erklärten die Vertreter der 13 englischen Siedlerkolonien in Nordamerika ihre Unabhängigkeit von der britischen Krone. Zum ersten Mal vollzogen Kolonien damit ihre Trennung vom Mutterland. Nach Jahren des Krieges zwischen den aufständischen Kolonien und Großbritannien besiegelte der Frieden von Paris 1783 offiziell die amerikanische Unabhängigkeit. Sie beraubte London nicht nur seiner Macht und seines Einflusses in diesem Teil Nordamerikas, sondern ihre Wirkung reichte noch viel weiter. Denn tatsächlich hatten hier erstmals Kolonien mit Nachdruck genau jene politischen Rechte eingefordert und durchgesetzt, die bisher nur den in der Metropole (also im Mutterland der Kolonien) ansässigen Engländern vorbehalten waren.

In erster Linie war es den Kolonisten zunächst um das Recht auf Repräsentation im Londoner Parlament gegangen, der Herzkammer britischer Souveränität seit den Revolutionen des 17. Jahrhunderts. Nur dort konnte über Staatsaufgaben und Staatsausgaben legitim beschlossen werden. Deshalb galt Besteuerung den – sich als englische Bürger verstehenden – Siedlern in Neuengland nur dann als akzeptabel, wenn sie auch dort vertreten waren, wo darüber entschieden wurde ("No taxation without representation"). Das vorrangige Anliegen der Siedler in Amerika war es also gerade nicht gewesen, unabhängig zu werden, sondern ihr Hauptziel war die rechtliche und politische Gleichstellung mit den Bürgern des Mutterlandes.

Diese Unterscheidung ist von zentraler Bedeutung. Denn genau hier trat erstmals eine der wesentlichen Fragen im Verhältnis von Kolonien und Metropole (Mutterland) offen zutage: Verfügten die Kolonien über politische Rechte? Und wem stand das Recht auf politische Teilhabe zu? Die Siedler in Nordamerika verstanden sich als eigenständige politische Bürger und sahen sich in der Praxis doch auf eine Stufe gestellt mit dem größten Teil der britischen Gesellschaft, der kein Wahlrecht besaß. Denn wer an Wahlen und damit an politischen Entscheidungen mitwirken wollte, musste bestimmte Voraussetzungen erfüllen, d. h. nicht nur im Mutterland wohnen, sondern auch über Besitz und Bildung verfügen. Alle anderen wurden mit dem Konstrukt der "virtuellen Repräsentation" vertröstet, also darauf verwiesen, dass die Gewählten ihre Interessen mitvertreten würden.

Die Französische Revolution

Genau diese Frage nach der Geltungskraft und Reichweite politischer Bürgerrechte spitzte sich nach der Französischen Revolution von 1789 noch einmal zu. Denn anders als den englischen Revolutionen des 17. Jahrhunderts war der Französischen Revolution ein universeller Anspruch zu eigen. Nicht von ungefähr stammt die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1789 nicht aus London, sondern aus Paris. Aus Frankreich – und dies gilt für die frühe bürgerliche Revolution bis zu Napoleon – verbreitete sich die Idee, Menschen- und Bürgerrechte seien im Naturrecht verwurzelt und stünden allen Menschen, ganz unabhängig von Stand, Besitz oder Bildung, gleichermaßen zu. Dass sich daraus Spannungslinien zum europäischen Projekt des Kolonialismus und der ihm zugrunde liegenden Überzeugung einer unterschiedlichen "Wertigkeit" von Menschen ergeben mussten, liegt auf der Hand.

Lässt sich die Amerikanische Revolution von 1776 als Werk europäischer Siedler einordnen, so fand die erste wirkliche Revolution von Kolonisierten im französischen Machtbereich, auf Haiti, statt. Von der historischen Forschung lange Zeit ignoriert, dafür in den letzten Jahren in ihrer Bedeutung besonders hervorgehoben, stellt die Revolution auf Haiti genau den Wendepunkt dar, an dem Kolonisierte begannen, die universellen Geltungsansprüche europäischer Freiheits- und Rechtsvorstellungen beim Wort zu nehmen und für sich selbst einzufordern.

Die Revolution ging aus einem Sklavenaufstand auf der französisch beherrschten Karibikinsel Saint-Domingue 1791 hervor. 1794 schaffte der Nationalkonvent in Paris die Sklaverei im gesamten französischen Kolonialreich zwar ab, doch wurde sie von Napoleon 1802 wieder eingeführt (und bis 1848 beibehalten). Der Konflikt mit den Aufständischen in der Karibik schwelte weiter. Diese gaben sich unter der Führung des freigelassenen Sklaven Toussaint Louverture 1801 eine eigene Verfassung und erlangten damit eine gewisse administrative Unabhängigkeit von Frankreich. Vollends zu einer Revolte gegen die französische Herrschaft kam es 1804, als nach Louvertures Tod in französischer Haft dessen Anhänger Jean-Jacques Dessalines die unabhängige Republik Haiti ausrief.

In der karibischen Revolution spitzten sich die Fragen zu, die seitdem in den unterschiedlichsten Konstellationen immer wieder gestellt wurden: Wer durfte die 1789 formulierten Menschen- und Bürgerrechte in Anspruch nehmen? Wo verlief die Grenze zwischen denjenigen, die diese Rechte besaßen, und denjenigen, die rechtlos waren?

Die "Atlantischen Revolutionen" in Südamerika

Das Zeitalter der "Atlantischen Revolutionen" fand in den 1820er-Jahren in Südamerika seinen Abschluss. Spanien und Portugal, in Folge der Napoleonischen Kriege in Europa geschwächt, mussten ihre Kolonien in Südamerika aufgeben. Diese lösten sich vom jeweiligen Mutterland und gründeten sich als unabhängige Republiken mit Ausnahme Brasiliens, wo bis 1891 eine Monarchie bestand. Leitfiguren wie der aus dem spanischen Vizekönigreich Neugranada, dem heutigen Venezuela, stammende Simón Bolívar fanden auch in Europa viele Anhänger. Und dass die neuen Republiken mit viel Pathos die Freiheit beschworen, inspirierte auch radikale Aktivisten in Europa wie etwa Giuseppe Garibaldi, den führenden Kopf der italienischen Nationalbewegung, der in den 1830er- und 1840er-Jahren in Brasilien und Uruguay Exil gefunden hatte.

Nicht nur Rohstoffe, Waren und Menschen – die Sklaverei wurde trotz Unabhängigkeit als Praxis fortgesetzt – zirkulierten nun zwischen Europa und den Amerikas, sondern auch politische Leitideen und Ordnungsvorstellungen der internationalen Politik. Als neue Macht auf dem amerikanischen Kontinent profilierten sich die Vereinigten Staaten. Ihr Präsident James Monroe erteilte 1823 allen künftigen Bestrebungen der Europäer, in der westlichen Hemisphäre neue Kolonien zu gründen, eine scharfe Absage ("Monroe-Doktrin").

Die Abschaffung des Sklavenhandels als transnationales Ereignis

Die Herrschaft der europäischen Mächte über die Welt hatte ein altes System der Ausbeutung fortgeführt und erneuert, das auch von anderen Herrschern – etwa von Arabern in Ostafrika oder im Osmanischen Reich – praktiziert wurde: die Sklaverei. Vom atlantischen Dreieckshandel, der europäische Waren nach Westafrika, westafrikanische Sklaven auf die Plantagen Nord- und Südamerikas und die dort erwirtschafteten Produkte Baumwolle und Zucker wiederum nach Europa brachte (Abb. Karte II und III), hatten seit seinem Beginn im frühen 16. Jahrhundert viele europäische Kaufleute, Händler und Seefahrer profitiert.

QuellentextSüße aus bitterer Quelle

[…] Über Jahrhunderte war Zucker ein Luxusprodukt, das sich nur die Wohlhabendsten leisten konnten. Angebaut wurde er auf einigen Inseln des südlichen Mittelmeeres; so wertvoll war er, dass er in Apotheken verkauft wurde. Arme Leute kannten Süße allein von Früchten und Honig. Dies sollte sich im Zuge der Expansion Europas im 15. Jahrhundert ändern.

Auf der Suche nach geeignetem Land und billigen Arbeitskräften verlagerten unternehmerisch gesinnte Kaufleute den Zuckerrohranbau zunächst auf Inseln vor der afrikanischen Küste wie die Kanaren. Dann überquerten sie den Atlantik, hin zu den neuen europäischen Kolonien in Südamerika und in der Karibik. Zucker wurde zum wichtigsten Agrarexport dieser Regionen, und Europäer vertilgten ihn in steigenden Mengen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts süßte auch die Arbeiterklasse ihren Kaffee oder Tee ganz selbstverständlich mit dem begehrten Stoff und aß Marmelade in solchen Mengen, dass der Zuckerkonsum pro Kopf in Großbritannien 1914 auf 50 Kilogramm stieg – heute liegt er im EU-Durchschnitt bei etwa 37 Kilo.

Dieser Boom war möglich geworden, weil Europäer im 16. Jahrhundert riesige Landflächen in der Karibik erobert hatten. Sie verdrängten und töteten die Ureinwohner – geschätzte zwei Millionen Arawak und Kariben fielen ihnen zum Opfer – und siedelten Millionen Menschen von der afrikanischen Westküste um, auf dass sie Wälder rodeten und Zuckerrohrplantagen anlegten.

[…] Am grausamsten wurde die Ausbeutung wohl auf Barbados betrieben. Dorthin hatten britische und holländische Kaufleute bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts Tausende von Afrikanern verschleppt, um die kleine bewaldete Insel in ein einziges Zuckerrohrfeld zu verwandeln. Der Anbau anderer Feldfrüchte war fortan nicht mehr möglich – die Inselbevölkerung musste fast all ihre Nahrungsmittel importieren.
Unterdessen spuckte die Plantagenmaschinerie immer größere Mengen Zucker aus und verschlang afrikanische Sklaven im Akkord. Die meisten starben jung – ausgemergelt von der harten Arbeit. Irgendwann glich die Insel einem Strafgefangenenlager. Rebellierende Sklaven wurden gevierteilt, bei lebendigem Leibe verbrannt oder in Eisenkäfigen zur Schau gestellt, in denen sie vor den Augen ihrer Familien verhungern mussten.
Auf Inseln wie Martinique und Jamaika kopierte man das Modell Barbados, vor allem aber, im größtmöglichen Stil, auf Saint Domingue, dem heutigen Haiti. Bis zu 40.000 Sklaven wurden jährlich auf diese Insel gebracht, und der unglaubliche Wohlstand, den sie produzierten, schmückte die wachsenden französischen Städte. Der Zuckerhändler und Plantagenbesitzer Jean-Baptiste Hosten aus Bordeaux etwa investierte seine Zuckergewinne in Immobilien in ganz Paris. Seine zu Stein gewordenen Profite aus der Arbeit versklavter Afrikaner werden heute von Touristen bestaunt.

Doch dann, im späten 18. Jahrhundert, geriet der karibische Zuckerkomplex in eine Krise. Die Sklaverei, auf der der Anbau basierte, wurde immer schärfer kritisiert. Schließlich rebellierten die versklavten Arbeiter selbst. In den 1790er-Jahren vertrieb in Saint Domingue eine antikoloniale Revolution unter Führung von Toussaint Louverture die französischen Zuckerbarone.
Die Revolution auf Haiti, das Verbot des Sklavenhandels 1807 sowie die Abschaffung der Sklaverei in den britischen Kolonien 1834 führten zur Verlegung des Zuckeranbaus an andere Orte. Zunächst nach Kuba, wo reichlich unverbrauchte Böden vorhanden waren und die Sklaverei bis 1886 legal blieb. In einem radikaleren Schritt bewegte sich der Plantagenkomplex in den Pazifik, auf Inseln wie Fidschi und Mauritius, um Europas Gier nach Süßem zu stillen.

[…] Die Suche nach Arbeitskraft, Land und Ressourcen ließ die Zuckergrenze in den folgenden Jahrzehnten immer weiter über den Globus wandern. Als sich die Zuckergewinnung aus Rüben Ende des 19. Jahrhunderts verbreitete, erreichte sie Europa, wo Deutschland zu einem der weltgrößten Zuckerproduzenten aufstieg.

Aus dem Englischen von Marieke Heimburger

Sven Beckert ist Professor für Amerikanische Geschichte an der Harvard University. Als Co-Leiter ist er derzeit an einem internationalen Forschungsprojekt zur 600-jährigen Geschichte der weltweiten Rohstoffausbeutung und ihrer Folgen beteiligt. (Näheres siehe unter Externer Link: https://wigh.wcfia.harvard.edu/commodity-frontiers-initiative)

Dr. Mindi Schneider ist Fellow am Netherlands Institute for Advanced Study in Amsterdam.

Sven Beckert / Mindi Schneider, "Der große Landraub", in: Die ZEIT Nr. 37 vom 6. September 2018

Doch seit dem späten 18. Jahrhundert wurden Sklaverei und Sklavenhandel in Europa zunehmend kritisch gesehen. Von christlich-evangelikalem Glauben inspiriert, prangerte vor allem in Großbritannien seit den 1780er-Jahren eine zunehmend einflussreiche Lobby den Handel mit Menschen als unvereinbar mit Gottes Gebot an. Doch auch aufklärerische, naturrechtlich inspirierte Akteure sprachen sich gegen die Sklaverei aus.

In der Anti-Sklaverei-Bewegung, deren Anhänger hauptsächlich in Großbritannien, aber auch in anderen europäischen Ländern sowie in den USA vertreten waren, kamen nicht allein religiös inspiriertes Ethos und christliche Nächstenliebe zum Ausdruck. Zwar war es zunächst vor allem um ein Verbot des Sklavenhandels und nicht der Sklaverei selbst gegangen. Und viele derer, die sich im frühen 19. Jahrhundert der Anti-Sklaverei-Bewegung zugehörig fühlten, handelten allein aus Mitleid, ohne versklavten Menschen generell Menschenrechte zuzugestehen, wie sie heute in der UN-Menschenrechtscharta festgelegt sind. Doch gleichzeitig erwies sich, dass die Debatte um Teilhabe, Gleichberechtigung und Menschenrechte im frühen 19. Jahrhundert globale Dimensionen angenommen hatte.

Bemerkenswert ist, dass sich viele Frauen in Europa, vor allem in Großbritannien, gegen die Sklaverei engagierten und hier ein reiches und respektables Betätigungsfeld fanden. Ihnen gab die christliche Färbung und emotionale Aufladung der Bewegung die Chance zur politischen Teilhabe, während sie selbst von politischer Partizipation und Wahlrecht noch ausgeschlossen waren. Am 25. März 1807 verabschiedete das britische Unterhaus schließlich das Gesetz, das den Sklavenhandel verbot. Sklaverei selbst bestand freilich weiterhin und ging nahtlos in andere Formen kolonialer Zwangsarbeit über. Erst 1833 verbot das britische Unterhaus auch die Sklaverei. Aber der "Slave Trade Act" von 1807 setzte doch neue moralische Maßstäbe in der internationalen Politik, an denen sich – angesichts der britischen Vorherrschaft in der Weltpolitik – jeder andere Staat messen lassen musste. Es sollte noch Jahrzehnte dauern, ehe die Sklaverei, wenn nicht vollständig abgeschafft, so doch wirksam eingedämmt wurde. Dies konnte durchaus paradox erscheinende Folgen haben: Vor allem der belgische König und die britische Regierung begründeten ihr Ausgreifen nach Afrika vielfach damit, nur die eigene Präsenz vor Ort könne die Sklaverei wirksam bekämpfen.

ist Professorin für Geschichte Westeuropas und der transatlantischen Beziehungen am Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin und Direktorin des An-Instituts Centre Marc Bloch.

Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Wandel von Staatlichkeit seit 1945; Staat und Terrorismus sowie Geschichte der westeuropäischen Gesellschaften in der Erfahrung der Dekolonisation.