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Der Deutsche Bundestag und seine Akteure | Parlamentarische Demokratie | bpb.de

Parlamentarische Demokratie Editorial Die Logik der parlamentarischen Demokratie Der Deutsche Bundestag und seine Akteure Funktionserfüllung im Fraktionenparlament Herausforderungen für den Parlamentarismus Literaturhinweise Impressum

Der Deutsche Bundestag und seine Akteure

Suzanne S. Schüttemeyer

/ 41 Minuten zu lesen

Der Bundestag ist das Herzstück des deutschen Parlamentarismus. Er wird geprägt durch die Fraktionen, seine verschiedenen Ausschüsse und Gremien sowie nicht zuletzt durch die Mandatsträger selbst.

Seit 1999 ist das Reichstagsgebäude am Berliner Spreeufer Sitz des Deutschen Bundestages. Dafür wurde das Bauwerk aus dem Ende des 19. Jahrhunderts grundlegend umgestaltet und modernisiert. Im Plenarsaal unter der Glaskuppel erinnern im Januar 2018 die Abgeordneten des Deutschen Bundestages und der Französischen Nationalversammlung an die Unterzeichnung des Elyséevertrages. (© Bundesregierung, B145 Bild-00398130, Foto: Sandra Steins)

Die Ausgestaltung des Bundestages nach dem Grundgesetz

Der Parlamentarische Rat, der 1948/49 das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland entwarf, schuf damit auch die Basis für ein parlamentarisches Regierungssystem. Die Ratsmitglieder, 61 Verfassungsväter und vier Verfassungsmütter, hatten das Scheitern der Weimarer Republik vor Augen und suchten nun daraus Lehren für die Ausgestaltung des neuen politischen Systems zu ziehen. Dies galt besonders für das Verhältnis von Legislative und Exekutive sowie für die Ausgestaltung ihrer Kompetenzen.

QuellentextVerfassungspolitische Konsequenzen aus dem Scheitern der Weimarer Republik

Der Parlamentarische Rat suchte […] verfassungspolitische Konsequenzen aus dem Scheitern der Weimarer Republik zu ziehen. Dies wird sichtbar, wenn man die Konkretisierung der zentralen Prinzipien des Grundgesetzes – Demokratie, Föderalismus, Rechts- und Sozialstaat – betrachtet.
Die Weimarer Reichsverfassung von 1919 vollzog zwar den Übergang zur parlamentarischen Regierung, blieb hierbei jedoch inkonsequent: Sie stellte neben den Reichstag einen direkt gewählten Reichspräsidenten, führte darüber hinaus den Volksentscheid ein und schuf damit drei konkurrierende demokratische Legitimationen. Auch wurde dem Reichstage (infolge des nur negativen Misstrauensvotums, der präsidialen Kanzlerernennung und der präsidialen Notstandsrechte nach Art. 48 WRV) die Flucht aus der Verantwortung ermöglicht – Regelungen, die 1930 die Selbstabdankung des Parlaments und einen scheinbar "legalen" Übergang in die Diktatur erleichtern sollten. Im Sinne moderner Staatsformenlehre war die Weimarer Republik eine semipräsidentielle Demokratie – wie heute Frankreich oder Russland –, nicht eine parlamentarische Demokratie.

Das Grundgesetz hat demgegenüber drei Folgerungen gezogen:
1) "Zuweisung des Legitimationsmonopols an das Parlament": Das Grundgesetz sieht nur eine einzige unmittelbar demokratische Legitimation vor: die der Wahl des Parlaments. Alle anderen Staatsorgane leiten sich vom Bundestag bzw. den Landtagen ab und sind entsprechend minder legitimiert. Auch kennt das Grundgesetz – außer bei der Revision von Ländergrenzen – keine plebiszitären Entscheidungen. Diese antiplebiszitäre Haltung wurde mit emotionalisierenden Kampagnen bei Volksentscheiden bzw. -begehren der Weimarer Zeit und mit der Wahl des ehemaligen Generalfeldmarschalls von Hindenburg zum Reichspräsidenten begründet. […] Die Tatsache, dass die Landesverfassungen überwiegend durch Volksentscheide bestätigt wurden und die Möglichkeit von Volksentscheiden enthalten, zeigt jedoch, dass diese Folgerung des Grundgesetzes aus den Erfahrungen der Vergangenheit keineswegs allgemein als zwingend betrachtet worden ist.

2) "Konsequente Einführung des parlamentarischen Regierungssystems": Das Grundgesetz sucht allein von parlamentarischen Mehrheiten getragene Regierungen zu ermöglichen und diese zu stabilisieren. Dem dient, dass der Bundeskanzler sein Amt einer Wahl durch das Parlament verdankt; er es nur durch ein "konstruktives Misstrauensvotum", d. h. Wahl eines neuen Amtsinhabers verlieren kann; ein Verordnungsrecht des Präsidenten gänzlich entfallen und das der Bundesregierung eng begrenzt worden ist; selbst im Notstandsfalle parlamentarische Entscheidungsrechte und Kontrollen bestehen bleiben.

3) "Anerkennung der verfassungspolitischen Funktion der Parteien": Während die Weimarer Verfassung die Parteien ignorierte, sie lediglich einmal abwehrend mit der Formulierung, die Beamten seien "Diener der Gesamtheit, nicht einer Partei" (Art. 130 WRV), erwähnte und darin anderen älteren demokratischen Verfassungen ähnelte, hat das Grundgesetz der zentralen Rolle politischer Parteien durch ihre Einbeziehung in die Verfassung (Art. 21 GG) Rechnung getragen.

Zusammenfassend ist daher das heutige Deutschland als föderale, parlamentarische Demokratie mit parteienstaatlichen Zügen zu bezeichnen.

Wolfgang Rudzio, Das politische System der Bundesrepublik Deutschland, 10., aktual. u. erw. Aufl., © Springer VS, Wiesbaden 2019, S. 33 f.


Besonders hervorzuheben ist die Entscheidung, den Bundestag zum einzigen direkt vom Volk gewählten Verfassungsorgan zu machen und ihm damit die zentrale Stellung im demokratischen Verfassungsgefüge zu geben. Zwar war auch schon die Weimarer Republik "parlamentarisiert", da die Regierung dem Reichstag gegenüber verantwortlich war und von ihm abgewählt werden konnte – eine Abhängigkeit, die es im Kaiserreich unter Geltung der Bismarck-Verfassung von 1871 noch nicht gegeben hatte. Doch dem auf sieben Jahre vom Volk direkt gewählten Reichspräsidenten hatte die Verfassung erhebliche Machtbefugnisse eingeräumt. So konnte er in faktischer Konkurrenz zum Parlament den Reichskanzler ernennen und entlassen sowie den Reichstag jederzeit auflösen.

Auch auf eine starke Exekutive war das Interesse des Parlamentarischen Rates gerichtet, denn die Erfahrungen der 1920er-Jahre hatten gezeigt, wie verheerend sich der häufige Wechsel der Regierungen zunächst auf die Handlungsfähigkeit der Politik und schließlich auf den Fortbestand der Republik ausgewirkt hatte. Gleichzeitig sollten aber die Parteien in die Verantwortung genommen werden, für stabile Mehrheiten im Parlament zu sorgen. So wurde mit Artikel 63 des neuen Grundgesetzes (GG) die Kanzlerwahl durch den Deutschen Bundestag mit dem Erfordernis der absoluten Mehrheit im ersten Wahlgang verankert; und Art. 67 GG sieht vor, dass der Kanzler nur abgesetzt werden kann, indem ein neuer gewählt wird.

Dieses sogenannte Konstruktive Misstrauensvotum soll verhindern, dass es ausreicht, im Parlament Einigkeit über die Ablehnung eines Amtsinhabers herzustellen, ohne dass es mehrheitliche Unterstützung für einen Nachfolger gibt. Damit haben es der Bundestag und die in ihm wirkenden Parteien allein in der Hand, welcher Kanzler wie lange im Amt bleibt. Bei ihnen liegen die Verantwortung und die tatsächliche Handlungsmacht, eine effiziente Regierung zu garantieren. Der Bundespräsident hat dagegen nur noch Reserverechte für den Fall eines dritten Wahlgangs nach Art. 63 Abs. 4 GG und kann auch nur auf Vorschlag des Kanzlers nach einer gescheiterten Vertrauensfrage den Bundestag auflösen (Art. 68 GG).

Den ersten Rang des Bundestages unter den Verfassungsorganen verdeutlicht des Weiteren sein Recht auf Selbstorganisation. Dies schließt die eigenständige Einberufung der Sitzungen und die Geschäftsordnungsautonomie ebenso ein, wie die Möglichkeit, Zahl und Art seiner Ausschüsse sowie anderer Gremien weitestgehend selbst zu bestimmen. Nur die Ausschüsse für auswärtige Angelegenheiten, Verteidigung und Angelegenheiten der Europäischen Union sowie der Petitionsausschuss, an den sich die Bürgerinnen und Bürger direkt mit ihren Bitten oder Beschwerden richten können, sind im Grundgesetz vorgeschrieben (Art. 45, 45a und 45c GG). Ansonsten entscheidet der Bundestag allein über Organisation und Ablauf seines Alltags.

QuellentextDer Bundestag im Grundgesetz

Art 38 [Wahl]
(1) Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.
(2) Wahlberechtigt ist, wer das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat; wählbar ist, wer das Alter erreicht hat, mit dem die Volljährigkeit eintritt.
[…]
Art 39 [Zusammentritt und Wahlperiode]
(1) Der Bundestag wird vorbehaltlich der nachfolgenden Bestimmungen auf vier Jahre gewählt. Seine Wahlperiode endet mit dem Zusammentritt eines neuen Bundestages. […]

Art 40 [Präsident; Geschäftsordnung]
(1) Der Bundestag wählt seinen Präsidenten, dessen Stellvertreter und die Schriftführer. Er gibt sich eine Geschäftsordnung. […]

Art 41 [Wahlprüfung]
(1) Die Wahlprüfung ist Sache des Bundestages. Er entscheidet auch, ob ein Abgeordneter des Bundestages die Mitgliedschaft verloren hat. […]

Art 42 [Öffentlichkeit der Sitzungen; Mehrheitsprinzip]
(1) Der Bundestag verhandelt öffentlich. Auf Antrag eines Zehntels seiner Mitglieder oder auf Antrag der Bundesregierung kann mit Zweidrittelmehrheit die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden. […]
(2) Zu einem Beschlusse des Bundestages ist die Mehrheit der abgegebenen Stimmen erforderlich, soweit dieses Grundgesetz nichts anderes bestimmt. Für die vom Bundestage vorzunehmenden Wahlen kann die Geschäftsordnung Ausnahmen zulassen. […]

Art 43 [Anwesenheit der Bundesregierung]
(1) Der Bundestag und seine Ausschüsse können die Anwesenheit jedes Mitgliedes der Bundesregierung verlangen. […]

Art 44 [Untersuchungsausschüsse]
(1) Der Bundestag hat das Recht und auf Antrag eines Viertels seiner Mitglieder die Pflicht, einen Untersuchungsausschuss einzusetzen, der in öffentlicher Verhandlung die erforderlichen Beweise erhebt. Die Öffentlichkeit kann ausgeschlossen werden. […]

Art 45 und Art. 45a bis 45d [Ausschüsse; Wehrbeauftragter; Kontrollgremium]
[…]
Art 46 [Indemnität und Immunität der Abgeordneten]
[…]
Art 47 [Zeugnisverweigerungsrecht der Abgeordneten]
[…]
Art 48 [Ansprüche der Abgeordneten]
(1) Wer sich um einen Sitz im Bundestage bewirbt, hat Anspruch auf den zur Vorbereitung seiner Wahl erforderlichen Urlaub.
(2) Niemand darf gehindert werden, das Amt eines Abgeordneten zu übernehmen und auszuüben. Eine Kündigung oder Entlassung aus diesem Grunde ist unzulässig.
(3) Die Abgeordneten haben Anspruch auf eine angemessene, ihre Unabhängigkeit sichernde Entschädigung. […].

Dies ist keineswegs selbstverständlich, wie sich am Beispiel zweier anderer großer Parlamente in Europa zeigt: So begrenzt die französische Verfassung die Zahl der ständigen Ausschüsse der Assemblée nationale auf acht, und im britischen Parlamentarismus liegt die Gestaltung der Tagesordnung im Unterhaus faktisch bei der Regierung – ein Zeichen dafür, wie konsequent dort die Vorstellung verwirklicht ist, dass Mehrheit und Regierung eine Handlungseinheit bilden und wie konsequent auch das Prinzip der Handlungsfähigkeit beachtet ist.

Wahl der Abgeordneten

Der Bundestag wird in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl auf vier Jahre gewählt. Seit der 15. Wahlperiode (2002 bis 2005) besteht er nach BWahlG. aus 598 Mitgliedern. Auf diese Anzahl wurde das Parlament verkleinert, nachdem die deutsche Einheit – und damit das Anwachsen der zu repräsentierenden Bevölkerung um etwa ein Viertel – es vorübergehend erfordert hatte, den Bundestag von 518 (inklusive 22 Abgeordneten aus West-Berlin) auf 656 Sitze zu vergrößern. Die seit 2002 geltende Regelgröße von 598 wurde jedoch stets überschritten – bis 2009 durch Überhangmandate und seit 2013 durch Ausgleichsmandate (siehe unten).

Nach dem aktuellen Bundeswahlgesetz werden die 598 Abgeordneten wie bisher in 299 Wahlkreisen sowie über Landeslisten gewählt. In der Bundesrepublik gilt das personalisierte Verhältniswahlrecht. Jede Wählerin bzw. jeder Wähler hat zwei Stimmen: Die erste ist für eine Kandidatin bzw. Kandidaten im eigenen Wahlkreis bestimmt, die zweite geht an die Landesliste einer zur Wahl stehenden Partei. Die Zusammensetzung des Bundestages ist das Ergebnis des Stärkeverhältnisses der Parteien zueinander, das sich aus den Zweitstimmen ergibt. Vereinfacht gesagt: Erzielt eine Partei 30 Prozent der Zweitstimmen, hat sie Anspruch auf 30 Prozent der Sitze im Bundestag. Dies wird nach einem speziellen mathematischen Verfahren (dem Sainte-Laguë/Schepers-Verfahren) für jedes Bundesland einzeln errechnet auf der Basis eines Kontingents von doppelt so vielen Sitzen, wie das jeweilige Land Wahlkreise hat.

Von der Wählerstimme zum Mandat: Sitzberechnung nach Sainte-Laguë / Schepers (© Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbilder 086 131)

An diesem Verrechnungsverfahren nehmen nur jene Parteien teil, die mindestens fünf Prozent der Zweitstimmen bundesweit oder drei Direktmandate errungen haben. Mit der seit 1953 geltenden, nicht mehr nur auf die einzelnen Bundesländer bezogenen Sperrklausel, auch Fünf-Prozent-Hürde genannt, sollte der Einzug von Splitterparteien ins Parlament verhindert und damit einer erheblichen Erschwerung der Mehrheitsbildung vorgebeugt werden.

Das Problem der Überhang- und Ausgleichsmandate
Von dem mit dem Saint-Laguë/Schepers-Verfahren ermittelten Mandatsanteil für jede Partei wird die Zahl der Sitze abgezogen, die Kandidaten der Partei bereits über die Wahlkreise errungen haben. Die verbleibenden Sitze werden aus den Landeslisten nach Reihenfolge der dort aufgestellten Kandidaten aufgefüllt. Hat eine Partei mit ihren Wahlkreiskandidaten mehr Sitze gewonnen, als ihr nach ihrem Zweitstimmenanteil zustehen, werden sogenannte Überhangmandate verteilt.

Bis 2013 wurde der Bundestag dann in der fraglichen Wahlperiode – und nur in dieser – um die entsprechende Sitzzahl vergrößert. So kam es, dass in der Regel nicht nur die gesetzlich festgelegte Anzahl von Abgeordneten in den Bundestag einzog: Nach der Bundestagswahl 2005 waren 16 Überhangmandate, 2009 waren 24, in früheren Bundestagen meist zwischen zwei und sechs zu verzeichnen (Ausnahmen bilden die Jahre 1994 und 1998 mit 16 bzw. 13 Überhangmandaten).

Das Auftreten sogenannter negativer Stimmengewichte und die wachsende Zahl der Überhangmandate bewogen das Bundesverfassungsgericht 2009, das geltende Wahlrecht für verfassungswidrig zu erklären, weil es die Wahlrechtsgleichheit und die Chancengleichheit der politischen Parteien gefährdet sah.
Um den Forderungen des Bundesverfassungsgerichts nachzukommen, sieht das neue Wahlgesetz nun vor, dass für die Überhangmandate Ausgleichsmandate an die anderen Parteien verteilt werden. Dazu werden die in den Ländern gewonnenen Sitze jeder Partei bundesweit addiert und überproportionale Direktmandatsgewinne ausgeglichen, indem die Sitzzahl des Bundestages erhöht und den übrigen Parteien ihr proportionaler Anteil an dieser vergrößerten Anzahl zugewiesen wird.

Zuteilung der Mandate (© Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbild 086 140)

Durch diese Ausgestaltung des Wahlrechts wuchs der Bundestag 2013 trotz lediglich vier Überhangmandaten um 33 Sitze, und 2017 entstanden 46 Überhangmandate, die 65 Ausgleichsmandate und damit insgesamt 709 Sitze zur Folge hatten. So ist der Deutsche Bundestag – wie schon in den 1990ern – das bei Weitem größte demokratisch gewählte Nationalparlament der Welt.

So verwundert es nicht, dass die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die dieser Entwicklung zugrunde liegt, umgehend auf heftige Kritik stieß. Versuche, insbesondere der Bundestagspräsidenten, das Wahlrecht erneut zu reformieren, um eine Vereinfachung des Verfahrens und eine Verkleinerung des Bundestages zu erreichen, haben bislang zu keinem Erfolg geführt – zu unterschiedlich sind die Interessen der Parteien, und es ist guter demokratischer Brauch, das Wahlrecht im Einvernehmen zu reformieren. Hinzu kommt, dass die Auffassung, der Bundestag sei zu groß, bisher eher einem Gefühl entspringt als sachlichen Kriterien. So wird sich wohl in absehbarer Zeit nichts am Grundcharakter des deutschen Wahlsystems als "personalisiertes Verhältniswahlrecht" ändern.

Allerdings ist diese gängige Bezeichnung eher irreführend. Die Kandidaten in den Wahlkreisen werden nämlich nicht – jedenfalls nicht in erster Linie – als Personen gewählt, sondern als Mitglieder ihrer Partei. An dieser Zugehörigkeit orientiert sich, wie Studien ergeben, die große Mehrheit der Wählerinnen und Wähler bei ihrer Entscheidung. Auch die gängige Annahme, es sei vor allem der Sperrklausel zu verdanken, dass der Bundestag schon nach der zweiten Bundestagswahl nur noch aus fünf gegenüber zuvor neun Fraktionen bzw. Gruppen und von 1961 bis 1983 aus lediglich drei Fraktionen bestand, greift zu kurz. Vielmehr konnten die Parteien schon in den 1950er-Jahren ihrer Wählerschaft politische Erfolge bzw. überzeugende Angebote vorweisen, die dem Bundestag das Schicksal des Weimarer Reichstages mit Abgeordneten aus bis zu 14 Parteien ersparten.

Die im 19. Bundestag vertretenen Parteien
Seit der Wahl 2017 besteht der Bundestag aus sechs Fraktionen (CDU/CSU, SPD, FPD, Bündnis 90/Die Grünen, Die Linke, AfD).

Bundestagswahlen 1949-2017 (© Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbild 088 500)

Ende der 1970er-Jahre verbreiterten zunächst die Grünen das Parteienspektrum, das bis dahin aus CDU/CSU, SPD und FDP bestanden hatte. 1983 schafften sie erstmals den Einzug in den Bundestag, 1990 scheitern sie an der Sperrklausel. Nach dem Zusammenschluss 1993 mit Bündnis 90, das 1990 in den neuen Bundesländern noch separat kandidiert hatte, konnte Bündnis 90/Die Grünen 1994 in Fraktionsstärke in den Bundestag einziehen und sich seither mit einer stabilen Stammwählerschaft als dauerhafter Bestandteil des deutschen Parteiensystems etablieren.

Dies gilt ebenso für die nach zeitlicher Reihenfolge sechste Partei, die im aktuellen Bundestag vertreten ist, die Partei Die Linke, die sich im Juni 2007 gründete. Sie war Ergebnis eines Zusammenschlusses der "Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit" (WASG), einer Abspaltung der SPD, mit der Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS), die ihrerseits wiederum aus der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED, der Staatspartei der ehemaligen DDR) hervorgegangen war. Mit Wahlergebnissen um die zehn Prozent in den letzten drei Bundestagswahlen und parlamentarischer Präsenz in zehn der sechzehn Bundesländer – bis hin zur Stellung des Ministerpräsidenten in Thüringen – ist Die Linke inzwischen eine seit zwanzig Jahren etablierte Kraft im Bundestag.

Der rechtspopulistischen, in Teilen als rechtsextrem eingestuften "Alternative für Deutschland" (AfD) gelang es 2017 zum ersten Mal, Sitze zu gewinnen, und zwar sogar mit dem besten Ergebnis unter den kleinen Parteien, sodass sie im Bundestag die drittgrößte Fraktion stellt.

Sitzverteilung im Bundestag (© Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbild 088 501)

Auch wenn damit noch nicht von einer "Zersplitterung" des Parlaments, gar von "Weimarer Verhältnissen" gesprochen werden kann, ist unübersehbar, dass sich das Parteiensystem ausdifferenziert und die politische Bandbreite der parlamentarisch repräsentierten Interessen zugenommen hat. Als Folge ist die Regierungsbildung im Bundestag schwieriger geworden und dauerte 2017/2018 so lange wie nie zuvor in der Bundesrepublik. Künftig müssen die demokratischen Fraktionen und ihre Parteien noch deutlicher als bisher unter Beweis stellen, dass sie die politische Verantwortung, die in Wahlen konkretisiert wird, übernehmen wollen und können.

Bedeutung und Aufgaben der Fraktionen

Die Fraktionen sind die Parteien im Parlament. Ihre Bedeutung im deutschen Parlamentarismus zeigt sich schon darin, dass sie es sind, die sich nach der Wahl, aber noch vor der konstituierenden Sitzung des neuen Bundestages versammeln und die ersten politischen Entscheidungen treffen bzw. vorbereiten. Dabei richtet sich die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit vor allem auf die Aktivitäten, die für die Bildung einer neuen Regierung entfaltet werden. Doch für den bald darauf einsetzenden Arbeitsalltag des Parlaments ist es genauso wichtig, wie sich seine Fraktionen darauf organisatorisch und personell einstellen.

In den meisten Ländern wird eine bestimmte Mindestgröße vorgeschrieben, damit sich Abgeordnete zu einer Fraktion zusammenschließen können. Im Bundestag beträgt diese fünf Prozent, analog zur Sperrklausel im Wahlgesetz. Außerdem bestimmt die Geschäftsordnung, dass nur Abgeordnete einer Partei eine Fraktion bilden können. Als Sonderregel für CDU und CSU wurde 1969 der Passus in die Geschäftsordnung aufgenommen, dass eine Fraktionsgemeinschaft auch für Abgeordnete solcher Parteien möglich ist, die in keinem Bundesland in Wettbewerb zueinander stehen. Weiteren Ausnahmen von der Regel "Fraktion = Abgeordnete aus derselben Partei" muss der Bundestag im Einzelfall zustimmen.

Ein spezieller Beschluss des Parlaments ist auch erforderlich, um sogenannte Gruppen anzuerkennen. Dabei handelt es sich um Abgeordnete einer Partei, die sich zusammenschließen wollen, ohne Fraktionsmindeststärke von fünf Prozent zu erreichen. So wurde etwa 1990, als für die Bundestagswahl die Sperrklausel separat für das ost- und westdeutsche Wahlgebiet galt, den acht Abgeordneten von Bündnis 90/Die Grünen und den 17 von der PDS/Linke Liste dieser Status zuerkannt. Damit erhielten sie fraktionsähnliche Rechte sowie eine angemessene Finanzierung. Auch 1994 wurde mit den Abgeordneten der PDS so verfahren, die wiederum nicht in Fraktionsstärke im Bundestag vertreten war, aber vier Direktmandate in Berlin und damit insgesamt 30 Sitze errungen hatte.

Hierarchisierung und Arbeitsteilung in den Fraktionen
Hierarchisierung und Arbeitsteilung sind die Prinzipien, die die Fraktionsentwicklung schon seit dem Ersten Bundestag geprägt haben. Dass man ein Gremium brauchte, das die Führung der Geschäfte und die Außenvertretung wahrnahm, hatte sich schon aus früheren Erfahrungen etlicher Abgeordneter der ersten Stunde des westdeutschen Parlamentarismus ergeben. Ganz selbstverständlich also wählten sich die Fraktionen bereits 1949 Vorstände.

Das arbeitsteilige Fraktionenparlament (© Quelle: www.bundestag.de Basis: Schaubild aus Wolfgang Rudzio, Das politische System der Bundesrepublik Deutschland, 10., aktual. u. erw. Aufl., © Springer VS, Wiesbaden 2019, S. 201)

Arbeitsteilige Strukturen fanden hingegen erst einige Jahre später Eingang in die Organisation der Fraktionen. Schon im Ersten Bundestag hatte sich ein System von fachlich spezialisierten Ausschüssen entwickelt, um die Kriegsfolgen gesetzgeberisch zu bewältigen. Nie wieder hat es auch nur annähernd so viele Ausschuss- und Unterausschusssitzungen gegeben wie in der ersten Wahlperiode von 1949 bis 1953: 5111 gegenüber zum Beispiel 3096 in der 18. Wahlperiode von 2013 bis 2017.

So ließ der westdeutsche Nachkriegsparlamentarismus gar keinen Raum für das aus dem 19. Jahrhundert überkommene Trugbild: Danach gelten – in Verkennung der tatsächlichen Praxis des ersten gesamtdeutschen Parlaments, der in der Frankfurter Paulskirche 1848/49 tagenden Nationalversammlung – als ideale Abgeordnete die im Plenum freihändig beratenden und sich spontan gegenseitig überzeugenden politischen Generalisten. Selbst bei gutem Willen: Zu vielfältig und alltäglich waren die Probleme, die Lösungen erforderten, zu groß war der Entscheidungsdruck, um diesem Trugbild in der Praxis zu folgen. Die Abgeordneten lernten rasch, dass der Einzelne ohne die fraktionsinternen arbeitsteiligen Strukturen gar nicht verantwortungsvoll entscheidungsfähig ist. Ebenso schnell machten sie die Erfahrung, dass die Ausschüsse umso effektiver arbeiten konnten, je besser der Sachverstand in den Fraktionen bereits organisiert und gebündelt, je präziser politische Positionen schon vorgeklärt waren. Unter diesen Voraussetzungen wurden die Entscheidungen außerdem verbindlich und verlässlich kalkulierbar hinsichtlich der parlamentarischen Zustimmung im Plenum.

Ein weiterer Faktor beschleunigte die Arbeitsteilung im Bundestag: das Wachsen der großen Fraktionen. Mit 250 bzw. 162 Mitgliedern konnten die Union aus CDU und CSU sowie die SPD im Zweiten Bundestag die Positionen ihrer Fraktionen nicht mehr in Vollversammlungen detailliert diskutieren und herausarbeiten. Deshalb bildeten sie ab 1953 innerhalb ihrer Fraktionen fachlich spezialisierte Arbeitskreise – ein Beispiel, dem die FDP 1957 folgte. Damit war eine parlamentarische Arbeitsebene geschaffen, auf der Abgeordnete ohne hervorgehobene Stellung besser als in den Fraktionsversammlungen ihre Positionen zur Geltung bringen konnten und der Sachverstand dieser "einfachen" Parlamentarier besser für die Fraktion zu nutzen war.

Solche Ebenen können nur in die Fraktionsorganisationen eingezogen werden, wenn zwischen den Abgeordneten gegenseitiges Vertrauen in die Übereinstimmung ihrer grundlegenden politischen Überzeugungen herrscht. Erst auf dieser Basis entwickelt sich die Bereitschaft, dem Kollegen aus der eigenen Fraktion die Entscheidungen auf seinem Fachgebiet zumindest im Detail weitgehend zu überlassen und im Gegenzug dafür dasselbe zu erwarten. Dieses Vertrauen wuchs im Bundestag mit der Dauer des Zusammenwirkens heran und ermöglichte die zunehmende Arbeitsteilung in den Fraktionen.

Arbeitsgruppen und Arbeitskreise
Aus diesen Organisationsanforderungen sind in den Fraktionen des Bundestages weitgehend identische Strukturen entstanden. Union und SPD richten seit Jahren regelmäßig je gut zwanzig hochspezialisierte Arbeitsgruppen (AGs) ein, die in ihrem thematischen Zuschnitt den Bundestagsausschüssen wie ein Spiegelbild entsprechen.

Die Mitglieder einer AG vertreten ihre Fraktion im korrespondierenden Ausschuss. In der SPD ist der oder die AG-Vorsitzende gleichzeitig Sprecher bzw. Sprecherin der Fraktion im Ausschuss (Inzwischen nennt die Fraktion die Inhaber dieser Position gar nicht mehr AG-Vorsitzende, sondern gleich Sprecher.). In der Unionsfraktion hat dagegen oft der oder die stellvertretende AG-Vorsitzende das Sprecheramt inne, während die Vorsitzenden von Amts wegen Mitglieder im erweiterten Fraktionsvorstand sind. Diese personellen Verknüpfungen garantieren den Informationsfluss zwischen Parlament und Fraktionen in der sachpolitischen Arbeit und ihre organisatorische Verzahnung im Gesetzgebungsprozess.

Die kleineren Fraktionen verfügen über sogenannte Arbeitskreise (AK), die größere Themengebiete abdecken, zumeist fünf oder sechs, denn ihre geringere Mitgliederzahl erlaubt ihnen keine tiefere Binnendifferenzierung. Die AfD entschied sich hingegen nach ihrem erstmaligen Einzug in den Bundestag 2017 25 Arbeitsgruppen einzusetzen, die im Wesentlichen spiegelbildlich zu den Ausschüssen geschnitten sind, nennt diese aber Arbeitskreise.

In den AGs leisten die Abgeordneten die gesetzgeberische Detailarbeit, dort konkretisieren oder korrigieren sie oft die Führungsvorgaben, im Falle der regierungstragenden Fraktionen auch die Entwürfe der Ministerien. Viele der AG- und AK-Mitglieder sind für das jeweilige Sachgebiet schon durch ihre vorangegangene Berufstätigkeit ausgewiesen oder haben sich – zum Teil über mehrere Wahlperioden – auf bestimmte Materien spezialisiert. Insofern lassen sich die AGs bzw. AK als Instanz zur Sozialisation und Einarbeitung der Bundestagsabgeordneten begreifen. Hier können diese ihre Kenntnisse und Fähigkeiten, ihre Nützlichkeit für die eigene Fraktion unter Beweis stellen, sich für Führungsaufgaben empfehlen, gewisse Eigenständigkeit sowie sachpolitischen Einfluss gewinnen und Wählerinteressen zur Durchsetzung verhelfen. Die Arbeitsgruppen bzw. Arbeitskreise eröffnen damit den Parlamentariern auch ein Potenzial zur inhaltlich-politischen Kontrolle der eigenen Regierung bzw. Fraktionsführung, das im Normalfall hinter verschlossenen Türen, als letztes Mittel aber auch öffentlich genutzt werden kann.

Fraktionsführungen
Die zunehmende Ausdifferenzierung und Professionalisierung der Arbeitsteilung erforderte weitere innerfraktionelle Koordination und Integration, was wiederum den Bedarf an Führung steigerte. Diese Führung wurde auch dadurch notwendiger, dass schon in den 1950er-Jahren in der noch jungen Bundesrepublik Mehrheitsregierungen auf der Basis von Koalitionen zum Muster wurden. Solche Mehrheitsregierungen sind nur dann stabil und zuverlässig handlungsfähig, wenn die sie tragenden Fraktionen prinzipiell geschlossen agieren – und zwar nicht nur einmal bei der Kanzlerwahl, sondern für die Durchsetzung eines Gesetzgebungsprogramms über eine ganze Wahlperiode hinweg.

Für die Oppositionsfraktionen gilt prinzipiell dasselbe, da sie schließlich der Öffentlichkeit beweisen wollen, dass sie eine bessere und ständig bereite Alternative zur amtierenden Regierung und ihrer Mehrheit sind. Diese Geschlossenheit erwarten im Übrigen auch die Bürgerinnen und Bürger; sie scheint nach wie vor in der öffentlichen Wahrnehmung und der Politischen Kultur der Bundesrepublik das wichtigste Merkmal für Kompetenz und Entscheidungskraft zu sein.

Solche Geschlossenheit ist nur durch Führung zu erreichen. Sie hat (neben der organisatorisch-praktischen Leitung) die politische Richtung vorzugeben. Sie muss dafür Sorge tragen, dass die in der Fraktion formulierten Interessen und herausgearbeiteten Einzelpolitiken inhaltlich stimmig sind, dass die Gesamtfraktion und ihre Experten ineinander greifen und dass die Leitlinien der Partei berücksichtigt werden. Im Falle der Parlamentsmehrheit müssen die Fraktionsführungen zusätzlich sicherstellen, dass ihre Fraktionen und die Regierung an einem Strang ziehen, also abgestimmt reden und handeln.

Für diese Lenkungsfunktionen wählen die beiden großen Bundestagsfraktionen seit 1975 (SPD) bzw. 1980 (CDU/CSU) Geschäftsführende Vorstände. Dieser besteht im 19. Bundestag bei der Union aus einem Vorsitzenden, mittlerweile zwölf Stellvertretern und fünf Parlamentarischen Geschäftsführern. Hinzu kommen noch die beiden Justiziare und ein Sprecher der CDU-Landesgruppen. Der ersten weiblichen Vorsitzenden einer der großen Fraktionen im Bundestag, Andrea Nahles, traten in der SPD bis Juni 2019 sieben Stellvertreter und vier Parlamentarische Geschäftsführer zur Seite.

Die Aufgaben des Vorsitzenden sind beispielhaft in der Arbeitsordnung der CDU/CSU-Fraktion (§ 7) festgehalten: "Der Vorsitzende führt die Fraktion und vertritt sie nach innen und nach außen. Er beruft die Fraktions- und Vorstandssitzungen ein und schlägt ihre Tagesordnungen vor. Er leitet die Fraktion im Plenum des Bundestages." Aus dieser nüchternen Beschreibung ist der politische Rang dieses Amtes kaum erkennbar. Was "führen" und "leiten" tatsächlich bedeutet, ergibt sich erst aus der Organisationswirklichkeit und aus den unterschiedlichen politischen Zielen, Persönlichkeiten und Führungsstilen der konkreten Amtsinhaber.

Die "Administratoren" ("Verwalter") unter den Fraktionsvorsitzenden, die sich eher als "ehrliche Makler" denn als Initiatoren von Politik verstanden, bezogen ihre herausragende Stellung entweder daraus, dass sie ihrer Fraktion als Bindeglied zur Regierung, zuweilen auch als deren verlängerter Arm erschienen oder parlamentarische Statthalter von Kanzlerkandidaten ohne Bundestagsmandat waren. Herbert Wehner, der fast 14 Jahre das Amt des Fraktionsvorsitzenden bekleidete, "diente" so "seinen" sozialdemokratischen Kanzlern Willy Brandt und Helmut Schmidt. Karl Carstens "hielt drei Jahre lang die Stellung" für Helmut Kohl, bis dieser vom Ministerpräsidentensessel in Rheinland-Pfalz in die Oppositionsführerschaft im Bundestag wechselte.

Die "Politiker" unter den Fraktionsvorsitzenden bezogen ihre Autorität aus ihrer Rolle als gleichsam "echte" Oppositionsführer, die als Fraktionsvorsitzende auch Herausforderer des amtierenden Kanzlers waren – so etwa Helmut Kohl und Angela Merkel; die Fraktionsvorsitzenden Helmut Schmidt und Wolfgang Schäuble traten eher als innerparteiliche Rivalen und/oder prospektive Nachfolger des amtierenden Kanzlers auf. Die in den Statuten und Organisationsstrukturen der Fraktionen im Grundsatz angelegte Arbeitsteilung und Hierarchisierung erlauben die ganze Bandbreite dieser Vorsitzendenrollen.

Die Stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden fungieren vor allem als inhaltliche Koordinatoren größerer Sachgebiete und sind für die in diesen Sachgebieten angesiedelten Arbeitsgruppen jeweils "zuständig". Sie ähneln insofern Abteilungsleitern in großen Firmen oder Verwaltungen. Die Parlamentarischen Geschäftsführer organisieren die Arbeitsabläufe im Alltag des Bundestages. Für die Außendarstellung besonders wichtig ist ihre Funktion, bei Abstimmungen die Präsenz der Abgeordneten und ihr geschlossenes Auftreten zu erreichen. Keineswegs steuern die Parlamentarischen Geschäftsführer aber nur den technisch-prozeduralen Teil des Bundestagsbetriebes. Durch ihre Mitgliedschaft im Geschäftsführenden Vorstand wirken sie auch wesentlich an der Auswahl und Koordination politischer Inhalte für gesetzgeberische Vorhaben mit.

Diese engsten Führungszirkel der beiden großen Fraktionen werden ergänzt durch die erweiterten Vorstände. Die in der Regel über 200 Mitglieder umfassenden Fraktionen sind – bei aller Übereinstimmung in ihren jeweiligen politischen Grundsätzen und zentralen Zielen – heterogene Gebilde. Die Abgeordneten der SPD wie der Union unterscheiden sich regional, konfessionell, sozialstrukturell und durchaus auch in ihren politischen und ideologischen Positionen. Um den Zusammenhalt in der Fraktion zu gewährleisten, müssen diese Unterschiede in den Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen repräsentiert werden. Zu diesem Zweck gibt es im 19. Bundestag in der SPD-Fraktion 25, in der Unionsfraktion 47 weitere Vorstandsmitglieder. Sie fungieren als Mittlerinstanz zwischen Gesamtfraktion und Leitungsebene. Dies zeigt sich besonders deutlich bei der CDU/CSU, deren erweiterter Vorstand aus den Vorsitzenden der Arbeitsgruppen (gegenwärtig 23), den Vorsitzenden der sechs sogenannten Soziologischen Gruppen und 18 sonstigen gewählten Mitgliedern besteht.

Organisation der Bundestagsfraktion der CDU/CSU in der 19. Wahlperiode (© www.cducsu.de/fraktion (Abruf am 27. August 2019))

Die kleineren Fraktionen, die in der Vergangenheit oft nur 30 bis 50 Mitglieder zählten, im 19. Bundestag zwischen 67 und 91, können mit weniger differenzierten Binnenstrukturen auskommen.

Organisation der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen in der 19. Wahlperiode (© www.gruene-bundestag.de/fraktion (Abruf am 27. August 2019))

Ihre Vorstände entsprechen hinsichtlich Größe und Funktionen den Geschäftsführenden Vorständen der großen Fraktionen; faktisch entfällt bei ihnen die Ebene des erweiterten Vorstandes. Auch die Feingliederung in Arbeitsgruppen muss, wie gezeigt, in den kleineren Fraktionen unterbleiben. In den vergangenen Wahlperioden hatten sie schon häufig Schwierigkeiten, alle Bundestagsausschüsse hinreichend zu besetzen. Am Beispiel: Selbst bei 50 Mitgliedern ergibt sich folgende Rechnung: Da die Angehörigen der Fraktionsführung in der Regel keine Ausschusspositionen übernehmen, stehen gut 40 Personen für diese Aufgaben bereit. Bei über 20 Bundestagsausschüssen könnten also jeweils höchstens zwei Mitglieder entsandt werden.

Da für eine Reihe von Ausschüssen den kleineren Fraktion mehrere Sitze zur Verfügung stehen, muss auf Doppelmitgliedschaften zurückgegriffen werden, die eine erhebliche Arbeits- und Zeitbelastung der Abgeordneten darstellen. Dass angesichts solcher Zahlen die Einrichtung von thematisch spiegelbildlich zu den Bundestagsausschüssen geschnittenen Arbeitsgruppen nicht in Frage kommt, ist offenkundig. Stattdessen werden Arbeitskreise eingerichtet, die größere Themengebiete umfassen. Während deren Vorsitzende in der FDP nicht kraft Amtes dem Fraktionsvorstand angehören (aber die Vorsitzenden der Bundestagsausschüsse, die die Freidemokraten stellen), gingen Bündnis 90/Die Grünen 1994 den Weg der Unionsfraktion und nahmen die Arbeitskreisvorsitzenden (sogenannte Koordinatoren) zur besseren sachpolitischen Verzahnung in den Vorstand auf. Seit der 15. Wahlperiode sind die Koordinatoren die Stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden. Dieselbe Konstruktion findet sich bei der Linken und bei der AfD.

QuellentextAusstattung und Finanzen der Fraktionen

Fraktionszuschüsse (© bpb, Quelle s. Bild)

Die hervorgehobene Stellung der (engeren) Fraktionsvorstände wurde im Laufe der Zeit weiter ausgebaut durch die finanzielle und personelle Ausstattung der Fraktionen. Mittlerweile sind die ursprünglich als Sekretariatshilfen angelegten Stäbe zu politischen Dienstleistungsunternehmen mittlerer Betriebsgröße geworden. Bei SPD und CDU/CSU waren im 18. Bundestag 225 bzw. 328, bei den kleinen Fraktionen um die 130 Mitarbeiter beschäftigt. Zur Finanzierung dieses Personals und anderer Ausgaben erhalten die Fraktionen staatliche Zuschüsse. Um ihre auch verfassungsgerichtlich anerkannte Rolle als maßgebliche Akteure im demokratischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess angemessen erfüllen zu können, werden ihnen aus dem Bundeshaushalt jährlich Mittel zugewiesen, über die sie nach dem 1995 in Kraft getretenen Fraktionsgesetz öffentlich Rechnung legen müssen.

Fraktionsmitarbeiter (© bpb, Quelle s. Bild)

Seit Ende der 1990er-Jahre betrugen diese Zuschüsse um die 60 Millionen Euro jährlich; vor allem durch Veränderungen in der Zahl der Fraktionen und die Vergrößerung des Bundestages sind sie seither auf 88 Millionen (2017) gestiegen. Ohne Zweifel sind diese materiellen Entwicklungen den Arbeitsmöglichkeiten der Fraktionen insgesamt und damit auch den Abgeordneten als Angehörigen ihrer Fraktion zugute gekommen. Die weitgehende Finanzhoheit und Verfügung über das Fraktionspersonal in Händen der (engeren) Vorstände erhöht aber vor allem deren Führungspotenzial.

Suzanne S. Schüttemeyer

Herstellung der parlamentarischen Arbeitsfähigkeit

Angesichts der Bedeutung der Fraktionen und ihrer meist schon vor dem Wahltag einsetzenden Aktivitäten zur Bildung späterer Koalitionen nimmt die Öffentlichkeit die förmlichen Akte zur Konstituierung des Bundestages meistens gar nicht als Beginn einer neuen Wahlperiode, sondern eher als einen Abschnitt im Prozess der Regierungsbildung wahr.

In der Tat erscheint es realitätsgerecht und zum Verständnis der parlamentarischen Demokratie und ihrer Wirkungsweise nötig, den gesamten Prozess in den Blick zu nehmen: von der Organisation der neuen Bundestagsfraktionen, ihren Vorstandswahlen, Ausschuss- und Arbeitsgruppenbesetzungen über die Wahlen des ganzen Bundestages für seine Leitungsgremien und die Schaffung seiner Arbeitsebene bis hin zur Wahl des Kanzlers und damit der Regierungsorganisation.

Rechnet man die Zeit, die vom Tag der Bundestagswahl bis zur Vereidigung des neuen Bundeskabinetts verstreicht, so dauerte es von 1949 bis 2009 im Durchschnitt knapp sechs Wochen (zwischen 24 und 65 Tagen), bis die politische Arbeitsfähigkeit vollständig hergestellt war.

Schon 2013 gestaltete sich die Regierungsbildung schwieriger als gewöhnlich, und es verstrichen 86 Tage, bevor Angela Merkel nach 2005 zum zweiten Mal zur Kanzlerin einer Großen Koalition gewählt werden konnte. Und 2017 brachte die Bundestagswahl ein Ergebnis hervor, das es noch schwerer machte, eine Regierungsmehrheit zu finden: Die beiden traditionellen Volksparteien CDU/CSU und SPD konnten zusammen nur noch 53,5 Prozent der Stimmen gewinnen, und mit der AfD zog eine sechste Partei in den Bundestag ein. Da sie allen anderen als nicht koalitionsfähig galt, blieben als rechnerisch und politisch mögliche Bündnisse lediglich die sogenannte Jamaika-Koalition aus Union, Grünen und FDP oder eine Fortsetzung der Großen Koalition übrig. Daher kam es zu langwierigen Vorsondierungen, bevor überhaupt – dann allerdings schnelle – Koalitionsverhandlungen aufgenommen werden konnten. Zudem band die SPD – wie schon 2013 – die endgültige Entscheidung über eine Fortführung des Bündnisses mit der Union an ein Votum ihrer Mitglieder, was den Zeitraum bis zur Kanzlerwahl weiter verlängerte.

Die erste Parlamentssitzung: Geschäftsordnung und Wahl des Bundestagspräsidiums
Das Grundgesetz bestimmt, dass das Parlament spätestens dreißig Tage nach der Wahl zusammentreten muss (Art. 39 Abs. 2 GG). Auf dieser Sitzung beschließt es seine Geschäftsordnung. Werden größere Reformen an diesem Regelwerk für die parlamentarische Arbeit für nötig gehalten, werden sie im Laufe einer Wahlperiode nach ausführlichen Beratungen zwischen den Fraktionen vorgenommen. Daher übernimmt das neue Parlament zu Beginn in der Regel die Ordnung des vorangegangenen Bundestages oder modifiziert diese nur leicht.

Außerdem werden der Bundestagspräsident und seine Stellvertreter gewählt. Sie haben vor allem die Aufgabe, die Sitzungen des Bundestages zu leiten; der Bundestagspräsident vertritt das Parlament nach außen und steht protokollarisch nach dem Bundespräsidenten an zweiter Stelle der Ämterordnung. Bundestagspräsident und Vizepräsidenten bilden das Präsidium, das die internen Angelegenheiten des Hauses regelt.
Ihre Wahl wird keineswegs spontan vorgenommen, sondern im Vorfeld von den Fraktionen geklärt. Es ist bereits seit den 1950er-Jahren zur parlamentarischen Tradition geworden, dass das Vorschlagsrecht für das Amt des Bundestagspräsidenten bei der größten Fraktion des Bundestages liegt. Ist diese an der Bildung der Bundesregierung beteiligt, so gehört die Position des Bundestagspräsidenten zum Personaltableau der Regierungsbildung. Ihre Besetzung wird von denselben personaltaktischen und politisch-strategischen Erwägungen geleitet wie die Auswahl der Kabinettsmitglieder.

Fraktionsspitzen und Kanzler waren bislang in aller Regel darauf bedacht, mit dem Amtsinhaber einen möglichst zuverlässigen Verbündeten an der Spitze der parlamentarischen Alltagsarbeit zu bekommen oder wenigstens einen, der nicht allzu viel politische Eigenständigkeit zu entfalten versprach. Da mit dem Präsidentenamt die Vertretung des ganzen Parlaments nach außen und die unparteiische Sitzungsleitung verbunden sind, obliegt es der vorschlagenden Fraktion aber auch, die gebotene parteipolitische Neutralität im Auge zu behalten und einen für die anderen Fraktionen akzeptablen Kandidaten zu präsentieren. Dass dies bisher gelungen ist, zeigt die Tatsache, dass es seit 1954 keine Gegenkandidaturen mehr gab.

Weniger einvernehmlich hat sich rückblickend die Wahl der Vizepräsidenten gestaltet. Zunächst wurde es auch hier rasch zum Brauch, dass jede Fraktion im Präsidium vertreten sein sollte, um an der Leitung des Bundestages teilzunehmen. Im Drei-Fraktionen-Parlament der 1970er- und 1980er-Jahre verständigte man sich auf einen Proporz (Präsident und ein Vize für die stärkste, zwei Vizepräsidenten für die zweite große und ein Vizepräsident für die kleine Fraktion).

Der Einzug von Bündnis 90/Die Grünen, später der PDS bzw. der Linken führte zu etlichen Auseinandersetzungen über die Vertretung der kleineren Fraktionen im Präsidium. Mit der 1994 in die Geschäftsordnung eingefügten Regel, wonach jede Fraktion mindestens einen Vizepräsidenten stellt, wurde eine allseits befriedigende Lösung gefunden. Ihr Funktionieren setzt aber voraus, dass die Akteure nur solche Kandidaten präsentieren, die für die anderen Fraktionen auch wählbar sind.

Die Missachtung dieser stillschweigenden Übereinkunft durch die PDS (Vorgängerin der Partei Die Linke) führte 2005 dazu, dass die ihr zustehende Position eines Vizepräsidenten erst nach einem halben Jahr besetzt werden konnte. 2017 scheiterte der von der AfD aufgestellte Kandidat wegen islamfeindlicher Aussagen in drei Wahlgängen im Bundestag. Der Ältestenrat (siehe unten) entschied daraufhin, dass er wegen des offenkundigen Mangels einer Mehrheit nicht ein weiteres Mal kandidieren könne. Da auch die folgenden Kandidaten der AfD die erforderliche Stimmenmehrheit verfehlten, ist/war die AfD mit Stand November 2019 nicht im Präsidium des Bundestages vertreten.

Ältestenrat und Parlamentarische Geschäftsführer
Wichtiger für den politischen Alltag des Bundestages als das Präsidium ist der Ältestenrat. Er besteht aus dem Präsidenten, den Vizepräsidenten und gegenwärtig (im 19. Bundestag) 23 weiteren Abgeordneten, die von den Fraktionen gemäß ihrer Mitgliederzahl benannt werden. Die Bedeutung des Ältestenrats für die Binnenorganisation des Parlaments kann daran abgelesen werden, dass ihm alle Parlamentarischen Geschäftsführer der beiden großen Fraktionen angehören und die kleineren Fraktionen die ihnen jeweils zustehenden Sitze (FDP und AfD je 3, Grüne und Linke je 2) ebenfalls mit ihren Parlamentarischen Geschäftsführern besetzen.
Die Geschäftsführer sind die zentrale Schaltstelle für die Steuerung der politischen Arbeitsabläufe in ihren Fraktionen. Sie verständigen sich im Ältestenrat – und häufiger noch in Vorbesprechungen und anderen informellen Zusammenkünften – über den Terminplan des Hohen Hauses, die Sitzungswochen, die Tagesordnung der Plenarsitzungen, zumeist auch über Redezeiten und Zahl der Redner, über Zahl und Größe sowie Vorsitzende und Stellvertreter der Ausschüsse, deren Zeitplanung und Überweisungen von Gesetzentwürfen an die Ausschüsse.

Wenngleich es sich bei den Übereinkommen der Geschäftsführer und den Vereinbarungen des Ältestenrates förmlich um Vorschläge an das Plenum des Bundestages handelt, so sind diese faktisch doch gleichbedeutend mit der Entscheidung des Parlaments. Haben sich die Fraktionen, vertreten durch ihre Geschäftsführer, geeinigt, muss das gesamte Plenum nicht mehr mit diesen Gegenständen befasst werden – ein Zeichen für die pragmatische, effizienzorientierte Handhabung der parlamentarischen Arbeit.

QuellentextParlamentarische Geschäftsführer

Ob förmlich im Ältestenrat oder informell in Gesprächsrunden, mit der Erfüllung dieser Funktionen prägen die Parlamentarischen Geschäftsführer das Parlamentsgeschehen. Welches Thema wann behandelt wird, wer wie lange wozu reden darf, in welchen Strukturen das Parlament seine Arbeit erledigt, welcher Ausschuss in der Hand welcher Fraktion liegt, wird von ihnen entschieden. Selbstverständlich sind sie in diesen Entscheidungen nicht frei: Sie agieren als Repräsentanten ihrer Fraktion, und das heißt, sie müssen den Interessen und Bedürfnissen ihrer Fraktion ebenso folgen, wie sie in der Sache diese führen, ihr vorangehen müssen. Mit den Worten eines langjährigen Ersten Parlamentarischen Geschäftsführers der Unionsfraktion, der zusammen mit seinem SPD-Kollegen in den fünfziger und sechziger Jahren Standards und Konventionen für die parlamentarische (Zusammen-)Arbeit setzte, die bis heute Gültigkeit haben:

"Die Parlamentarischen Geschäftsführer gehen selten mit vorgefassten Beschlüssen irgendeines Gremiums, aber gelegentlich doch mit Beschlüssen des Vorstandes oder der Fraktion in den Ältestenrat. Sie müssen fast immer ‚wissen‘ oder ‚fühlen‘, was ihre Fraktion will. Sie werden sehr selten von ihren Fraktionen nachträglich desavouiert, und sie werden sehr selten vom Plenum in dem, was sie im Ältestenrat vereinbaren, korrigiert." (Will Rasner) [...] Was zu Recht als Verfahrenshoheit der Parlamentarischen Geschäftsführer bezeichnet wird, darf also nicht als einsame Entscheidungsmacht interpretiert werden. Vielmehr stehen sie in einem Beziehungsgeflecht, in dem sie die Interessen einzelner Abgeordneter, ihrer jeweiligen Fraktion als Ganzes, ihres Fraktionsvorstandes und des Bundestages als Gesamtparlament austarieren müssen. Hinzu kommt ein traditionell gewachsenes, die Fraktionszugehörigkeit übergreifendes Selbstverständnis der Geschäftsführer. Die Äußerung "Wir sind ja eine Gewerkschaft, wir Parlamentarischen Geschäftsführer" verweist auf einen Bestand an gemeinsamen Orientierungen der Amtsinhaber ungeachtet ihrer Parteizugehörigkeit. Diese Orientierungen liegen vor allem im Bereich organisatorischer Effizienz und Reibungslosigkeit in den technischen Abläufen parlamentarischer Verfahren. Dies findet auch seinen Niederschlag in dem – zumeist – erfolgreichen Bemühen, im Ältestenrat konsensuale Entscheidungen zur Organisation des Parlamentsbetriebes zu treffen.

Suzanne S. Schüttemeyer, "Manager des Parlaments zwischen Effizienz und Offenheit. Parlamentarische Geschäftsführer im Deutschen Bundestag", in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 36–37/97, S. 12 f.

Einrichtung und thematischer Zuschnitt der Ausschüsse
Bevor der Ältestenrat förmlich eingesetzt ist, trifft sich bereits ein Vor-Ältestenrat, der insbesondere über die Struktur und Besetzung der Ausschüsse des neuen Bundestages berät. Grundsätzlich gilt für die Einsetzung von Ausschüssen das Prinzip der Spiegelbildlichkeit, das heißt, der Bundestag richtet für jedes Ministerium einen Ausschuss ein, um so die fachlich-politische Kontrolle besser organisieren und leisten zu können.

Bundestagsausschüsse und Bundesministerien (© www.bundestag.de/ausschuesse (Abruf 22. Oktober 2019))

Ausgenommen vom Prinzip der Spiegelbildlichkeit sind die grundgesetzlich vorgeschriebenen Ausschüsse – weder der Petitionsausschuss noch der EU-Ausschuss haben ein Gegenstück in der Bundesregierung. Das Gleiche gilt für die beiden in jeder Wahlperiode eingesetzten Ausschüsse für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung sowie für den Haushalt. Sie dienen der Selbstorganisation des Parlaments beziehungsweise seiner klassischen Querschnittsaufgabe, die Haushaltspolitik und -führung der Bundesregierung zu überwachen.

Im 19. Bundestag finden sich fünf weitere Ausschüsse, die nicht auf ein bestimmtes Ressort der Exekutive bezogen sind: der Sportausschuss, der Tourismusausschuss, der Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe, der Ausschuss Digitale Agenda sowie der Ausschuss für Kultur und Medien.

Außerdem gibt es im 19. Bundestag nicht nur einen, sondern zwei Ausschüsse, die das Bundesinnenministerium kontrollieren. Als dieses Ressort mit der Regierungsbildung 2018 für die CSU um die Bereiche Bau und Heimat erweitert wurde, richtete der Bundestag gemäß dem Prinzip der Spiegelbildlichkeit zusätzlich den Ausschuss für Bau, Wohnen, Stadtentwicklung und Kommunen ein.

Der thematische Zuschnitt der Ausschüsse spiegelt also zum einen politische Schwerpunktsetzungen wider, mit denen der Bundestag deutlich machen will, dass die entsprechenden gesellschaftlichen Belange vom Parlament aufgegriffen werden. Zum anderen kann er das Ergebnis geänderter Strukturen der Regierungsorganisation sein, die ihrerseits sowohl von inhaltlichen als auch von personal- und parteipolitischen Erwägungen bestimmt werden.

Besetzung der Ausschüsse
Besteht Klarheit über Zahl und Geschäftsbereiche sowie Größe der Ausschüsse, so wird versucht, Einvernehmen darüber herzustellen, welche Fraktion welchen Ausschussvorsitz und welche Stellvertreterpositionen besetzen darf. Zwischen 1949 und 1994 ist es nur einmal misslungen, diese Verteilungsfragen durch Verhandeln zwischen den Geschäftsführern im Ältestenrat zu regeln. Doch seither musste immer das sogenannte Zugreifverfahren angewendet werden. Dabei wird mit Hilfe einer mathematischen Methode, dem Proportionalverfahren von Sainte-Laguë/Schepers, nach der Stärke der Fraktionen ermittelt, in welcher Reihenfolge sie auf einen Ausschussvorsitz bzw. Stellvertreterposten zugreifen dürfen. Diese Form der Besetzung ist sehr viel zufallsabhängiger und erlaubt den Fraktionen deutlich weniger als der Versuch der einvernehmlichen Regelung, bestimmte Präferenzen zum Tragen zu bringen.

Ständige Ausschüsse des 19. Bundestags (© Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbild 064 113; aktualisiert, Stand: Oktober 2019)

Diese Präferenzen ergeben sich aus sachpolitischen und personellen Erwägungen, auch aus Traditionen. So hat sich im Bundestag als guter parlamentarischer Brauch herausgebildet, den Vorsitz im Haushaltsausschuss, einem höchst wichtigen Instrument zur Kontrolle der Regierung, einem Mitglied der Opposition zu überlassen. Will eine Fraktion sich einem politischen Themenbereich besonders widmen, hat sie dies in der Vergangenheit schon getan oder setzt sie aufgrund ihres parteipolitischen Programms bestimmte (neue) sachpolitische Schwerpunkte, so wird sich dies auch in den Ausschusspräferenzen niederschlagen. Ein klassisches Beispiel ist hier die SPD, die traditionell den Vorsitz im Ausschuss für Arbeit und/oder Soziales führt. Auch Seniorität oder personelle Kontinuität spielen gelegentlich eine Rolle beim Zugriff auf einen Ausschuss, wenn eine Fraktion einen erfahrenen Vorsitzenden wieder nominieren möchte.

Außerdem gilt im Bundestag, dass nach Möglichkeit ein Mitglied der Opposition die Stellvertretung übernimmt, wenn ein Angehöriger einer Mehrheitsfraktion den Vorsitz innehat und ebenso andersherum. Unter den Zahlenverhältnissen der Großen Koalition ist dieser Brauch allerdings nicht durchgängig aufrechtzuerhalten.

Um dem Demokratieprinzip zu genügen – die Wählerinnen und Wähler haben schließlich eine Partei bzw. Koalition mit der Mehrheit ausgestattet und damit zur Entscheidung legitimiert – müssen sich die parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse auch in den Gremien des Bundestages wiederfinden. Deshalb wird, ebenfalls nach dem Sainte-Laguë/Schepers-Verfahren, entsprechend dem Stärkeverhältnis der Fraktionen im Bundestag errechnet, wie viele Mitglieder jede Fraktion in die verschiedenen Ausschüsse entsenden kann. Zum Beispiel verteilen sich im Haushaltsausschuss, der mit 44 Mitgliedern zu den größten Ausschüssen des Bundestages gehört, die Sitze wie folgt: 15 CDU/CSU, 10 SPD, 6 AfD, 5 FDP, 4 Linke, 4 Bündnis 90/Grüne. Im 21 Mitglieder zählenden Ausschuss Digitale Agenda stellen CDU/CSU 7, SPD 5, AfD 3 und die drei weiteren Fraktionen je zwei Vertreter.

Jeder Abgeordnete hat das Recht, einem Ausschuss anzugehören; ist er fraktionslos (was nur noch äußerst selten vorkommt), wird ihm vom Bundestagspräsidenten eine Mitgliedschaft, allerdings nur mit Rede- und Antrags-, jedoch ohne Stimmrecht, zugewiesen. Im Normalfall sind die Fraktionen Herren des Verfahrens zur Ausschussbesetzung. Sie benennen ihre Mitglieder, und sie haben auch das Recht, diese wieder zurückzurufen.

QuellentextBedeutung der Ausschüsse

Für viele Parlamentsfunktionen ist der Ausschuss weniger wichtig als angenommen, wenn auch nicht verzichtbar. Von der Regierungskontrolle geschieht hier nur der nicht-öffentliche Teil der oppositionellen Kontrolle, die ansonsten öffentlichkeitsorientiert in Plenum und Medien ihren Ort hat, während das interne Controlling der Regierungsmehrheit in den Arbeitskreisen und der Fraktionsführung stattfindet. Die Ausschüsse sind bei der Gesetzgebung meist nur als "Notar" für das Parlament tätig; Vorlagen werden stattdessen in den Ministerien und den Arbeitskreisen der Fraktionen erarbeitet. Die Repräsentationsfunktion findet auf ihrer Input-Seite ebenfalls schwerpunktmäßig in den Arbeitskreisen statt, die Outputseite im Plenum oder in direkten Medienkontakten. Der Ausschuss leistet jedoch einige Arbeit, die innerparlamentarisch von Bedeutung ist, insbesondere mit seiner notariellen Funktion, als letzte inhaltliche Überprüfung von Vorlagen vor der Plenumsphase und als "Plenum in Testphase".
[...]
Mit der Argumentation im Ausschuss kann weder das Gegenüber noch wie im Plenum eine Zuhörerschaft überzeugt werden; daraus erklärt sich auch die – im Vergleich zum Plenum – relativ gelassene, oft freundliche Stimmung. Der Ausschuss hat seine Funktion darin, die Meinungsbildung der Fraktionen zu prüfen, die "Frontlinien" zwischen ihnen zu klären und Bereiche von Gemeinsamkeiten auszuloten sowie ihre Stellungnahmen quasi notariell zur Kenntnis zu nehmen. Dafür wären wohl gelegentlich auch weniger ausführliche Diskussionen ausreichend. Den einzelnen Abgeordneten kann die Auseinandersetzung allerdings als Übung und Test für die anschließende Rede im Plenum dienen, weil im Ausschuss meist eine höhere Vertraulichkeit und bessere Stimmung herrscht als in der öffentlichen Auseinandersetzung.

Jürgen von Oertzen, Das Expertenparlament, Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2006, S. 247 und 272

Die Praxis der Ausschussbesetzung gestaltet sich in allen Fraktionen nach ähnlichem Muster. Zu Beginn einer Wahlperiode werden die Abgeordneten schriftlich oder in persönlichen Gesprächen von einem Parlamentarischen Geschäftsführer nach ihren Ausschusspräferenzen befragt. In der CDU gibt es einen "Ausschuss zur Besetzung der Ausschüsse", im Jargon "Teppichhändlergremium" genannt, in dem die Parlamentarischen Geschäftsführer und die Vorsitzenden der Landesgruppen aushandeln, wer in welchen Ausschuss geht. Ob Ausschuss oder einzelner Parlamentarischer Geschäftsführer: In allen Fraktionen muss versucht werden, die Wünsche der Abgeordneten mit den Erfordernissen der Gesamtfraktion in Einklang zu bringen:

  • Einerseits ist Sachverstand für die Ausschussarbeit gefragt, andererseits müssen die Fachleute auch in der Lage sein, "über den eigenen Tellerrand" hinauszublicken.

  • Einerseits sollen langjährige Erfahrungen honoriert und genutzt werden, andererseits können "Erbhöfe" das Risiko der Erstarrung und Abschottung gegen neue Ideen und neue Leute bergen.

  • Die besondere Nähe einer Fraktion zu gesellschaftlichen Interessen soll in der Ausschussbesetzung zum Ausdruck kommen, darf aber nicht in Abhängigkeit zu einem Verband oder einer Interessengruppe umschlagen.

  • Die gemeinsame politische Linie einer Fraktion muss zum Tragen kommen, aber auch die innerfraktionellen Unterschiede sind hinreichend zu berücksichtigen.

Gelingt der Führung die Ausbalancierung dieser widerstreitenden Anforderungen nicht oder nicht gut genug, drohen Gefahren: Unzufriedene Mitglieder und die mangelhafte Nutzung vorhandener Kenntnisse und Fähigkeiten sind keine guten Voraussetzungen für eine erfolgreiche Arbeit. Deshalb wird große Mühe darauf verwandt, die Fraktionsangehörigen in ihre "Wunschausschüsse" zu entsenden, wenigstens als stellvertretende Mitglieder oder über Nachrücklisten zu einem späteren Zeitpunkt.

Dass in Fraktionsversammlungen nur gelegentlich Kampfabstimmungen über die Zuteilung von Ausschusssitzen stattfinden, belegt, dass dieses Bemühen in der Regel zum Erfolg führt. Es zeigt aber auch, dass die Fraktionsführungen bei ihren Entscheidungen über die wichtige Ausschussmitgliedschaft im Parlament keineswegs frei sind: Sie müssen die individuellen Interessen der Abgeordneten einbeziehen und mit dem – ja auch von den einzelnen Abgeordneten geteilten – Interesse am Erfolg der gemeinsamen Arbeit abgleichen. Von einer "Unterwerfung" der Fraktionsmitglieder unter ihre Führung kann somit keine Rede sein.

Arbeitsalltag der Abgeordneten

QuellentextLanger Donnerstag

[21:03] Es ist Donnerstag. Der stellvertretende Bundestagspräsident Thomas Oppermann von der SPD übernimmt das Tagungspräsidium. Er löst Hans-Peter Friedrich ab, den Stellvertreter von der CSU.
Jetzt […] sind noch achtzig Abgeordnete im Saal. Auf den Rängen sitzen sogar noch Besuchergruppen. Oppermann erlaubt sich ein kurzes Wort: "Mit Rücksicht auf die Mitarbeiter des Hauses" werde er von jetzt an die Redezeit streng überwachen. Je länger das Plenum tagt, desto später ist auch Feierabend für all jene, die im Hintergrund den Parlamentsbetrieb am Laufen halten: die Protokollanten, die Saalordner, die Mitarbeiter in den Fraktionen, das Bundestagsrestaurant. Oppermann kündigt an, wer überziehe, dem werde sogleich das Mikro abgestellt. Zwischenfragen seien nicht mehr zugelassen. Und im Übrigen bitte er darum, von der Möglichkeit Gebrauch zu machen, Reden zu Protokoll zu geben. Würden alle geplanten Reden gehalten, müsse man noch lange nach Mitternacht hier sitzen.

Sitzungswochen sind für die Bundestagsabgeordneten harte Arbeit, nicht nur donnerstags am Hauptkampftag. Es geht los am Montag, wenn die Parteigremien tagen. Am Dienstag sind die Fraktionssitzungen, am Mittwoch tagt das Bundestagsplenum, vergleichsweise kurz und mit stets gleicher Tagesordnung: Die Regierung wird befragt, danach wird eine Aktuelle Stunde zu einem Thema aufgerufen, das eine der Fraktionen eingebracht hat. Den Rest des Tages verbringen die Abgeordneten in der nicht minder wichtigen Ausschussarbeit, auch das kann bis tief in die Nacht dauern. Am Donnerstag geht es im Plenum morgens um 9 los und dauert oft bis Mitternacht und darüber hinaus. Am Freitag trifft sich alles noch einmal im Plenum, bis zum Nachmittag, dann eilen die Abgeordneten zurück in ihre Wahlkreise.

[21:50] Gerade wird Tagesordnungspunkt 14 aufgerufen, 21 sind es heute insgesamt. […] Tagesordnungen […] sind Sache des Ältestenrates, nachdem zuvor die Fraktionen ihre Ansprüche angemeldet haben. Dem Ältestenrat gehören das Präsidium des Bundestages und 23 weitere Abgeordnete an. Es sind nicht unbedingt die ältesten Parlamentarier, wohl aber erfahrene. Sie tagen in einem speziellen Saal im Reichstagsgebäude, jedes hier gesprochene Wort wird mitgeschnitten. Donnerstags wird die Tagesordnung für die nächste Sitzungswoche festgelegt, im Groben jedenfalls. Die genaue Abstimmung ist dann Sache der Parlamentarischen Geschäftsführer aus den Fraktionen, die sich dienstags in einer etwas kleineren Runde treffen, traditionell koordiniert durch die stärkste Fraktion, also die Union.
[...]
[22:27] Im Plenum versucht gerade der junge Unionsabgeordnete Christoph Bernstiel auf seine Weise, die Sitzung zu verkürzen. Er ist mit seiner Rede zur Enquetekommission früher fertig als geplant: "Die unverbrauchte Redezeit widme ich den Mitarbeitern des Hauses." Da wird gelacht, aber Oppermann setzt noch eins drauf: "Lieber Kollege, es sind gerade mal 25 Sekunden."

Überhaupt der Zeitplan. Donnerstagvormittag und Freitagvormittag gelten im Bundestag als Kernzeiten, weil da die öffentliche, sprich mediale Aufmerksamkeit am größten ist. Dahin möchten am liebsten alle Fraktionen ihre Tagesordnungspunkte legen. Das geht nicht, aber wenigstens soll jeder mal dran sein. Bislang war es eine per Handschlag getroffene Übereinkunft, dass die Koalitionsfraktionen, obwohl sie mehr als die Hälfte aller Wählerstimmen haben, nur die Hälfte der Gesamtredezeit für sich in Anspruch nehmen. Die andere Hälfte steht der Opposition zu. Die Oppositionsfraktionen müssen sich freilich einigen, wie sie das unter sich aufteilen. […] Jeder bekommt mal die beste Sendezeit, es geht reihum.
[...]
[23:24] Im Plenum geht es jetzt um das Zensusgesetz zur Vorbereitung der nächsten Volkszählung. Die Bundesregierung hat dazu einen Gesetzentwurf eingebracht. Günter Krings, Parlamentarischer Staatssekretär im Innenministerium, spricht dazu. Dann die AfD. Auch die Grünen reden, weil sie gegen Volkszählungen sind und das auch unbedingt laut sagen wollen. Die anderen Fraktionen geben ihre Reden zu Protokoll.
[...]
Früher war es üblich, "zu Protokoll zu reden", wie es offiziell heißt. "Reden wir zu Protokoll" war eine vielgebrauchte Wendung: Die Reden wurden nicht gehalten, sondern das Manuskript den Protokollführern übergeben. Manchmal wurden ganze Tagesordnungspunkte zu Protokoll geredet.
[...]
Lange Sitzungen des Bundestages hat es schon immer gegeben, mit dem Einzug der AfD aber wird es regelmäßig sehr spät. Die mit Abstand längste Sitzung überhaupt war am 24. November 1949: Sie begann um 10 Uhr 30 und endete am nächsten Tag um 6 Uhr 23. Im Plenum ging es damals hoch her, weil der SPD-Fraktionsvorsitzende Kurt Schumacher Regierungschef Konrad Adenauer als "Kanzler der Alliierten" beleidigt hatte und nun ausgeschlossen werden sollte.

Einer der längsten Donnerstage seit Beginn dieser Wahlperiode war der 14. Juni des vergangenen Jahres [2018] […]. Am Ende musste das Plenum bis 2 Uhr 03 nachsitzen.

[23:50] Das Präsidium hat unterdessen abermals gewechselt, Friedrich ist wieder da. Die letzten Besuchergruppen haben die Tribüne verlassen, eine Schulklasse aus Hamburg darunter. Sie wirkte schon sehr müde. Jetzt sind alle Ränge leer. Und unten hat Oppermanns Mahnung gewirkt. Die diensthabenden Parlamentarischen Geschäftsführer der Fraktionen haben viel zu tun, dem Tagungspräsidium mitzuteilen, wer alles seine Rede zu Protokoll gibt. […] Jetzt ist das Plenum beim vorletzten Tagesordnungspunkt, es geht um Agrarökologie.

[23:59] Im Plenum sitzen jetzt noch etwa sechzig Abgeordnete. Der letzte Tagesordnungspunkt wird aufgerufen. Es geht um Anerkennung der damals sogenannten Asozialen und Berufsverbrecher als Opfergruppen des Nationalsozialismus. Grüne und FDP haben dazu Anträge vorgelegt. Thomas Hacker von der FDP sagt: "Zu später Stunde ein ernstes Thema." Und tatsächlich sind alle noch einmal aufmerksam, und es gibt eine leise Debatte, bei der sich einiges über deutsche Geschichte und Gedenkkultur lernen lässt.

[00:29] Friedrich verkündet: "Die Sitzung ist geschlossen." Der Grüne Konstantin von Notz macht noch ein Selfie mit den Leuten aus seiner Fraktion, die jetzt noch da sind. Die Saaldiener eilen, alles aufzuräumen. Der Bildschirm vor dem Tagungspräsidium wird geputzt. Draußen rollt eine lange Schlange von Taxis an, welche die Abgeordneten zu ihren Quartieren bringen. Einmal brauchte der Bundestag für eine Sitzung nur eine Minute. Das war am 13. März 1974. Der Abgeordnete Becker wurde in den Vermittlungsausschuss gewählt.

Frank Pergande, "Nachts ist aller Beifall lau", in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 7. April 2019, © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv

Das Freie Mandat
Die Mitglieder des Deutschen Bundestages (MdB) sind keine Einzelkämpfer. Anders als zum Beispiel die Abgeordneten und Senatoren des US-Kongresses, aber genauso wie die Abgeordneten in den parlamentarischen Demokratien Europas, werden sie von den Bürgerinnen und Bürgern vor allem als Vertreter ihrer jeweiligen Partei gewählt. Sie sind aber nicht an Aufträge und Weisungen gebunden – weder von einzelnen Bürgerinnen und Bürgern noch von Parteien, Verbänden, Interessengruppen oder Unternehmen.

Art. 38 GG garantiert ihnen das sogenannte Freie Mandat. Darin findet sich auch die Formulierung, die Abgeordneten seien "nur ihrem Gewissen unterworfen", die zu vielen Missverständnissen Anlass gegeben hat und seither in mancher öffentlichen Debatte emotional überhöht wird. Doch die Väter und Mütter des Grundgesetzes wussten, dass bei den wenigsten Entscheidungen im Parlament das Gewissen als moralisch-sittliche Kategorie ins Spiel kommt. Sie wollten mit der Formulierung lediglich die Weisungsfreiheit der Abgeordneten noch klarer zum Ausdruck bringen und deutlich machen, dass diese sich bei ihren Entscheidungen auf das eigene, allein zu verantwortende Urteil stützen müssen.

QuellentextRepräsentation: unverzichtbar und doch oft unverstanden

Aus Umfragen ist abzulesen: Parlamentarier genießen keinen guten Ruf mehr, Parlamente verlieren an Ansehen bei Bürgerinnen und Bürgern. Die Wahlbeteiligung sinkt, ebenso die Zufriedenheit mit dem Funktionieren des politischen Systems. Prüft man die Vorwürfe und Urteile im Einzelnen, so wird aber deutlich, wie widersprüchlich sie sind und auf welchen oft irrigen Ansprüchen und Maßstäben sie beruhen, aber auch, welch schwierige – gleichwohl für moderne komplexe Gesellschaften unabweisbar vernünftige – Regierungsform die repräsentative Demokratie darstellt.

  • Einerseits sollen Politiker Führung ausüben, sollen – auch und gerade – "unpopuläre" Entscheidungen treffen. Andererseits wird von ihnen erwartet, dass sie ihren Wählerinnen und Wählern folgen, vor allem nicht in deren Privilegien und Positionen einschneiden.

  • Einerseits wird angemahnt, Politik müsse sich am Gemeinwohl ausrichten. Andererseits wird jede Chance genutzt, mit der Veto-Macht von Einzelinteressen zu drohen.

  • Einerseits wird schnelle, pragmatische Entscheidung von Parlamenten und Regierungen gefordert, andererseits die Kurzatmigkeit der Politik kritisiert und langfristig-konzeptionelles Denken vermisst.

  • Einerseits lautet die Forderung, dem Kompromiss den Vorrang vor der als "Parteiengezänk" verunglimpften kontroversen Diskussion zu geben. Andererseits gerät die Glaubwürdigkeit von Politikern in Zweifel, wenn diese um einer nötigen Entscheidung willen von ursprünglichen Positionen abgehen. Teilweise werden sogar Verhandlung und Kompromiss als solche diskreditiert und als Zeichen von Schwäche interpretiert.

  • Einerseits wird das Freie Mandat der Abgeordneten historisch überhöht, der "unabhängige" Abgeordnete idealisiert. Andererseits wird mehr oder minder ausdrücklich das imperative Mandat favorisiert, bei dem ein Abgeordneter an inhaltliche Vorgaben der von ihm Vertretenen gebunden ist, sowie die Unterwerfung der Abgeordneten unter den plebiszitär ermittelten Bürgerwillen.

  • Einerseits lautet die Mehrheitsmeinung, Politiker kümmerten sich nicht um den Wählerwillen, orientierten sich nicht genügend an der "normalen" Alltagswelt und den Interessen der sogenannten Durchschnittsbürger. Andererseits ist der Vorwurf gängig, dem Volk werde nur "aufs Maul geschaut", die Politiker hängten ihr Mäntelchen opportunistisch in den Wind der demoskopisch ermittelten Stimmungen.

  • Einerseits wird Professionalisierung der Politik, also Politik als Beruf, mit äußerster Skepsis betrachtet, insbesondere die finanziellen Begleitumstände dieser Entwicklung. Oft wird der Amateur- und Gelegenheitspolitiker als der erstrebenswerte Typus schlechthin dargestellt. Andererseits wird höchste Professionalität von Parlamenten und Regierungen bei ihrer Aufgabenerfüllung verlangt, werden strenge Maßstäbe an Kompetenz, Leistungsfähigkeit und Einsatzbereitschaft der Politiker angelegt.

Im Populärverständnis erscheint direkte Demokratie als die "eigentliche" Form, die repräsentative Demokratie dagegen als Notlösung, weil Bevölkerungszahl und Großräumigkeit die allzuständige Versammlung aller auf dem Marktplatz nicht mehr zulassen. Dahinter steht die Illusion, es gebe herrschaftsfreie Selbstregierung. Doch die immer wieder vorgetragene Behauptung, die Beteiligung jedes einzelnen an den täglichen Entscheidungen des Gemeinwesens würde ihm seine ursprüngliche Freiheit zurückgeben, kann nicht als überzeugende Argumentation für die Überlegenheit direkter Demokratie dienen.

Ein möglichst großes Maß an politischer Freiheit wird in (post-)modernen Gesellschaften vielmehr dadurch hergestellt, dass die Universalität von Herrschaft anerkannt und sodann nach Wegen gesucht wird, ihr Grenzen zu setzen und ihre Ausübung an Regeln zu binden. Schon der Verweis darauf, dass Entscheidungen getroffen werden (müssen) für Nicht-Anwesende und Nicht-Zuständige (zum Beispiel Kinder, Ausländer), für nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich Auseinanderliegendes (heute wird die Klimasituation künftiger Generationen besiegelt), belegt, dass repräsentative Demokratie keine Notlösung ist.

Im Gegenteil: Erst parlamentarische Repräsentation ermöglicht es, von der Entweder-oder-Entscheidung durch Mehrheit abzugehen und einen Kompromiss zu suchen, der die widerstreitenden Interessen integriert und damit friedenstiftend wirkt. Dabei müssen Repräsentanten stets den Spagat leisten zwischen politischer Führung und Gefolgschaft. Sie müssen die Positionen der zu Repräsentierenden hören, ihnen nach eigener Abwägung und Urteilsbildung folgen, sie modifizieren oder ihnen widersprechen – und dafür wiederum Folgebereitschaft bei den Repräsentierten suchen.
So erweist sich Repräsentation als die ebenso notwendige wie einzig mögliche Form, Herrschaft demokratisch zu organisieren.

Suzanne S. Schüttemeyer

Seit den frühesten Anfängen des modernen Parlamentarismus gibt es eine Debatte um die Frage, in welchem Ausmaß die Repräsentanten an den Willen der zu Repräsentierenden gebunden sind. Aus einer Rede des englischen Politikers und Staatstheoretikers Edmund Burke an seine Wähler in Bristol 1774 bezog die Parlamentsforschung 200 Jahre später die Unterscheidung zwischen zwei Typen von Abgeordneten: dem trustee und dem delegate. Unter einem trustee wird dabei der in seiner politischen Urteilsbildung freie, der Wählerschaft generell rechenschaftspflichtige Treuhänder verstanden, unter einem delegate der an die Positionen der Wählerinnen und Wähler zwingend gebundene, gleichsam als Sendbote fungierende Beauftragte.

QuellentextEdmund Burke zur Rolle politischer Repräsentation, 1774

(Auszug)
"[…] es sollte die Freude und der Stolz eines jeden Repräsentanten sein, mit seinen Wählern in der innigsten Eintracht, der engsten Übereinstimmung und der freimütigsten Verbindung zu leben. Deren Wünsche sollten für ihn größtes Gewicht haben, deren Meinung in hohem Respekt stehen, deren Geschäfte uneingeschränkte Aufmerksamkeit verdienen. Es ist seine Pflicht, Ihnen seine Muße, seine Vergnügungen, seine Zufriedenheit zu opfern. Und vor allem hat er stets und in allen Fällen deren Interessen den seinen vorzuziehen.

Aber seine unvoreingenommene Meinung, sein reifes Urteil, sein erleuchtetes Gewissen, die darf er Ihnen nicht opfern – einem einzelnen ebenso wenig wie irgendeinem Kreis existierender Menschen (any set of men living). Diese verdankt er nicht Ihrer Gunst, noch dem Gesetz oder der Verfassung. Sie sind vielmehr ein Vertrauenspfand Gottes (a trust from providence), für dessen Missbrauch er zutiefst verantwortlich ist. Ihr Repräsentant schuldet Ihnen nicht nur seinen Fleiß, sondern sein Urteilsvermögen. Und er verrät Sie, anstatt Ihnen zu dienen, wenn er es Ihrer Meinung zuliebe aufopfern würde. […]

Ein gutes Parlamentsmitglied zu sein, ist […] keine leichte Aufgabe. Insbesondere in dieser Zeit, wo die Neigung, in die gefahrvollen Extreme serviler Willfährigkeit oder ungestümer Popularitätssucht zu verfallen, so deutlich ausgeprägt ist."

Edmund Burke, "Speech to the Electors of Bristol. On his being declared by the Sheriffs, duly elected one of the Representatives in Parliament for that city. On Thursday, the 3rd of November, 1774". Entnommen aus dem Aufsatz von Winfried Steffani, "Edmund Burke: Zur Vereinbarkeit von freiem Mandat und Fraktionsdisziplin", in: ZParl, 12. Jg. (1981), S. 109–122.

Umfragen belegen, dass deutsche Abgeordnete in diesen Entweder-oder-Kategorien anscheinend weder denken noch handeln. Selbstverständlich wollen sie im Regelfall die Interessen ihrer Wählerinnen und Wähler – bzw. der Gruppen, denen sie nach ihrer Annahme ihre Wahl verdanken –, vertreten, denn sie haben diese Interessen als berechtigt erkannt, glauben, ihnen jeweils ein besserer Anwalt sein zu können als andere, und wollen schließlich auch wiedergewählt werden. Genauso sind sich die Parlamentarier aber auch über folgende Gegebenheiten im Klaren:

  • Erstens kennen sie "ihre" Wählerinnen und Wähler gar nicht, und selbst wenn sie darunter ihren Wahlkreis verstehen, so sind dort nur in den seltensten Fällen einhellige politische Positionen anzutreffen, und zu den meisten Gegenständen, über die im Bundestag zu entscheiden ist, gibt es gar keine Positionen.

  • Zweitens kommunizieren nur wenige Bürgerinnen und Bürger direkt mit ihren Abgeordneten und teilen diesen ihre politischen Meinungen zu konkret anstehenden Entscheidungen mit.

  • Drittens gibt es nicht nur so gut wie immer einander widerstreitende Interessen, sondern auch die Prioritäten, die diesen jeweils zugemessen werden, überlagern sich vielfach und ändern sich zudem bei den Wählerinnen und Wählern im Laufe der Zeit.

  • Viertens ist in den parlamentarischen Parteiendemokratien Europas noch in starkem Maße die Vorstellung verbreitet, dass Repräsentation auch dem Gemeinwohl verpflichtet ist.

All dies erfordert von den Abgeordneten eigenständige Meinungsbildung und politische Führung in der Sache sowie kompromissorientiertes Verhandeln und Vermitteln. Pragmatisch verbinden sie deshalb die Rollen als Treuhänder und als Sendbote, handeln so, wie es oben für parlamentarische Funktionen dargelegt wurde: responsiv und politisch führend.

QuellentextEine typische Sitzungswoche

Mo / Di / Mi / Do / Fr / Sa / So
Die Zeiten sind lange vorbei, als ein Abgeordneter am Montagmorgen in den Zug steigen konnte, unterwegs die Zeitungen und Briefe aus dem Wahlkreis durcharbeitete und am Nachmittag in Bonn die Sitzungswoche mehr oder weniger gemächlich einläutete. Viele verabschieden sich heute bereits sonntags nach dem Kaffeetrinken von ihrer Familie und setzen sich in den Flieger. Und nicht wenige gehen am Abend noch einmal in ihr Büro, besonders wenn Termine schon am frühen Montagmorgen warten und noch ein wenig vorzubereiten sind. [...] Die Terminkalender der Abgeordneten sind derart aus den Nähten geplatzt, dass immer mehr Sitzungen von ihren "klassischen" Tageszuteilungen auf den Montag gelegt werden. [...]

Zu den festen Montagsterminen gehören die Sitzungen der Fraktionsvorstände. Sie bereiten die Abläufe der Woche vor, besprechen also beispielsweise die Punkte, die noch von den eigenen Fachleuten der Fraktion eingehender behandelt werden müssen. Auch strategische Angelegenheiten werden hier erörtert: Welches Thema kann im Laufe der Woche wichtig werden? Wie sollte es im Bundestag am besten aufgegriffen werden? Ist das ein Feld, auf dem man die Regierung oder die Opposition öffentlich "stellen" könnte? Und vor allem: Wo lauern in der schon besprochenen Themenabfolge in Ausschüssen und Plenum Fallstricke? Wo kann die eigene Fraktion besonders wirkungsvoll punkten?

Die Fraktionen sind auch operative Teile der Parteien im Parlament. Deshalb stehen die Fraktionsvorstandssitzungen am Montagnachmittag immer wieder auch unter dem Eindruck der Präsidiums- und Vorstandssitzungen der Bundesparteien, die zuvor am Montagmorgen in Berlin getagt haben. [...]
Zahlreiche Arbeitskreise, Arbeitsgruppen und Arbeitsgemeinschaften tagen schon am Montag, um die laufenden Gesetzesberatungen, den Stand von Initiativen und Antragsvorhaben durchzusprechen – und zwar jeweils fraktionsintern. [...] An anderer Stelle treffen sich auch montags bereits so genannte Berichterstatter aus den verschiedenen Fraktionen zum gemeinsamen Ausloten, wie die Einigungschancen bei einem Gesetzesvorhaben sind. [...]

Der Montag dient jedoch nicht nur dem internen In-Schwung-Bringen der Parlamentsabläufe. Er ist auch geschätzt als Möglichkeit, Parlament und Öffentlichkeit zu verknüpfen, ohne dass sich hinziehende Sitzungen alle Planungen über den Haufen werfen. Es geht vor allem um den Kontakt zwischen Fachpolitik und Fachöffentlichkeit. [...]

Mo / Di / Mi / Do / Fr / Sa / So
Der Dienstag ist der Hauptentscheidungstag im parlamentarischen Geschehen – auch wenn davon nach außen hin direkt wenig sichtbar wird. Denn der Dienstag dient der internen Meinungsfindung innerhalb der einzelnen Fraktionen. Das beginnt schon früh am Morgen. Denn alle Politikfelder, die in dieser Woche gefragt sind, müssen an diesem Tag beackert werden. [...] Ganz gleich, ob ein "kleines" oder "großes" Zuständigkeitsterrain zu überblicken ist – in allen Fraktionsgremien werden die anstehenden Fachberatungen detailliert vorberaten. [...]

Es geht über die Mittagszeit weiter mit Vorbesprechungen. Denn jede Fraktion ist im Grunde ein Parlament im Parlament: Jede Fraktion gliedert sich in Gruppen von Abgeordneten, die aus verschiedenen Regionen kommen, die politische Grundströmungen bevorzugen, die gemeinsame Anliegen quer zu den einzelnen Fachgebieten verfolgen. Und das alles wird in regelmäßigen Treffen im Auge behalten. [...]
Als zentraler Punkt der Sitzungswoche stellen sich dienstags am frühen Nachmittag die Fraktionssitzungen dar. Hier wird alles gebündelt, was in den vielen Dutzend anderen Fachgremien vorgeklärt worden ist. Hier geben die Vorsitzenden einen Überblick über die aktuelle Lage und erläutern die Strategie. Hier erläutern in den Regierungsfraktionen unter anderem auch der Bundeskanzler und seine Minister die Hintergründe und Zusammenhänge der jüngsten Initiativen. Und hier fallen die herausragenden Vorentscheidungen: Stimmt die Fraktion als Ganzes einem Gesetzesvorhaben zu? [...]
Die Fraktionssitzungen sind damit der Ort der Vorentscheidung. So wie die Mehrheitsfraktionen sich entscheiden, so soll es – von Korrekturen im Detail abgesehen – später auch Gesetz werden. Deshalb halten sich vor allem die Koalitionsfraktionen über den Stand ihrer internen Beratungen oft gegenseitig auf dem Laufenden. Und deshalb richtet sich auch das Interesse der Medien auf diese Sitzungen. [...]

Mo / Di / Mi / Do / Fr / Sa / So
Der Ausschusstag fängt früh an. Morgens um acht, spätestens um neun Uhr füllen sich Dutzende von Sitzungssälen mit Leben. [...] Damit sich die Regierungsmitglieder unbeschwert von möglichen Reaktionen in der deutschen und internationalen Öffentlichkeit umfassend informieren können, tagen die Ausschüsse in der Regel nicht öffentlich. [...]
Dagegen sind die Expertenanhörungen durch die Ausschüsse in der Regel öffentlich. So kann – etwa durch Übertragungen im Parlamentsfernsehen unter www.bundestag.de – dem Eindruck entgegengetreten werden, dass das Wirken des Bundestages sich im Wesentlichen auf die Reden im Plenum beschränkt. [...]

Zwischen, vor und nach den Ausschusssitzungen nutzen weitere Gremien die verbleibende Zeit, um in ihrer Arbeit weiterzukommen. So etwa die Parlamentariergruppen, die sich für einzelne Länder oder Regionen auf der Welt intensiver interessieren und den Kontakt zu den dortigen Parlamentskollegen und Regierungsvertretern pflegen.
Der Mittwoch ist zudem regelmäßig der erste Plenarsitzungstag der Woche. Es geht los mit der Regierungsbefragung im Anschluss an die Kabinettsitzung. Ein oder mehrere Bundesminister oder Staatssekretäre unterrichten das Hohe Haus am Mittag über die Beschlüsse, die von der Bundesregierung am Vormittag getroffen worden sind. Dabei können die Abgeordneten auch gezielt nachfragen – deshalb die Bezeichnung "Regierungsbefragung".

Es folgt zumeist die Fragestunde, bei der schriftliche Anfragen der Abgeordneten von Regierungsvertretern beantwortet werden und ebenfalls Nachfragen möglich sind – für rund zwei Stunden. An jedem Sitzungstag gibt es sodann die Möglichkeit, eine Aktuelle Stunde in den Sitzungsablauf einzubauen und die ersten regulären Tagesordnungspunkte aufzurufen, also gewissermaßen das Routine-Geschäft der öffentlichen Debatten zu starten.
Einen der Schlusspunkte des Tages setzen die Obleute, also die für jedes Arbeitsgebiet von den Fraktionen benannten Verantwortlichen, die untereinander besprechen, wie weit Gesetzesvorhaben gediehen sind. [...]

Mo / Di / Mi / Do / Fr / Sa / So
Ganz im Zeichen des Plenums steht in Sitzungswochen der Donnerstag. In der Frühe gibt es noch die Gelegenheit zu einer Morgenandacht, dann eröffnet der Bundestagspräsident oder einer seiner Stellvertreterinnen und Stellvertreter um Punkt neun Uhr die Plenarsitzung. In der Regel wird sie frühestens zwölf Stunden später wieder geschlossen, häufig genug aber erst nach 14 oder gar 16 Stunden. [...]
Es gibt donnerstags von 9 bis 14 Uhr zunächst die so genannte Kernzeit. Dafür werden Themen vorgesehen, die von breitem öffentlichem Interesse sind und die deshalb auch vor vielen Abgeordneten behandelt werden sollen. [...]

Der Ältestenrat nutzt die frühen Nachmittagsstunden, um über die Themen der folgenden Sitzungswoche zu beraten, Parlamentariergruppen stimmen sich ab, und immer wieder treffen Abgeordnete auch mit Besuchergruppen aus ihren Wahlkreisen zusammen. Nur Ausschusssitzungen dürfen an Donnerstagen gewöhnlich nicht stattfinden, um Kollisionen mit dem Plenargeschehen von vornherein zu vermeiden. [...]
Die Redebeiträge werden grundsätzlich so platziert, dass möglichst Regierung und Opposition im Wechsel zu Wort kommen. Die Großen mehr, die Kleinen weniger. Dafür gibt es die "Berliner Stunde" […]; dabei werden die Reden der Bundes- und Landesminister ihren Bundestagsparteien zumeist zugerechnet. [...]

Mo / Di / Mi / Do / Fr / Sa / So
Freitagmorgen – Moment der Vorfreude. Viele Abgeordnete freuen sich, heute nach fünf langen Tagen ihre Familie wiedersehen zu können.
Mancher rollt den Koffer mit ins Reichstagsgebäude, um von der Sitzung schnell aufbrechen und den gebuchten Flieger kriegen zu können. Denn auch im Heimatwahlkreis ist der Freitag traditioneller Sitzungstag – örtliche Stadt- oder Kreisparteitage erwarten die Anwesenheit und aktuelle Vorträge von "ihrer" Frau oder "ihrem" Mann in Berlin. Doch davor steht noch einmal ein Sitzungstag mit einigen zeitlichen Unwägbarkeiten. [...]

Stellt die Länderkammer dann die Gesetzesampel erst einmal auf Rot, gibt es die Möglichkeit, im Vermittlungsausschuss mit Vertretern aus Bundestag und Bundesrat zu einem Kompromiss zu kommen, mit dem beide Seiten leben können. Dann muss das Ergebnis des Vermittlungsausschusses erst ein weiteres Mal durch beide Kammern. Oft am Freitag, weil der Vermittlungsausschuss häufig am Mittwoch bis in die späten Abendstunden tagt.
Ist hingegen nur die Beteiligung des Bundesrates notwendig und reagiert dieser nach Anrufung des Vermittlungsausschusses mit einem Einspruch, so kann diese Hürde durch erneute Abstimmung im Bundestag beiseite geräumt werden. Allerdings ist zum Zurückweisen dieses Einspruchs eine Mehrheit der Mitglieder des Bundestages notwendig. Die Mehrheit der anwesenden Abgeordneten reicht nicht. Und das bedeutet, dass angesichts der knappen Stimmenverhältnisse auch am Freitag häufig die vollständige Präsenz im Regierungslager erreicht werden muss. [...]

Mo / Di / Mi / Do / Fr / Sa / So
Wer Volksvertreter ist, der ist es rund um die Uhr. Auch am Wochenende. [...] Denn hier ist die Gelegenheit der direkten Begegnung, die Verpflichtung zu ständiger Rechenschaft. Was für andere pures Vergnügen ist, kommt beim Abgeordneten in den offiziellen Terminkalender.
[...] Wer nach der Wahl zu seinen Wählern auf Distanz geht, hat kaum Chancen auf eine Wiederwahl oder darauf, von den örtlichen Parteigremien nach vier Jahren wieder aufgestellt zu werden.
Besonders zwischen zwei Sitzungswochen bildet das Wochenende auch die einzige Möglichkeit, die während des Aufenthaltes in Berlin angefallenen Dinge im Wahlkreisbüro zu erledigen. [...] Zudem haben die Abgeordneten bereits auf dem Weg ins Parlament oft in der Region Verantwortung für ihre Partei übernommen, sind Mitglieder im Orts- oder Kreisvorstand oder sogar Vorsitzende dieser Gremien. Da ist es ganz besonders wichtig, die örtlichen Parteiangelegenheiten durch Treffen mit Kolleginnen und Kollegen aus Orts- und Kreisparteivorständen in der Hand zu behalten. [...]

Regelmäßig ist das Wochenende auch willkommene Gelegenheit, Initiativen zu mehr öffentlicher Wirksamkeit zu verhelfen, die unter der Woche in der Fülle der Themen untergegangen sind. Für Interviews und Hinweise am Samstag oder Sonntag sind die Medien in nachrichtenarmen Zeiten besonders dankbar. Und so können Abgeordnete die nächste Sitzungswoche auch schon publizistisch vorbereiten und selbst aus der zweiten oder dritten Reihe heraus neue Themen setzen – und so vielleicht den Boden für Ideen bereiten, die dann auch in den eigenen Reihen in der folgenden Sitzungswoche größere Chancen haben.

Gregor Mayntz, "Eine lange Woche mit langen Tagen", in: Blickpunkt Bundestag Nr. 5 vom Juli 2004, S. 19–30 f.

Die Beziehung der Abgeordneten zu Fraktion und Partei
Politische Sozialisation: Ebenso pragmatisch wie ihre Beziehung zur Wählerschaft verstehen die Bundestagsmitglieder die Einbindung in ihre politische Gruppe, die Fraktion. Lange bevor sie Abgeordnete wurden, haben sie sich auf der Basis politischer Grundüberzeugungen einer Partei angeschlossen, haben dort Erfahrungen gesammelt und in der Regel etliche Positionen und Ämter bekleidet. Sie haben damit selbst die Politik dieser Partei geprägt und ihre Programmatik beeinflusst. Dies endet keinesfalls mit der Mandatsübernahme, denn die enge Verbindung zur Basis von Partei und Wählerschaft ist für die Repräsentationsaufgabe der MdBs ebenso unverzichtbar wie für ihre Wiederwahl.

So ist für die 1990er-Jahre ermittelt worden, dass 35 Prozent der deutschen Bundes- und Landesparlamentarier Vorstandsfunktionen auf Ortsebene wahrnahmen (darunter 16 Prozent als Vorsitzende), 60 Prozent Vorstandsfunktionen auf Kreis- bzw. Unterbezirksebene erfüllten (darunter 22 Prozent als Vorsitzende), 26 Prozent Vorstandsfunktionen auf Bezirksebene (darunter vier Prozent als Vorsitzende) und 24 Prozent Vorstandsfunktionen auf Landesebene innehatten. Lediglich 13 Prozent der Bundes- und Landesparlamentarier bekleideten keine Führungsämter in ihrer Partei, und nur ein verschwindend kleiner Anteil von zwei Prozent war ohne jegliche Parteifunktionen. Eine Umfrage von 2016/2017 unter knapp einem Viertel der Bundestagsabgeordneten ergab ähnliche Werte (Positionen auf Ortsebene: 25,9 Prozent, im Kreis/Unterbezirk: 46,8 Prozent, im Bezirk: 20,1 Prozent, auf Landesebene: 25,1 Prozent).

Diese Herkunft und Vernetzung der Abgeordneten bewirken, dass sie sich in ihrer Fraktion grundsätzlich politisch "zuhause" fühlen und wie ihre Fraktionskollegen überzeugt sind, bessere Problemlösungen und Politikkonzepte als andere anbieten zu können.

Bemühung um Geschlossenheit: Vor allem wegen dieser Überzeugung gibt es die Übereinstimmung in dem Ziel, entweder die Regierungsmehrheit zu erhalten oder aus der Opposition heraus zu erringen, denn es ist für die Gruppe wie für den einzelnen Abgeordneten erstrebenswerter, die Macht zur Gestaltung, möglicherweise sogar ein hervorgehobenes Amt dafür zu besitzen als die harten Bänke der in diesem Punkt machtlosen Opposition zu drücken. Auf diesen Zusammenhängen, die letztlich der Logik der parlamentarischen Parteiendemokratie entspringen, beruht die Geschlossenheit des Redens und Handelns der Fraktion. Diese Geschlossenheit entscheidet über Erfolg oder Misserfolg, schon weil ihr Fehlen von der Öffentlichkeit als Zeichen der Schwäche gedeutet wird und die parlaments- oder koalitionsinterne Verhandlungsposition einer Fraktion beeinträchtigt.

Vorteile der Arbeitsteilung: In der Alltagsarbeit erkennen die Abgeordneten zudem schnell, dass sie Wirkung nur gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen erzielen können, mehr noch: Dass sie nur dann ihr Mandat verantwortungsvoll ausüben können, wenn sie sich der Arbeitsteilung in der Fraktion stellen und sich diese zunutze machen. Als Repräsentanten nicht nur "der eigenen" Wählerschaft, sondern auch der gesamten Bevölkerung vertreten sie gleichzeitig Individual-, Gruppen- und Gemeinwohlinteressen, müssen zu einer Fülle von Themen Position beziehen und an einer Vielzahl von Regelungen mitwirken.

Dies ist leichter möglich, wenn der Abgeordnete sich auf die jeweilige Spezialisierung, die "Zuständigkeit" seiner Kolleginnen und Kollegen ebenso verlassen kann, wie diese auf seine bauen werden. Damit geht er – so der Rechtswissenschaftler Horst Sendler – ein "Geschäft auf Gegenseitigkeit" ein. Und diese Gegenseitigkeit funktioniert auf Dauer nur, wenn die damit einhergehenden gegenseitigen Erwartungen auch erfüllt werden: Jeder versucht um des gemeinsamen Erfolges wie seiner eigenen Profilierung willen, seinen Kolleginnen und Kollegen überzeugende Lösungen auf seinem Sachgebiet zu unterbreiten.

Auch wird man der eigenen Gruppe nicht schaden wollen, indem man – leichtfertig oder aus egoistischen Motiven – die gemeinsam gefundene Linie verlässt. Sollte dies aus guten Gründen und nach reiflicher Abwägung doch einmal nötig werden, verhält man sich in der Form loyal, das heißt, die beabsichtigte "Abweichung" wird den Kollegen vorher angekündigt und begründet.

Fraktionsdisziplin: Demokratische Politik ist ein "Mannschaftsspiel", und damit das "Mannschaftsziel" erreicht wird, braucht es im Regelfall keinen "Druck von oben", höchstens gelegentlich die Erinnerung oder den Ansporn durch die Teamkollegen oder den Trainer. "Fraktionszwang" ist also der falsche Begriff, um den Grund für die Einigkeit der politischen Mannschaften im Bundestag zu beschreiben. Es handelt sich um das Interesse, die selbst gesteckten Ziele zu erreichen, um die Einsicht, dass dies nur zusammen möglich ist, um gegenseitige Loyalität und das Einhalten gemeinsam ausgeprägter Gruppennormen. Dies ist nicht ohne Kosten, Konflikte und Kompromisse zu erlangen. Innerfraktionelle Einigkeit steht also jeweils am Ende eines Prozesses, der allerlei – keinesfalls immer einfache – Abwägungen von den einzelnen Abgeordneten verlangt. Dies ist kein Zwang, sondern selbst auferlegte und den Mitstreitern ebenso abverlangte Disziplin – "Fraktionsdisziplin".

Unter Berücksichtigung dieser Anforderungen und Verhaltensmuster, die aus den politischen Strukturen der parlamentarischen Demokratie erwachsen, wird verständlich, warum die Bundestagsmitglieder Regeln, die ihre Rechte als Einzelne einschränken, schufen bzw. ihnen einhellig zustimmten. Die überwiegende Orientierung der Abgeordneten an effizienter Arbeit, an parlamentarischer Mitgestaltung und aktiver Teilhabe am Gesetzgebungsprozess begünstigte diese Entwicklung. Die Parlamentarier wollen nicht (nur) die typischen Rollen der Abgeordneten von Mehrheit und Opposition im Redeparlament einnehmen und die Politik der Regierung nach außen darstellen, verteidigen oder kritisieren, sondern sachkundig mitentscheiden. Auch deshalb fügen sie sich in die Funktionsmechanismen des vom Politikwissenschaftler Uwe Thaysen so genannten "Fraktionenparlaments" ein.

Dementsprechend hat der Bundestag im Laufe der Jahrzehnte Änderungen seiner Geschäftsordnung zumeist einstimmig beschlossen, haben seine Mitglieder Fraktionsstatuten erlassen, die zum Zwecke reibungsloser und effizienter Geschäftsabläufe die meisten Abgeordnetenrechte zu Kollektivrechten ausgestalten oder Individualrechte zugunsten der Fraktion und ihrer Funktionstüchtigkeit einschränken.

Antragsrechte, die für den Gesetzgebungsprozess relevant sind, sind so fast vollständig auf die Fraktion bzw. auf Abgeordnetengruppen in Fraktionsmindeststärke übergegangen. Anders als in den meisten anderen europäischen Ländern hat das einzelne Bundestagsmitglied nicht das Initiativrecht, darf also nicht allein einen Gesetzentwurf ins Parlament einbringen. Erst in der zweiten Lesung eines Gesetzentwurfs kann jeder bzw. jede Abgeordnete Änderungen beantragen. Solche Anträge müssen allerdings in der Regel zuvor dem Fraktionsvorstand vorgelegt werden.

Bei den Fragerechten sind (im Abschnitt über die Kontrollfunktion näher erläuterte) Große und Kleine Anfragen den Fraktionen bzw. Abgeordnetengruppen in Fraktionsmindeststärke vorbehalten. Jedes Bundestagsmitglied kann aber "kurze Einzelfragen" (§105 GO-BT) einreichen, die in der jede Sitzungswoche stattfindenden Fragestunde mündlich oder schriftlich vom fachlich jeweils zuständigen Minister beantwortet werden müssen. Dies wird ebenfalls innerfraktionell durch eine Art Vorprüfung koordiniert: Parlamentarische Geschäftsführer bringen die Fragen der Abgeordneten untereinander und mit anderen Vorhaben der Gesamtfraktion in Einklang, bitten den Antragsteller gelegentlich auch um Änderung oder Zurückstellung. Wie schon dargestellt, liegt zudem die Ausschussbesetzung in den Händen der Fraktionen.

Rede- und Stimmrecht schließlich sind unentziehbare Bestandteile des Abgeordnetenstatus. Aber auch diese bleiben nicht ohne Regelung und Kanalisierung seitens der Fraktionen: Die Dauer der Plenardebatten und die Aufteilung der Redezeit auf die Fraktionen werden im Ältestenrat, vor allem durch die dort versammelten Parlamentarischen Geschäftsführer, vereinbart; die Rednerinnen und Redner für die von Fachthemen geprägten Plenarsitzungen werden fraktionsintern aus den Mitgliedern der thematisch befassten Arbeitsgruppen bzw. Arbeitskreise ausgewählt.

Steuerungsrolle der Fraktionsführung: Bei politisch brisanten und polarisierten Debatten trifft die Fraktionsführung die Entscheidung über die Rednerliste. Mehr oder weniger explizit werden die Redner dazu verpflichtet, die Meinung der Fraktion, also bei intern kontrovers gebliebenen Fragen jene der Fraktionsmehrheit, darzustellen. Wollen sie darüber hinausgehen oder davon abweichen, sind sie gehalten, dies, wie die Geschäftsordnung der SPD-Bundestagsfraktion beispielhaft formuliert, "der Fraktion rechtzeitig mitzuteilen und mit dem Fraktionsvorstand zu besprechen".

Letzteres gilt auch für die Abstimmungen im Plenum. Beabsichtigt ein Abgeordneter, von der in der Fraktionsversammlung vereinbarten Linie abzuweichen, muss er dies dort oder gegenüber dem Fraktionsvorstand mitteilen. Bei knappen Mehrheitsverhältnissen wird die regierungstragende Fraktion bzw. Koalition das Risiko einer Niederlage vermeiden wollen. Deshalb muss sie versuchen, die Kolleginnen oder Kollegen, die abweichende Meinungen vertreten, zu überzeugen.

Gelingt dies nicht, wird sie Veränderungen an Inhalten oder Verfahren des jeweiligen Vorhabens erwägen oder es gar vertagen. Aber auch bei soliden Mehrheiten und für die Opposition gilt, dass möglichst alles vermieden wird, um ein Auseinanderfallen der Fraktion über Sachfragen öffentlich deutlich werden zu lassen. Daher ist es durchaus gängig, Abgeordneten, die etwa wegen spezifischer Wahlkreis- oder Gruppeninteressen nicht mit ihrer Fraktion stimmen wollen, das Fernbleiben von der Abstimmung zu ermöglichen. Die solchermaßen straff durchgeplanten Debatten und Abstimmungen sind weitere Indizien für die überwiegende Orientierung der Abgeordneten an Effizienz und Reibungslosigkeit. Aber nicht nur insofern ist der Bundestag ein professionelles Parlament geworden.

Berufsstruktur der Abgeordneten
Schon 1988 belegten Untersuchungen einen gestiegenen Bildungsgrad des Bundestages: Hatten Anfang der 1950er-Jahre 40 Prozent der MdBs über die Hochschulreife verfügt, war dieser Anteil 30 Jahre später auf zwei Drittel gestiegen und erreichte seit den 1990er-Jahren fast drei Viertel. Knapp 80 Prozent der Abgeordneten des 19. Bundestages gaben an, einen Abschluss an einer Universität, einer Fachhochschule oder Pädagogischen Hochschule gemacht zu haben. Die immer komplexeren Materien, die in einer zunehmend ausdifferenzierten, mehr Transparenz und politische Mitwirkung fordernden Gesellschaft bearbeitet werden müssen, spiegeln sich wider in der Zusammensetzung der Parlamente. Offenbar können auf der politischen Bühne heute fast nur noch Menschen Erfolg haben, die über gehobene Kenntnisse und Fähigkeiten verfügen.

QuellentextZusammensetzung der politischen Elite

Die folgenden Ausführungen […] unterscheiden eine politische Elite im engeren Sinne (etwa Kabinettsmitglieder, Parlamentarische Staatssekretäre, Fraktionsvorsitzende, Vorsitzende von Parlamentsausschüssen und Parteivorsitzende auf Bundes- wie Landesebene) von einer administrativen Elite (Staatssekretäre, Abteilungsleiter in Ministerien ect.), einer Gewerkschafts- (Vorsitzende auf Bundes- und Landesebene), Medien-, Wirtschafts-, Kulturelite u. a. m. [...]

Man kann die hauptsächlich von der Politik lebenden Personen als "politische Klasse" bezeichnen […]. […] Wie auch immer "politische Klasse" [so auch nach Hans Herbert von Arnim Abgeordnete, Regierungsmitglieder, Politische Beamte, kommunale Wahlbeamte, Bundesverfassungsrichter, Mitarbeiter der Fraktionen, Abgeordneten und parteinahen Stiftungen] abgegrenzt wird – deren Mehrheit gehört sicherlich nicht zur einflussreichen politischen Elite. Sie arbeitet dieser jedoch zu, kommuniziert mit ihr und fungiert als Rekrutierungsreservoir für sie. Mutterboden und Handlungsraum der politischen Elite, so ließe sich ihre Rolle umreißen. [...]

Steigt man auf das Oberdeck der eigentlichen politischen Elite, so wiesen Untersuchungen über Jahrzehnte hinweg nach, dass die politische Elite überwiegend aus der Mittelschicht bzw. "kleinbürgerlichen Verhältnissen" stammte – anders als alle anderen Teileliten (außer der gewerkschaftlichen), deren Herkunft stärker von Oberschicht/oberer Mittelschicht bzw. Bürgertum geprägt war. Politische und wirtschaftliche Elite der Bundesrepublik wiesen somit "eine höchst unterschiedliche soziale Rekrutierung" auf. Deutschland war anders als Großbritannien, Frankreich oder Spanien, wo die Teileliten einen gemeinsamen bürgerlichen Hintergrund haben. Ihm fehlen auch die "ausgesprochenen Elitebildungseinrichtungen", wie sie in anderen führenden westlichen Industrieländern bestehen (z. B. die Grandes Écoles in Frankreich, Eliteuniversitäten in den USA und Großbritannien) und dort ein kohärentes Establishment mit gemeinsamem sozialen Hintergrund, Habitus und Einstellungen hervorbringen. Für die alte Bundesrepublik hingegen waren segregierte Teileliten charakteristisch.

Betrachtet man die heutigen Eliten anhand ihrer Väterberufe […], so erscheint jene Mittelschichtthese für die politische Elite nicht mehr überzeugend. Jedenfalls liefert das Bürgertum den relativ größten Anteil Spitzenpolitiker. Innerhalb der politischen Elite lässt sich zudem eine stärker bürgerliche Herkunft der Regierungsmitglieder im Vergleich zu den Angehörigen von Partei- und Parlamentsspitzen ausmachen. Ein analoger Wandel wird für die Regierungschefs der deutschen Länder und die Parteispitzen von SPD und CDU/CSU behauptet.

Aufgrund dessen konstatiert der Elitensoziologe Michael Hartmann, es vollziehe sich in den letzten Jahrzehnten in Deutschland und Italien eine "Verbürgerlichung der politischen Eliten". Diese erkläre sich aus der Mitgliederschrumpfung der Volksparteien und aus veränderten Karrierewegen fort von der innerparteilichen "Ochsentour". Trifft dies zu, so ist eine tiefgreifende Veränderung, eine Annäherung an anglofranzösische Establishmentstrukturen festzustellen. [...]

Die politische Elite weist mit fast 90 Prozent Hochschulabsolventen einen ähnlich hohen Bildungsgrad wie die meisten anderen Teileliten auf. [...]
Vergleicht man die politische Elite Deutschlands mit der außereuropäischer Demokratien […], so fällt zweierlei ins Auge: der hohe Juristenanteil bei den engeren Spitzen der Politik auch in anderen Ländern einerseits und der in Deutschland geringere Anteil der Oberschicht-Abkömmlinge andererseits. Manche Ausführungen zu Verbürgerlichung und zum Juristen-Anteil bei der deutschen politischen Elite relativieren sich daher. [...]

Angesichts dessen, dass […] die soziale und demographische Zusammensetzung der politischen Elite und der Parlamentarier ganz erheblich von der der Bürger abweicht, stellt sich die Frage, ob dies nicht einen Mangel der bundesdeutschen Demokratie darstellt. In der Tat mag es zutreffen, dass die Zusammensetzung den Stil der Politik prägt und emotionale Identifikationen für unterrepräsentierte Bevölkerungsgruppen erschwert. Repräsentationsdefizite haben aber nicht zwangsläufig zur Folge, dass auch die Interessen unterrepräsentierter Gruppen zu kurz kommen. Der Berufspolitiker fungiert zumeist nicht als Vertreter seiner sozialen Herkunftsgruppe. [...]

Welche Prägungen erfahren diejenigen, die das Land politisch führen werden? Bedeutsam für Eliteneinstellungen scheint der Sozialisationsfaktor "Elternhaus". Dies gilt bereits für den Eintritt in die Politik, kamen doch nach der Elitenuntersuchung von 1972 nicht weniger als 71 % der Angehörigen der politischen Elite aus politisch engagierten Elternhäusern, die nur 23 % der Bevölkerung ausmachten. Ebenso sprechen auch Übereinstimmungen mit den politischen Orientierungen der Eltern für eine Tradierung politischer Grundeinstellungen. Gegenwärtig geben 71,5 % aller Eliteangehörigen (wohl mehr noch der politischen Elite) an, dass politische Diskussionen in ihrem Elternhaus eine große Rolle spielten.

Hinzu kommen dann prägende eigene Erfahrungen. Vor allem während der langen, im frühen Erwachsenenalter beginnenden und von politischer Kommunikation erfüllten Karrierewege, die vor dem Aufstieg zur politischen Spitze zu bewältigen sind, formen sich Einstellungen weiter. Der Meinungsaustausch im Sondermilieu einer politischen Partei dürfte im Sinne parteipolitischer Integration wirken, die demokratische Selektion mag darüber hinaus auch "überaus anpassungsfähige und flexible Menschen" produzieren bzw. an die Spitze befördern. Freundlicher formuliert, Menschen, die gelernt haben, mit unterschiedlichen Interessen umzugehen und mehrheitsgetragene Entscheidungen zu suchen.

Schon ältere Studien ergaben, dass Neuparlamentarier eine Sozialisation in eine parlamentarische "Subkultur" durchmachen. In signifikanter Weise nämlich vollzogen sich binnen dreijähriger Bundestagserfahrung Einstellungsveränderungen: so u. a. zur Notwendigkeit öffentlicher Ausschusssitzungen, zum Einfluss der Ministerialbürokratie, zur Informiertheit der Presse, zu Reformblockierungen durch Interessengruppen, zur Wünschbarkeit von Volksentscheiden und zum Vorhandensein von Klassenunterschieden – Vorstellungen, die nach Ablauf einer Legislaturperiode allesamt sehr viel weniger häufig als bei Eintritt ins Parlament geteilt wurden.
Ähnliche Einstellungswandel kann man auch in neuerer Zeit erkennen. [...]

Wolfgang Rudzio, Das politische System der Bundesrepublik Deutschland, 10., aktual. u. erw. Aufl., © Springer VS, Wiesbaden 2019, S. 442 ff.

Ein entsprechendes Profil weist auch die Berufsstruktur des Bundestages auf. Diesen Daten zufolge ist das Urteil, der Bundestag sei ein "Beamtenparlament", auf den ersten Blick durchaus zutreffend, denn diese Berufsgruppe ist mit 23,6 Prozent die stärkste im 19. Bundestag. Die Schlussfolgerung, dem Bundestag sei die gemeinhin unterstellte Unbeweglichkeit zu eigen, er sei zu bürokratisch und wahre besonders die Interessen dieser Statusgruppe, erweist sich bei genauerem Hinsehen allerdings als fragwürdig.

Berufsstatistik der 19. Wahlperiode nach Fraktionszugehörigkeit (Interner Link: Tabelle als PDF öffnen) (© Melanie Kintz / Malte Cordes, Daten zur Berufsstruktur des Deutschen Bundestages in der 19. Wahlperiode, in: ZParl, 50. Jg. (2019), H. 1, S. 42–58, S. 49 ff.)

Die Gruppe der Beamten umfasst nämlich eine große Bandbreite an Berufen und Tätigkeitsfeldern. Nur 30 Prozent von ihnen sind in der klassischen Verwaltung tätig. Weitere 23 Prozent üben kommunale Wahlämter aus, sind also zwar in einer Verwaltung beschäftigt, haben aber nicht die typische Laufbahn absolviert. Außerdem gibt es 15 Prozent Lehrkräfte aus dem schulischen Bereich und gut 18 Prozent Professoren und Wissenschaftler. Hinzu kommen Richter, Staatsanwälte und Politische Beamte.

Diese Tätigkeiten sind bei Weitem zu unterschiedlich, um sie über einen Kamm scheren und daraus Rückschlüsse auf Kompetenz und Leistungsfähigkeit des Parlaments ziehen zu können. Dem Vorwurf, der Bundestag wahre vorrangig die Beamteninteressen, lässt sich aus der Langzeitbeobachtung entgegenhalten, dass das politische Entscheidungsverhalten der Abgeordneten von ihrer Fraktionszugehörigkeit, nicht ihrer sozialstrukturellen Herkunft geprägt wird. Koalitionen aller Beamten über die Fraktionsgrenzen hinweg hat es noch nie gegeben – nicht einmal, wenn es um ihre Statusrechte ging. Dagegen ist es eher vorteilhaft für die Tätigkeit im Parlament, dass sich Abgeordnete im Beamtenstatus wegen der Möglichkeit ihrer Rückkehr in den zuvor ausgeübten Beruf besonderer existenzieller Unabhängigkeit erfreuen.

Weibliche Abgeordnete zu Beginn der WP (© bpb, Quelle s. Bild)

QuellentextFrauen im Deutschen Bundestag

Das in den 1960er-Jahren einsetzende Umdenken in der Gesellschaft hinsichtlich der Rolle der Frauen – verstärkt durch die Neuen Sozialen Bewegungen der 1970er-Jahre – führte auch zu einer drastischen Steigerung des Anteils weiblicher Abgeordneter im Bundestag. Zunächst lebten die Grünen die Praxis gleicher politischer Teilhabe von Frauen vor, indem sie mittels Quotierung gleich bei ihrem ersten Einzug in den Bundestag 1983 mit 35,7 Prozent Frauen in ihren Reihen aufwarteten – zum Vergleich die anderen Fraktionen in der 10. Wahlperiode: CDU/CSU – 6,7 Prozent, SPD – 10,4 Prozent, FDP – 8,6 Prozent. Es dauerte nicht lange, bis die Grünen – mit über der Hälfte weiblicher Abgeordneter im 11. Bundestag – die anderen Parteien unter erheblichen Zugzwang brachten. Per Quote steigerte die SPD ihren Frauenanteil in der Bundestagsfraktion sukzessive auf knapp 42 Prozent im 19. Bundestag; CDU, CSU und FDP konnten sich zwar innerparteilich nicht auf Quoten einigen, rekrutierten in der Folgezeit aber auch mehr Frauen, die zu Beginn der 19. WP 2017 in der Unionsfraktion knapp 20 Prozent, in der FDP knapp 23 Prozent ausmachen. Die PDS bzw. Linke war seit 1990, sofern sie eine Gruppe oder Fraktion bilden konnte, mit 43 bis 59 Prozent Frauen im Bundestag vertreten (aktuell: 54 Prozent). Die Grünen sind mit 39 Frauen unter 67 Abgeordneten (58 Prozent) Spitzenreiter. Weit abgeschlagen landet die AfD mit nicht einmal elf Prozent.

Im europäischen Vergleich liegt der Bundestag heute mit einem knappen Drittel weiblicher Abgeordneter im mittleren Bereich. Insbesondere die skandinavischen Staaten weisen traditionell sehr hohe Frauenanteile auf; Anfang 2018 betrugen diese zwischen 37,4 und 43,5 Prozent. Auch Spanien (39,1), Frankreich (39,0), Belgien (38,0), Slowenien (36,7) und die Niederlande (36,0 Prozent) weisen vergleichsweise hohe Werte auf. Erst auf Platz 13 der EU-Länder rangiert Deutschland mit aktuell 30,7 Prozent Frauen im Bundestag. Die meisten süd- und osteuropäischen Länder kommen auf 10 bis 20 Prozent Frauenanteil in ihren Parlamenten, und die USA nehmen im internationalen Vergleich mit 19,4 Prozent nur Rang 100 ein. Die Tatsache, dass Ruanda den Spitzenplatz innehat und Costa Rica Nummer drei ist, verweist aber auch darauf, solche Daten nur nach Kenntnis weiterer Details des jeweiligen politischen Systems, der gesellschaftlichen Situation und der Politischen Kultur zu interpretieren.

Suzanne S. Schüttemeyer

Insgesamt lässt sich sagen, dass Angehörige politiknaher Berufe auffällig stark im Bundestag vertreten sind. Personen, die gelernt haben, Zusammenhänge darzustellen und zu vermitteln, die kommunizieren können, mit Gesetzen und deren Anwendung zu tun haben – sie sind es, die besonders leicht den Weg in die Politik finden und den Anforderungen derer entsprechen, die Kandidaten in den Parteien aussuchen und aufstellen. Es sollen Menschen sein, deren Talente, Fähigkeiten und Persönlichkeit die Wählerschaft und die Parteien erwarten lassen, dass sie die im Parlament gestellten Aufgaben gut und erfolgreich erfüllen können.

Professionalisierung
Diese funktionale Ausrichtung der Abgeordnetenauslese zusammen mit den oben skizzierten Arbeitsstrukturen des Bundestages und den Orientierungen seiner Mitglieder sind wesentliche Ursachen für die Professionalisierung des Parlaments. Hinzu kommt der Aspekt der Mandatsdauer: Zweieinhalb Wahlperioden verbleiben die Abgeordneten durchschnittlich im Bundestag. Zu Beginn der 19. Wahlperiode, also 2017/2018, gehörten ihm fast zehn Prozent der MdBs schon 20 Jahre und länger an; 55 (7,6 Prozent) sind bereits zum fünften Mal, 53 (7,5 Prozent) zum vierten Mal MdB.

Das Ideal der Spiegelbildlichkeit: Trotz der unübersehbaren Professionalisierung der Parlamente – und auch entsprechender Anforderungen der Bürgerinnen und Bürger an deren Leistungsfähigkeit – ist die Spiegelbildlichkeit von sozialer Zusammensetzung der Bevölkerung und ihrer politischen Vertretung eine zählebige Wunschvorstellung der öffentlichen Meinung in allen westlichen Demokratien.
Ohne Zweifel fühlen sich die Angehörigen einer Gruppe grundsätzlich mit ihren Interessen am besten aufgehoben, wenn einer oder eine der Ihren sie bei Entscheidungen vertreten kann. Doch die Menschen in modernen Gesellschaften werden nicht nur von einem alleinigen Interesse geleitet, gehören nicht nur zu einer einzigen Gruppe.

Früher entschied in allererster Linie die Herkunft, etwa aus einer Arbeiterfamilie oder aus dem katholischen Milieu, über die sozialen und ökonomischen Lebenschancen eines Individuums und prägte damit seine grundlegenden wie meist auch tagespolitischen Ansichten. Heute sind die Individuen geleitet von mannigfaltigen Interessen, deren Wertigkeit sich über die Jahre und Lebensstationen verändern kann und die zuweilen in Widerspruch zueinander stehen, ausgeglichen oder in eine Prioritätenfolge gebracht werden müssen.

Eine Frau mittleren Alters mit halbwüchsigen Kindern, die sich zum Wiedereinstieg ins Berufsleben entscheidet, gar eine kleine Firma zu gründen beabsichtigt, kirchengebunden ist und sich um die Qualität der Umwelt für die nächste Generation wie um ihre eigene Rente sorgt – welches ist ihre Gruppe, wer ist die Person, von der sie sich am liebsten bei politischen Entscheidungen vertreten sähe? Mit anderen Worten: Welches ist das Bild, das im Parlament zu spiegeln wäre?

Soziale Repräsentativität ist also nur um den Preis völlig unangemessener Vereinfachungen zu erreichen. Entsprechende Vorstellungen vernachlässigen zudem, dass das Parlament den Ausgleich von Interessen zu leisten hat. Verstünden sich seine Mitglieder lediglich als Sendboten ihrer jeweiligen sozialen Gruppe, würden Verhandlungen und Kompromisse schwierig, und das Gemeinwohl geriete aus dem Blick.
Normativ angemessener und empirisch erfolgversprechender ist folgende Konstellation: Die Repräsentanten sind mit den Lebensbedingungen, den Interessen und Positionen der Bürgerinnen und Bürger vertraut, sei es durch ihre eigene Herkunft, sei es durch enge Kontakte und ständige Kommunikation. Mit ihren Kenntnissen, Fähigkeiten und Erfahrungen im politisch-parlamentarischen Betrieb treffen sie die Entscheidungen durch Konflikt, Verhandeln und Kompromiss. Dafür sind sie den Repräsentierten rechenschaftspflichtig und von ihnen abwählbar.

QuellentextDie Arbeit im Wahlkreis – Voraussetzung für Repräsentation

Die wichtigsten Elemente der Wahlkreisarbeit aus Sicht der Abgeordneten (© Quelle: CITREP.)

Im Mittelpunkt der öffentlichen Wahrnehmung stehen meist die sehr repräsentativen Tätigkeiten von Abgeordneten: Reden im Parlament, Vorfahrten mit großen Dienstlimousinen, lange Ausschusssitzungen, internationale Kontakte, Interviews in den Medien. Doch die Tätigkeit im und um den Sitz des Bundestages im Berliner Regierungsviertel ist nur die eine Seite des Daseins als Parlamentarier. Mindestens ebenso wichtig ist die vielfältige Aufgabenwahrnehmung in den Wahlkreisen "zu Hause". Schätzungen ergaben, dass Abgeordnete dort rund 40 Prozent ihrer Arbeitszeit verbringen. Jeder Abgeordnete kann eindeutig einem Wahlkreis zugeordnet werden. Denn obgleich nur knapp die Hälfte der MdB direkt gewählt werden, sind die allermeisten in einem Wahlkreis angetreten und verstehen sich später auch als dessen Vertreter im Parlament, selbst wenn sie tatsächlich über die Landesliste eingezogen sind. So gibt es Wahlkreise mit bis zu sechs Abgeordneten der unterschiedlichen Fraktionen.

Die Tätigkeit im Wahlkreis stellt eine wichtige Grundlage von Repräsentation dar, denn so wird bei den Menschen vor Ort aufgenommen, wie die Stimmung zu aktuellen politischen Themen ist, wo konkreter Handlungsbedarf gesehen wird oder an welcher Stelle vorhandene Regelungen Lücken haben oder sogar ungewünschte Nebenwirkungen hervorbringen. In einem großen vergleichend angelegten Forschungsprojekt, "Citizens and Representatives in France and Germany" (CITREP), wurde die Wahlkreisarbeit von Abgeordneten des Bundestages und der Französischen Nationalversammlung vergleichend untersucht. Begleitet wurden insgesamt 64 MdB für jeweils drei Tage bei den unterschiedlichsten Veranstaltungen, um festzustellen, was sie dort tun, wie sie es tun, und mit wem sie in Kontakt treten.

Veranstaltungen von Abgeordneten im Wahlkreis (© Die Abbildung zeigt die Anzahl der besuchten Veranstaltungen im Wahlkreis durch das Projekt CITREP; Basis: 618 Veranstaltungen von 64 Abgeordneten)

Die Abgeordneten nehmen im Wahlkreis eine außerordentliche Vielfalt an Terminen wahr. Anders als vermutet stehen hierbei weniger die gesellschaftlichen und damit publikumswirksamen Veranstaltungen im Vordergrund, sondern vor allem werden Behörden und Unternehmen besucht und lokale Parteiarbeit betrieben. Überhaupt beschränken sich die Abgeordneten in ihrer Wahlkreisarbeit keineswegs auf ihre formale Zuständigkeit der Bundespolitik: Oft geht es um lokale Themen, aber auch die Landespolitik wird von ihnen im Wahlkreis regelmäßig behandelt. Offenbar sind sie dort also nicht nur als Vertreter "des Bundes", sondern "der Politik" insgesamt – und nehmen diese umfassende Rolle in der Regel auch selbst an.

Immer wieder wird Hilfe im Einzelfall geleistet, teils mit einer erstaunlichen Intensität. […] Aber auch um Hilfe in kleineren Dingen wie Anträgen für Arbeitslosenunterstützung oder Rentenpapieren werden die Abgeordneten immer wieder gebeten.

Repräsentation bedeutet allerdings nicht nur, Meinungen und Stimmungen aufzunehmen, sondern umgekehrt auch die eigene Politik, den als richtig erkannten Weg, zu erklären und um Unterstützung dafür zu werben. Die Abgeordneten stellen in ihrem realen Verhalten die Informationsaufnahme im Wahlkreis deutlich in den Vordergrund, ohne aber die Darstellung und Vermittlung der eigenen Position gänzlich zu vernachlässigen. Dennoch ist zu fragen, ob die angetroffene Balance dieser beiden Tätigkeiten richtig ist oder ob nicht etwas mehr Erklären und etwas weniger Zuhören insgesamt förderlich wären.

Auch wurde deutlich, dass die Rückspiegelung von Erkenntnissen aus der Wahlkreisarbeit in die Parlamentstätigkeit kaum strukturiert und damit sehr abhängig vom individuellen Geschick des Abgeordneten ist. Insofern können im Wahlkreis aufgenommene Einschätzungen auch irgendwo "versanden". Bei großen, aktuellen Themen hingegen kann es für die Mitglieder der Bundesregierung und insbesondere für die Regierungschefs recht unangenehm in einer Fraktionssitzung werden, wenn Abgeordnete nach einer Wahlkreiswoche dort den gesammelten Frust aus der Bevölkerung ablassen – dies wurde für die "Agenda 2010"-Reformen unter Gerhard Schröder berichtet und für die Flüchtlingspolitik von Angela Merkel.

Übrigens zeigen die Beobachtungen keine grundsätzlichen Unterschiede im Verhalten von direkt und über die Liste gewählten Abgeordneten des Deutschen Bundestages, anders als es in verschiedenen Studien vermutet wurde. Auch steht in der Wahlkreispraxis weiterhin der persönliche individuelle Kontakt der Abgeordneten mit Bürgerinnen und Bürgern im Vordergrund, während die klassischen und neuen Medien eine nachrangige Bedeutung haben. Natürlich kann es den Abgeordneten nicht gelingen, alle Menschen in ihrem Wahlkreis einzeln zu erreichen, aber umgekehrt zeigt sich: Wer in Kontakt mit "seinem" Abgeordneten treten möchte, hat dazu im Wahlkreis gute Möglichkeiten. Denn Repräsentation lebt von einer lebendigen Beziehung zwischen Repräsentierten und Repräsentanten.

Sven T. Siefken

Das Mandat als Beruf: Es kommt also darauf an, dass die Abgeordneten in der Lage sind, ihre Aufgaben im Parlament und als Bindeglied zu den Bürgerinnen und Bürgern so effektiv wie möglich zu erfüllen. Im Deutschen Bundestag hat dafür – früher und intensiver als in anderen europäischen Parlamenten – eine Entwicklung eingesetzt, in deren Verlauf die Arbeitsbedingungen stetig verbessert wurden.
Der Weg zu einem professionellen Parlament war schon in den Anfangsjahren des Bundestages vorgezeichnet worden. In der ersten Wahlperiode waren die Abgeordneten noch davon ausgegangen, dass sie nach etwa zwei Jahren die Kriegsfolgen gesetzgeberisch bewältigt haben und die parlamentarische Arbeit dann in der Regel in einem halben Jahr schaffen würden, um sich die andere Hälfte des Jahres ihrem "normalen" Beruf widmen zu können.

Diese Annahme bewahrheitete sich jedoch nicht. Rasch entwickelte sich das Mandat zu einer vollen Berufstätigkeit. Die im Parlament anfallenden Aufgaben und die aus der Gesellschaft gestellten Anforderungen hinsichtlich Umfang, Art und Qualität der Entscheidungen und Regelungen ließen bald nur noch im Ausnahmefall den "Feierabendpolitiker" zu. Diese Tendenzen erhielten weitere Schubkraft, als in den 1960er-Jahren eine Planungseuphorie einsetzte und man hoffte, Politik durch wissenschaftliche Methoden besser steuern zu können.

Mitarbeiterstäbe: Mit der Parlamentsreform von 1969 wurden insbesondere die Rahmenbedingungen für die Mandatsausübung verbessert. Bis dahin hatten MdBs ohne herausgehobene Ämter in Fraktion oder Parlament keine nennenswerte Ausstattung und mussten einen guten Teil ihrer Zeit für Büroarbeiten aufwenden. 1969 wurden Zahlungen für Persönliche Mitarbeiter eingeführt.

Heute kann jeder Abgeordnete über circa 21.000 Euro monatlich aus dem Bundeshaushalt verfügen, um einen Mitarbeiterstab zu beschäftigen. Deren Zahl stieg von 398 im ersten Jahr auf circa 1000 Ende der 1970er-Jahre und betrug im 18. Bundestag knapp 4800. Zwei Drittel von ihnen arbeiteten in Teilzeit; die Hälfte war für ihre Abgeordneten im Wahlkreis tätig. Welche Bedeutung die Mitarbeiter inzwischen für die Parlamentsarbeit der MdBs haben und wie sich das Profil ihrer Tätigkeit gewandelt hat, zeigt sich schon daran, dass in den 1990er-Jahren lediglich ein Fünftel bis ein Viertel von ihnen als Wissenschaftliche Mitarbeiter eingestuft waren: Heute sind es 42 Prozent.

Wissenschaftliche Dienste: Ein weiteres Ergebnis der Parlamentsreform von 1969 war die Einrichtung der Hauptabteilung "Wissenschaftliche Dienste" in der Verwaltung des Bundestages. Die Abgeordneten verlangten für ihre Arbeit bessere Informationsgrundlagen, auch was die wissenschaftliche Qualität betraf. Um dem zu entsprechen, wurden Ausschusssekretariate und andere Unterabteilungen eingerichtet, die Abgeordnete zum Beispiel mit Gutachten versorgen. Außerdem wurden die technisch-organisatorischen Kapazitäten verbessert und eine mittlerweile über 1,5 Millionen Bände umfassende Bibliothek aufgebaut – deutliche Schritte in Richtung auf die Professionalisierung des Parlaments.

QuellentextAlleskönner mit Instinkt und Fingerspitzengefühl

Sie wurden nicht gewählt, sitzen aber dennoch im Bundestag: Wissenschaftliche Mitarbeiter unterstützen die Mitglieder des Bundestages bei der Wahrnehmung ihres Mandats. Konnten Abgeordnete noch bis in die 1960er-Jahre ihre Büroarbeit selbst oder allenfalls mithilfe einer Schreibkraft aus der Bundestagsverwaltung bewältigen, ist heute die parlamentarische Tätigkeit eines MdB ohne eigene Mitarbeiter kaum mehr denkbar.
Allein schon die Korrespondenz: Wenn Thomas Wierer morgens gegen acht Uhr zur Arbeit kommt, dann warten nicht selten 300 E-Mails, ein dicker Stapel Post und mehrere Presseschauen auf ihn. Diese gilt es zu sichten und zu ordnen, bevor sein Chef, […] im Büro erscheint. "Aus der Flut an Informationen das Wichtige herauszufiltern gehört zu den Fähigkeiten, die ein Abgeordnetenmitarbeiter unbedingt benötigt", sagt Wierer, der seit über 20 Jahren zusammen mit einer Kollegin das Bundestagsbüro […] [seines Abgeordneten] leitet.

Damit ist Wierer einer von rund 1700 wissenschaftlichen Mitarbeitern, die laut Statistik der Bundestagsverwaltung in den Büros der Parlamentarier in Berlin und im Wahlkreis tätig sind. "Mit wissenschaftlicher Arbeit wie an einer Universität ist die Tätigkeit im Abgeordnetenbüro nicht vergleichbar", sagt Anna Alexandrakis. Die Bezeichnung sei deshalb etwas irreführend. Die Diplom-Pädagogin muss es wissen: Seit fast 25 Jahren ist sie in diesem Job, leitet seit 17 Jahren das Büro […] [ihres Abgeordneten]. Doch auch der Begriff "Büroleiter" decke das Tätigkeitsprofil eines Abgeordnetenmitarbeiters nicht vollständig ab – unterschlage er doch die fachlichen Kompetenzen.

Tatsächlich lassen sich inhaltliche und organisatorische Arbeit im Abgeordnetenbüro kaum voneinander trennen: Die Aufgaben von Referenten wie Wierer und Alexandrakis reichen von der Vorbereitung der Ausschuss- und Arbeitsgruppensitzungen bis zu normalen Bürotätigkeiten. Bei Bürgeranfragen aus dem Wahlkreis erledigen sie die Korrespondenz. Sie betreuen Besuchergruppen, schreiben Pressemitteilungen, pflegen Webseiten und Facebookprofile. Bei Bedarf wird auch getwittert.

Kommt eine Interviewanfrage zu einem fachfremden Thema, recherchieren sie den Sachverhalt und verfassen "Sprechzettel". "Der Chef muss sprechfähig sein – jederzeit, in jeder Situation", bringt Wierer die Aufgabe auf den Punkt. Für […] [seinen Abgeordneten] besorgt er Material, holt Stellungnahmen von Experten und Interessenverbänden ein. Meist schreibt er auch Reden, Anträge und Ausschussvorlagen für seinen Chef.

Ein erhebliches Arbeitspensum: "Ein normaler Acht- oder Neun-Stunden-Tag reicht meist nicht aus", sagt Thomas Wierer […]. Gerade in Sitzungswochen sind es sogar Zehn- bis Zwölf-Stunden-Tage, die Mitarbeiter eines Abgeordnetenbüros absolvieren. Und trotzdem finden Abgeordnetenmitarbeiter wie Wierer und Alexandrakis oft nur in sitzungsfreien Wochen die Zeit, Liegengebliebenes aufzuarbeiten.
Fachlich versierter Referent und gut organisierter Büroleiter, gewiefter Netzwerker und erfahren im Umgang mit Presse und Social Media: Die Arbeit im Abgeordnetenbüro erfordert Alleskönner. "Wir sind Allrounder", bestätigt Alexandrakis. Wer den Job mache, müsse stets politisch auf dem Laufenden sein, fügt Wierer hinzu: "Ohne den Instinkt, welches Thema für den Abgeordneten wichtig werden könnte, geht es nicht." Das gelte auch für Fingerspitzengefühl im Umgang mit Menschen.

Ganz wichtig auch: Flexibilität. Sich schnell in Themen einarbeiten oder sich auf neue Situationen einstellen zu können, gehöre zu den Grundvoraussetzungen für den Job. "Will man gerade einen ruhigeren Nachmittag in der sitzungsfreien Woche nutzen, um etwas inhaltlich zu arbeiten – dann klingelt das Telefon und es kommt eine Presseanfrage: Bitte Stellungnahme zur Cyberattacke im Bundestag, bitte in zwei Stunden ein Statement", sagt Alexandrakis und lacht. "Dann war’s das mit der Planung." Eigentlich lasse sich kaum etwas sicher planen, jeder Tag sei anders.

Doch genau diese Abwechslung schätzt sie: "Es wird nie langweilig. Es gibt immer wieder neue Themen, die man bearbeitet, man lernt jeden Tag dazu. Das ist der große Reiz." Natürlich sei ein Interesse an Politik für den Job elementar. Politik studiert zu haben dagegen nicht: Auch wenn Politologen neben Juristen unter den wissenschaftlichen Mitarbeiter stark vertreten sind – das Studienfach sei nicht das Entscheidende, haben Wierer und Alexandrakis beobachtet.

Ohnehin steigen die meisten über ein Praktikum oder als studentischer Mitarbeiter ein. "In überregionalen Medien ausgeschrieben werden Jobs als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Abgeordneten selten", sagt Alexandrakis. Die Büros scheuten die Flut der Bewerbungen. "Sie haben ja keine Personalabteilung und kein Assessment-Center." Ihre Mitarbeiter fänden Parlamentarier daher eher unter den Engagierten an der Parteibasis, über Empfehlungen sowie fraktionsinterne Ausschreibungen und Jobbörsen.

Erfahrene Mitarbeiter sind für Abgeordnete – insbesondere für Parlamentsneulinge – unbezahlbar. Sie sind mit den Mechanismen des Parlamentsbetriebs vertraut und auch als Berater bei der Entscheidungsfindung gefragt: [...]

Diese Besonderheit des Arbeitsverhältnisses erfordere zwar nicht unbedingt die gleiche Parteizugehörigkeit, aber zumindest ein hohes Maß an politischer Nähe zwischen dem Abgeordneten und seinen wissenschaftlichen Mitarbeitern: "Man sollte schon auf Parteilinie sein – sonst ist die Arbeit für beide Seiten unbefriedigend und das Vertrauen leidet darunter", stellt Alexandrakis klar.

So entwickelt sich zwischen Abgeordneten und Mitarbeitern meist ein enges Vertrauensverhältnis. Sie beraten ihn, halten ihm den Rücken frei, schirmen ihn wenn nötig auch nach außen ab. […] Diese politische Nähe und Loyalität jedoch erschweren einen Jobwechsel. Für einen Abgeordneten einer anderen Partei zu arbeiten – undenkbar. [...]

Als Angestellte des Abgeordneten endet das befristete Arbeitsverhältnis, wenn dessen Mandat endet: Das kann alle vier Jahre nach der Wahl sein – zudem wenn der Abgeordnete sein Mandat vorzeitig zurückgibt oder verstirbt. Aufgrund dieser Unsicherheit ist für manche die Tätigkeit nur ein Job auf Zeit. Die dabei erworbenen Kenntnisse gelten als gutes Sprungbrett für eine Karriere in größeren Unternehmen, Verbänden oder Politikberatungen. [...]

Externer Link: www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2016/kw34-mitarbeiter/436372 (Abruf am 27.08.2019) (sas/22.08.2016)

Diäten im Deutschen Bundestag 2002 bis 2018 (© Michael F. Feldkamp, Deutscher Bundestag 1998 bis 2017/18: Parlaments- und Wahlstatistik für die 14. bis 19. Wahlperiode, in: ZParl, 49. Jg., H. 2, S. 214)

Diäten: Diese Entwicklung zur weiteren Professionalisierung verstärkte im Jahr 1975 ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur finanziellen Stellung der Abgeordneten. Das Gericht befand, dass das Mandat eine Vollzeittätigkeit geworden sei – mit Folgen für die Diäten: "Aus der Entschädigung des Inhabers eines Ehrenamtes ist die Bezahlung für die im Parlament geleistete Tätigkeit geworden. Der Abgeordnete [...] erhält nicht mehr bloß eine echte Aufwandsentschädigung, er bezieht aus der Staatskasse ein Einkommen." Und dieses Einkommen müsse, wie im Grundsatz schon in Art. 48 Abs. 3 GG verankert, den Parlamentariern eine ausreichende Existenzgrundlage geben und ihre Unabhängigkeit sichern, zudem der Bedeutung des Amtes, der damit verbundenen Verantwortung und den Belastungen gerecht werden. Ausdrücklich wurde vom BVerfG verfügt, dass die Höhe der Diäten den Abgeordneten die Möglichkeit eröffnen müsse, ihre bisherigen Berufe aufzugeben und sich voll und ganz dem Mandat zu widmen.

Auf dieser Grundlage verabschiedete der Bundestag 1976 mit nur wenigen Gegenstimmen und Enthaltungen das sogenannte Abgeordnetengesetz. Es begründete die Steuerpflichtigkeit der Diäten, führte eine steuerfreie Kostenpauschale für mandatsbedingte Ausgaben, zum Beispiel für die Unterhaltung von Büros, einer Wohnung und für die Lebenshaltung am Parlamentssitz sowie für Reisekosten, ein und regelte die Altersversorgung der MdBs ähnlich den Beamtenpensionen. Nicht über diese Grundstruktur, sehr wohl aber über ihre Ausgestaltung im Einzelnen wurden seither zahlreiche, teilweise hitzige Debatten in Parlament und Öffentlichkeit geführt.

Besonders strittig gestaltete sich immer wieder die Frage, ob und um wie viel die Diäten angehoben werden sollten, um sie der allgemeinen Einkommensentwicklung anzupassen. Dabei standen regelmäßig auch der Vergleichsmaßstab zur Diskussion sowie das Problem der "Entscheidung in eigener Sache". Nicht selten wurde in diesem Zusammenhang der Vorwurf der "Selbstbedienung" laut, denn die Abgeordneten müssen ja über ihre eigene Bezahlung befinden.

Die Auslagerung in eine externe Kommission ist nur auf den ersten Blick ein Ausweg aus diesem Dilemma. Das zentrale Problem ist erfahrungsgemäß die Transparenz, die öffentliche Sichtbarkeit der Entscheidungsfindung in dieser Sache. In der Vergangenheit haben einzelne Abgeordnete und Fraktionen versucht, die Diätendiskussion populistisch zu nutzen. Sie stellten sich als "Sparer am eigenen Leib" dar und lehnten jegliche Erhöhung ab, auch wenn die Einkünfte der Abgeordneten nachweislich hinter der allgemeinen Einkommensentwicklung zurückgeblieben waren. Oder sie wollten den leidigen, oft aus allgemeiner Politikverdrossenheit gespeisten Vorwürfen entgehen, indem sie automatische Kopplungen der Diäten etwa an Richtergehälter und ihre Anhebung durch Indexierung der Lebenshaltungskosten vorschlugen. Ersteres dient nicht der sachlichen Klärung des Problems, letzteres verfehlt den demokratischen Anspruch auf möglichst große Transparenz.

Vor diesem Hintergrund und angesichts neuerlicher massiver öffentlicher Kritik an der Anpassung der Abgeordnetenentschädigung im Jahre 2011 setzte der Bundestag eine Unabhängige Kommission zu Fragen des Abgeordnetenrechts ein. Sie bekam den Auftrag, Empfehlungen für die Abgeordnetenentschädigung und das Verfahren zu ihrer künftigen Anpassung sowie für die Altersversorgung der Abgeordneten vorzulegen.

Die Kommission entwarf ein Leitbild für Parlament und Abgeordnete unter dem Grundgesetz und begründete fundiert, warum Status, Tätigkeit und Verantwortung von Mitgliedern des Bundestages am ehesten mit denjenigen von Richtern an obersten Bundesgerichten vergleichbar seien: Beiden wird von der Verfassung Weisungsfreiheit garantiert, beide entscheiden mit Wirkung für das gesamte Bundesgebiet. Folglich seien Abgeordnete wie oberste Bundesrichter zu besolden.

Anpassungen, also in der Regel Erhöhungen der Bezüge sollten der allgemeinen Entwicklung der Löhne in Deutschland folgen. Als Vergleichsmaßstab hierfür empfahl die Kommission den vom Statistischen Bundesamt jährlich ermittelten Nominallohnindex, der die Verdienstentwicklung von fast 90 Prozent der Erwerbstätigen erfasst. Um dem Gebot möglichst großer Transparenz weiter Rechnung zu tragen, sollte diese Anpassung aber nicht automatisch erfolgen. Vielmehr müsse der Bundestag zu Beginn jeder Wahlperiode einen neuen Beschluss dazu fassen und der Bundestagspräsident jedes Jahr die entsprechenden Zahlen veröffentlichen.

2014 folgte der Bundestag durch eine Änderung des Abgeordnetengesetzes den zentralen Vorschlägen der Kommission. Damit ist nun gewährleistet, dass die Abgeordneten so bezahlt werden, wie es der Bedeutung des Parlamentsmandats angemessen ist und auch die Transparenz des Verfahrens ist dauerhaft gesichert. Gängigen Vorurteilen, die Abgeordneten würden sich selbst zu viel Geld bewilligen, lässt sich mit folgender Berechnung begegnen: 2018 kostete der Bundestag in Summe sämtlicher Zahlungen an Abgeordnete, Mitarbeitergehälter, Sach- und Fraktionsausgaben jeden Einwohner Deutschlands gerade einmal 50 Cent pro Monat.

Quellentext"Parlamentarismus“ in der DDR vor 1989 …

Die Deutsche Demokratische Republik ist bis 1989/90 eine kommunistische Diktatur gewesen. Insofern kann die Volkskammer nicht auf eine Stufe mit dem Deutschen Bundestag gestellt werden. Erst in ihrer letzten Phase, nachdem die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) ihr Machtmonopol verloren hatte, sollte die Volkskammer zu einem demokratischen Parlament werden, zu einem Parlament auf Abruf allerdings. Als die am 18. März 1990 gewählte Volkskammer zusammentrat, war klar, dass die Einheit und damit ihre Auflösung nur wenige Monate bevorstand.[...]

Die sowjetische Besatzungszone entwickelte sich nach 1945 anders als die amerikanische, britische und französische. Die sowjetische Besatzungsmacht ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass sie nicht gewillt war, ein pluralistisches politisches System entwickeln zu lassen. Die Vorherrschaft der Kommunisten wurde immer deutlicher. Im April 1946 kam es zur Zwangsvereinigung von KPD und SPD. Eine neue "Sozialistische Einheitspartei Deutschlands" (SED) errang dank der sowjetischen Besatzungsmacht allmählich ein Machtmonopol. Die beiden anderen Parteien – die CDU und die LDPD – verloren ihre Eigenständigkeit. [...]

In der "Nationalen Front der Deutschen Demokratischen Republik", die jeweils eine Einheitsliste für die Wahlen aufstellte, waren die Parteien (SED, CDU, LDPD, DBD, NDPD) zusammen mit den Massenorganisationen vereint. Zu ihnen gehörte der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB), die Freie Deutsche Jugend (FDJ), der Demokratische Frauenbund Deutschlands, der Kulturbund der DDR (KB) sowie die Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe (VdgB). [...] Die Mandate der Volkskammer, der obersten Volksvertretung der DDR, wurden nach einem vorher festgelegten Schlüssel vergeben. Die SED erhielt 24,5 Prozent der 500 Mandate, die vier Blockparteien bekamen je 10,4 Prozent. Dem FDGB standen 12,2 Prozent zu, der FDJ 7,4, dem DFD 6,4, dem Kulturbund der DDR 4,2 und der VdgB 2,8 Prozent. Die meisten Repräsentanten der Massenorganisationen gehörten zugleich der SED an, so dass diese auch formell eine absolute Mehrheit in der Volkskammer hatte. Das Machtmonopol der SED war damit auf mehrfache Weise gesichert. [...]

Die geringe Bedeutung der Volkskammer zeigte sich allein darin, dass sie nur selten zusammentrat. Auf die siebziger Jahre beispielsweise entfielen ganze 34 Sitzungstage. In einem bemerkenswerten Kontrast zur Ohnmacht der Volkskammer stand der Sachverhalt, dass ihre Abgeordneten immer vollzählig erschienen waren. Lediglich ein einziges Mal wurde in der Geschichte der nicht frei gewählten Volkskammer das Prinzip der Einmütigkeit durchbrochen. Im März 1972 gab es im "Ja-Sager"-Parlament bei dem Gesetz zur Schwangerschaftsunterbrechung aus den Reihen der CDU 14 Gegenstimmen und acht Enthaltungen.

Nach der DDR-Verfassung war der Volkskammer eine Reihe von Verfassungsorganen untergeordnet – der Staatsrat, der Nationale Verteidigungsrat, der Ministerrat, das Oberste Gericht sowie der Generalstaatsanwalt. All diese Organe wurden von der Volkskammer gewählt. Allerdings konnte keine Rede davon sein, dass sich in der Praxis etwa der Staatsrat der Volkskammer "unterordnete". Der Vorsitzende des Staatsrates war zugleich der Generalsekretär des ZK der SED – und damit der mächtigste Mann im Staate.

[...] Dem Wahlakt war bereits Genüge getan, wenn der Stimmzettel in die Wahlurne geworfen wurde. Der Bürger hatte keine Entscheidung. Obwohl die Verfassung geheime Wahl vorschrieb, stellte offene Wahl die Regel dar. [...] Offene Wahl galt als Zeichen des Vertrauensbeweises für die Kandidaten der "Nationalen Front". Wer nichts zu verbergen habe, könne sein Vertrauen offen bekunden.
Die Wahlbeteiligung lag bei allen Wahlen über 98 Prozent, die Zahl der Ja-Stimmen betrug jedes Mal deutlich über 99 Prozent. Nichts erhellte offenkundiger den Versuch der SED, gesellschaftliche Harmonie vorzutäuschen. [...]

Eckhard Jesse, in: Parlamentarische Demokratie 1, Informationen zur politischen Bildung Nr. 227, 3. Aufl., Bonn 2000, S. 20 ff.

Quellentext... und 1989/90

Ein besonderes Kapitel des Parlamentarismus in Deutschland wurde 1989/90 geschrieben. Der Zusammenbruch der SED-Diktatur brachte in der DDR allenthalben "Runde Tische" hervor, darunter auch den Zentralen Runden Tisch der DDR (ZRT), der den Anspruch erhob, freie Wahlen in der DDR herbeizuführen, um die DDR schließlich in ein freiheitlich demokratisches Gemeinwesen zu überführen.

Der ZRT war nicht gewählt worden. Daher war es nur konsequent, dass seine Mitglieder für den ZRT nicht den Status eines Parlamentes reklamierten. Wohl aber beanspruchten sie, zusammen mit der Volkskammer der DDR die Politik dieser Republik so lange zu kontrollieren, bis auch für diesen Staat ein demokratisches Parlament seine Arbeit aufnehmen werde. Durch die Übernahme dieser Kontroll- und Öffentlichkeitsfunktion wuchs der ZRT aber obendrein und mindestens vorübergehend ebenfalls in die Funktion eines Gesetzgebers der DDR hinein – dies umso mehr, als sich die (alte) Volkskammer im Winter 1989/90 mehr und mehr selbst auflöste. Für die Parlamentarismusforschung war es verblüffend zu beobachten, mit welcher Geschwindigkeit und Zielgenauigkeit sich der ZRT in seiner Organisation und in seinem Verfahren in die Zwangsläufigkeiten klassischer Parlamente hinein bewegte.

Nicht anders die erste und einzig frei gewählte Volkskammer (vom 5. April 1990 bis 2. Oktober 1990): Nur für die 38 Sitzungen dieser Volkskammer ist es erlaubt, im hier argumentierten Sinne von Parlamentarismus auch in der DDR zu reden (Patzelt/Schirmer).

Die Erfahrung mit und in der ersten frei gewählten Volkskammer der DDR war ein Lehrstück über den Zusammenhang von Partizipation, Transparenz und Effizienz. Die im Sommer 1990 immer aufs Neue improvisierende Volkskammer der DDR war zwar emotional "aufregend"; sie beflügelte jedoch zunehmend den gegenläufigen Ruf nach Ruhe und den Anspruch (nicht nur) der dortigen Bürgerinnen und Bürger auf ein schließlich routinemäßig funktionierendes Parlament. Tatsächlich erfuhren die Bürger dieser Übergangszeit Parlamentarismus als "government by discussion", also Partizipation und Transparenz. Sehr schnell allerdings wurde ihnen die ebenso zutreffende Fortsetzung dieses englischen Satzes zur Gewissheit: "… but it only works if you can stop people talking". Der Vorsitzende der SPD-Volkskammerfraktion, Richard Schröder, unterstrich die Dringlichkeit dieser Weisheit mit dem lakonischen Bonmot, es gäbe so etwas, wie das "Menschenrecht auf handlungsfähige Regierung". Deutlicher kann nicht zum Ausdruck gebracht werden, wie sehr die demokratische Regierungsweise von der Leistungsfähigkeit ihrer Parlamentsfraktionen, ihrer Funktionstüchtigkeit insgesamt also abhängig ist. Mit spektakulären, aber leerlaufenden Parlamentsaktivitäten – von Fraktionsdisziplin freigestellter Partizipation – ist nämlich am Ende für die Bürgerinnen und Bürger nichts zu gewinnen. Deren Wohlergehen verlangt ein effizientes, das heißt entscheidungsfähiges Regierungssystem.

Uwe Thaysen

Dipl. Pol., Dr. rer. pol., war von 2001 bis 2018 Professorin für Regierungslehre und Policyforschung an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Seit 2003 ist sie Chefredakteurin der Zeitschrift für Parlamentsfragen, seit 2016 Gründungsdirektorin des Instituts für Parlamentarismusforschung (IParl); sie ist Trägerin des Wissenschaftspreises des Deutschen Bundestages und Mitgliedder Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien. Von 2006 bis 2009 war sie Vorsitzende der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft. Ihre Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte sind Repräsentation und Parlamentarismus in Theorie und Praxis. Kontakt:E-Mail Link: schuettemeyer@iparl.de