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Antisemitismus und Verschwörungserzählungen

Pia Lamberty

/ 2 Minuten zu lesen

Hinter vielen Verschwörungserzählungen stecken antisemitische Vorurteile. Sie basieren auf jahrhundertealten Mythen und unterstellen Menschen jüdischen Glaubens die Absicht, die Welt beherrschen zu wollen. Das setzt die betroffenen Menschen großen Gefahren aus.

Durch die Jahrhunderte zieht sich ein Verschwörungsmythos, wonach sich reiche und mächtige Gruppen zur Errichtung einer neuen Weltordnung verschwören – ein Mythos, der stets aktualisiert und häufig antisemitisch ausgerichtet wird. Protest gegen ein Bilderberger-Treffen in Sitges bei Barcelona 2010 (© picture-alliance, Reuters / Albert Gea)

Auch wenn nicht jeder konkreten Verschwörungserzählung antisemitische Motive zugrunde liegen, ist der Schritt zu einem antisemitischen Welterklärungsmodell oft schnell getan. Dies belegen beispielsweise die Verschwörungserzählungen über die Anschläge auf das World Trade Center am 11. September 2001. Das Gerücht, dass angeblich bei den Anschlägen keine Juden umgekommen seien, weil sie vorab gewarnt worden wären, hält sich bis heute hartnäckig bei Menschen, die anzweifeln, dass der Terroranschlag wirklich so stattgefunden hat, wie öffentlich verlautbart wurde. Die Wahrheit? Laut dem Wall Street Journal war mindestens jedes zehnte Opfer der Anschläge jüdisch. Fakten wie diese halten Menschen allerdings nicht davon ab, weiterhin solche Behauptungen aufzustellen.

Viele antisemitische Narrative haben eine lange Geschichte und werden immer wieder herangezogen und gleichzeitig auch im Geist der Zeit aktualisiert. Während lange Zeit vor allem Illuminaten oder Bilderberger im Fokus standen, wurde in den vergangenen Jahren der jüdische Philanthrop George Soros zum Gegenstand vieler antisemitischer Verschwörungserzählungen. Diese finden sich in zahlreichen Ausprägungen. Trotz aller Unterschiede fallen aber Gemeinsamkeiten ins Auge.

QuellentextEin Philanthrop, der polarisiert: George Soros

Über kaum einen Menschen lassen sich weltweit so viele Behauptungen und Gerüchte finden wie über […] [George Soros]. Folgt man Beiträgen in entsprechenden Videos, Blog-Beiträgen und Kommentaren, muss man annehmen, Soros sei omnipotent. Er soll verschiedene Revolutionen geplant und finanziert haben, die Regierungen zahlreicher Staaten lenken und eine neue Weltordnung (New World Order) entworfen haben und diese nun realisieren – mithilfe willfähriger Politiker.

1930 in eine jüdische Familie in Ungarn hineingeboren, überlebt George Soros den Holocaust. Sein Vater versteckt ihn vor den Nazis und bringt seinem Sohn Esperanto bei. Nach dem Krieg reist Soros zu Esperanto-Kongressen, studiert in London und wird dabei nachhaltig von dem Philosophen Karl Popper geprägt.

Nicht zufällig nennt er später seine Stiftung "Open Society Foundations" – angelehnt – an eines der wichtigsten Werke Poppers: The Open Society and Its Enemies. Doch bevor er weltweit seine Stiftungen aufbaut, häuft Soros Gewinne durch Finanzspekulationen an, wettet offen gegen Währungen und schimpft über den "Marktfundamentalismus" von Ronald Reagan und Margaret Thatcher. Wegen seiner erfolgreichen Geschäfte und seiner weitsichtigen Analysen und Prognosen zum internationalen Finanzmarkt verehren ihn viele. Die New York Times veröffentlicht im Jahr 2008 ein Porträt über ihn mit dem Titel "Das Gesicht eines Propheten".

Soros polarisiert, er mischt sich in politische Debatten ein und finanziert über seine Stiftungen diverse Nichtregierungsorganisationen. Bereits in den 1980er- und 1990er-Jahren wird er in der Sowjetunion und anderen Staaten des Ostblocks zu einem Feindbild aufgebaut, oft mit klarer antisemitischer Konnotation. Westliche Linke werfen Soros vor, er definiere postmoderne Gesellschaften und deren Entwicklungen allein über kapitalistische Kriterien, er sei ein Neoliberaler. Von rechter Seite heißt es, Soros errichte eine neue Weltordnung. Kein Wunder also, dass sich die Argumentationsmuster mischen und etwa in den USA konservative Kräfte zu Verschwörungstheorien greifen, die der kommunistischen Propaganda der Sowjet-union verblüffend ähneln. […]

Soros ist ein leicht zu treffendes Ziel: Er vertritt gesellschaftlich progressive Ansichten, verdient sein Geld aber mit Immobilienspekulationen. Dadurch sehen ihn Linke mit Argwohn. Soros ist ein Kosmopolit, der international agiert und in vielen Ländern seine Verbündeten hat. Also kann er als Bedrohung von außen dargestellt werden. […]

[…] Soros ist ein Feindbild für alle Fälle. Und dies funktioniert auch deswegen so gut, weil die Gegenpartei an das altbewährte Narrativ der antisemitischen Verschwörung anknüpfen kann. […]

Patrick Gensing. "George Soros – der Antichrist", in: Ders.: Fakten gegen Fake News oder Der Kampf um die Demokratie, © Duden 2019, Bibliographisches Institut Berlin, S. 128–135

Antisemitische Verschwörungserzählungen und -mythen verbergen sich oft hinter Chiffren und Andeutungen. Häufig wird auf die sogenannten Protokolle der Weisen von Zion Bezug genommen, eine antisemitische Fälschung, die erstmals 1903 in Russland veröffentlicht wurde und angeblich die Weltherrschaftspläne von Juden belegen soll. Obwohl schnell klar wurde, dass der Text mit dem Ziel geschrieben worden war, antisemitische Stereotype zu verbreiten, wird er bis heute immer wieder genutzt, um den eigenen Antisemitismus zu legitimieren.

Eine klassische Metapher in Verschwörungserzählungen ist zum Beispiel die Marionette. Es wird dann behauptet, dass es im Hintergrund "Marionettenspieler" gäbe, die im Geheimen die Geschicke der Welt lenken. Oft wird zwar nicht genau ausgeführt, wer genau die Marionetten- oder Puppenspieler sein sollen, aber es gibt durchaus Muster. So lässt sich oft beobachten, dass bei solchen Erzählungen besonders häufig Juden als böse Mächte im Hintergrund vermutet werden. Solche Annahmen sind in Deutschland weit verbreitet. Laut der Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung von 2019 dachten 33 Prozent, Politiker und Politikerinnen sowie andere Führungspersönlichkeiten seien nur Marionetten der dahinterstehenden Mächte. "Antisemiten", so formulieren es die Antisemitismusforscher Samuel Salzborn und Alexandra Kurth, "erklären sich ihr gesamtes Weltbild durch antisemitische Projektionen und Verschwörungsmythen, in denen Jüdinnen und Juden für alles verantwortlich gemacht werden, was sie selbst nicht verstehen können oder wollen – und dabei zugleich als unglaublich mächtig wie unglaublich machtlos phantasiert werden."

Pia Lamberty ist Doktorandin am Lehrstuhl Sozial- und Rechtspsychologie der Universität Mainz. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Verschwörungsmentalität und Verschwörungsglauben, Kognitive Verzerrungen, Psychologische Reaktionen auf Terrorismus und Repräsentationen von Geschichte und Intergruppenbeziehungen. Zum Thema Verschwörungsmythen, auch in Hinblick auf deren Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, hat sie schon verschiedene Veröffentlichungen vorgelegt. Darunter zuletzt 2020 gemeinsam mit Katharina Nocun: Fake Facts. Wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen.