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Staatliche Handlungsfelder in einer Marktwirtschaft | Staat und Wirtschaft | bpb.de

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Staatliche Handlungsfelder in einer Marktwirtschaft

Hans-Jürgen Schlösser

/ 27 Minuten zu lesen

Es achtet in Deutschland darauf, dass keine Kartelle gebildet werden: das Kartellamt in Bonn. (© AP)

Wettbewerbspolitik

Wettbewerb ist das wichtigste Prinzip der Marktwirtschaft. Daher hat die Wirtschaftspolitik die Aufgabe, den Wettbewerb in allen Bereichen und Sektoren der Volkswirtschaft zu schützen und zu fördern. Dabei sind folgende Kriterien für einen funktionsfähigen Wettbewerb zu beachten:

  • Freiheit,

  • Gerechtigkeit,

  • Steuerung (Allokation),

  • Anpassung,

  • Innovation.

Wettbewerb und Freiheit können als zwei Seiten derselben Medaille angesehen werden. Der Handlungsspielraum und die Wahlmöglichkeiten der wirtschaftlichen Akteure dürfen nicht unangemessen eingeschränkt werden: Weder durch Marktteilnehmer, wenn sich zum Beispiel mehrere Firmen zu Kartellen zusammenschließen und durch ihre Absprachen andere benachteiligen, noch durch den Staat, indem dieser beispielsweise einzelne Unternehmen privilegiert oder diskriminiert. Freiheit beinhaltet in diesem Kontext, dass niemand an der Teilnahme am Wettbewerb gehindert oder eingeschränkt wird und stellt damit eine Voraussetzung für funktionierenden Wettbewerb dar.

Kartellrecht

Wettbewerb dient dem gesellschaftlichen Grundwert Gerechtigkeit, da er für eine leistungsgerechte Primärverteilung sorgt. Wettbewerbsbeschränkungen, zum Beispiel durch marktmächtige Unternehmen, die keine Konkurrenz zu befürchten haben, oder durch Kartelle, welche durch Preisabsprachen die Konkurrenz ausschließen, ermöglichen eine Ausbeutung der Kunden. Am deutlichsten wird dies am Beispiel des Monopols: Der Gewinn maximierende Monopolist erzeugt eine geringere Produktionsmenge als Unternehmen, die in Konkurrenz zueinander stehen. Diese Verringerung der Angebotsmenge im Monopol treibt den Marktpreis hoch und stellt den Monopolisten auf Kosten der Konsumierenden besser.

Die Primärverteilung in der Wettbewerbswirtschaft erfolgt nach der Marktleistung. Honoriert wird, was am Markt ankommt. In der reinen Wettbewerbswirtschaft wird also nicht gefragt, ob jemand "verdient, was er verdient". Wer etwas zu verkaufen hat, das von vielen nachgefragt und von wenigen angeboten wird, erzielt ein hohes Einkommen, unabhängig davon, ob seine wirtschaftliche Aktivität als verdienstvoll oder als verachtenswert angesehen wird.

Es gibt aber auch Leistungen, die sich nicht als Marktleistungen verwirklichen, wie zum Beispiel ehrenamtliche Arbeit. Andererseits wird der Konsum mancher Güter, die hohe Marktpreise erzielen, als verwerflich angesehen, beispielsweise Rauschgift. Daher greift der Staat immer wieder regulierend in die wirtschaftlichen Abläufe ein. Die Erhaltung der marktwirtschaftlichen Ordnung erfordert allerdings, dass diese Eingriffe so gering wie möglich gehalten werden und jede Intervention sorgfältig begründet wird.

QuellentextHüter des Wettbewerbsprinzips

Sieben Jahre hat Ulf Böge an der Spitze des Kartellamtes gestanden. Anfang April [2007 - Anm. d. Red.] geht er in den Ruhestand. Im F.A.Z.-Interview spricht er über seine Erfahrungen mit Europa, die Lernfähigkeit der Politik und den Kampf gegen räuberische Kartelle.
FAZ: Herr Böge, in der Rückschau auf 7 Jahre an der Spitze des Bundeskartellamtes: Wie hat sich die Wettbewerbspolitik verändert?
Böge: Sie ist europäischer geworden. Als ich hier anfing, stritt Deutschland mit der Europäischen Kommission erbittert über neue Regeln für die Kartellaufsicht. Aus dem Konkurrenzverhältnis ist ein Partnerschaftsmodell geworden, in dem nationale Wettbewerbsbehörden und die Kommission eng zusammenarbeiten. Auch die Debatte über angebliche Brüsseler Bestrebungen, sich immer mehr Kompetenzen zu sichern, hat sich in der Wettbewerbsaufsicht weitgehend erledigt.
FAZ: Die Welt ist größer als Europa, Unternehmen stehen im globalen Wettbewerb.
Böge: Deshalb haben die Wettbewerbsbehörden die internationale Zusammenarbeit intensiviert. Inzwischen befinden sich 99 Kartellämter unter dem Dach des International Competition Network. China hat ebenfalls schon angeklopft und könnte das hundertste Mitglied werden.
FAZ: Dennoch hat man nicht den Eindruck, als sei das Wettbewerbsprinzip die Richtschnur der Politik.
Böge: Wir haben im Bewusstsein für den Nutzen des Wettbewerbs in Deutschland und in Europa viel erreicht. Aber es gibt auch Gegenströmungen in Form des nationalen Protektionismus und durch die Neigung der Politik, nationale Champions zu fördern und zu schützen. Nehmen Sie nur das Verhalten der spanischen Regierung, um Endesa vor einer Übernahme durch Eon zu schützen, oder die von der französischen Politik angestoßene Fusion von Suez und Gaz de France. Nationale Champions haben nur dann Erfolg und eine Berechtigung, wenn sie aus eigener Leistung hervorgehen. Wir haben in Deutschland nach der Ministererlaubnis für den Zusammenschluss von Eon und Ruhrgas erlebt, welche Folgen solche staatlichen Eingriffe für den Wettbewerb und die Verbraucher haben können.
FAZ: Hat die deutsche Politik in Wettbewerbsfragen dazugelernt?
Böge: Es gibt immer Wellenbewegungen. Ich würde sagen, in den Vorstellungen einer wettbewerbsorientierten Politik stehen wir heute wieder da, wo wir im Jahr 2000 waren. Dazwischen gab es auch graue Tage. [...]
FAZ: Viele Konsumenten verstehen nicht, warum das Kartellamt die Drogeriekette Rossmann zwingen will, ihre Preise zu erhöhen.
Böge: Normalerweise bewerten die Verbraucher ihren kurzfristigen Vorteil höher als die längerfristige Entwicklung. Aber wenn marktstarke Unternehmen unter Einstandspreis verkaufen, um Kunden zu gewinnen, werden kleine und mittlere Unternehmen verdrängt, obwohl sie bei fairen Preisen leistungsfähig wären. Am Ende hätten die Verbraucher den Schaden. Ein Beispiel: Wir haben vor einigen Jahren der Lufthansa ihre Unterpreis-Angebote zwischen Frankfurt und Berlin verboten, mit denen die Lufthansa versuchte, den Konkurrenten Germania zu verdrängen. Ohne diese Entscheidung hätte sich kein anderes Luftfahrtunternehmen in den deutschen Markt getraut, weil es ebenfalls eine Verdrängung durch Unterpreis-Angebote hätte befürchten müssen. Und ohne diese Entscheidung gäbe es heute wahrscheinlich nicht den intensiven Wettbewerb und die Billigfluglinien.
FAZ: Warum wehren Sie sich gegen die geplante Verschärfung der Vorschriften gegen Dumping-Angebote?
Böge: Weil unser Instrumentarium ausreicht. Wenn das Oberlandesgericht unsere Entscheidung gegen Rossmann bestätigt, werden wir sehen, dass das geltende Recht greift. Sollten wir allerdings unterliegen, wäre das Wasser auf die Mühlen der Befürworter einer Gesetzesverschärfung. [...]
FAZ: Gibt es Branchen, die für wettbewerbswidriges Verhalten besonders anfällig sind?
Böge: Die Versuchung zu Kartellabsprachen ist überall vorhanden. Aber es fällt auf, dass sich die Fälle auf manchen Märkten wie Zement, Beton oder Pharma gehäuft haben. Doch wir ziehen die Schraube an. Die Strafen werden immer drakonischer, um Kartellbildungen zu verhindern.
FAZ: Aber mehr als Geldbußen müssen Kartellbrüder dennoch nicht befürchten. In Amerika drohen Gefängnisstrafen.
Böge: Trotzdem gibt es auch dort Kartelle. Strafrechtliche Instrumente müssen in das System passen. Und das ist bei uns nicht der Fall. In Deutschland müssten wir Kartellverfahren dann an die Staatsanwaltschaft abgeben. Dort würden Kartelle mit Sicherheit weniger Aufmerksamkeit finden als Mörder und Räuber, obwohl der verursachte Schaden oft schwerer wiegt als ein Raub.

Helmut Bünder, "Wir ziehen die Schraube an". Interview mit Ulf Böge, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26. März 2007

Wettbewerb führt zu effizienter Allokation. Er bewirkt, dass die leistungsfähigen und effizienten Unternehmen die Produktionsfaktoren an sich ziehen und wachsen, während den leistungsschwachen Betrieben, in denen unrentabel gewirtschaftet wird, die Kontrolle über die Produktionsfaktoren entzogen wird, sie schrumpfen oder Konkurs anmelden müssen. Zahlreiche Unternehmen, die in der Vergangenheit sehr bekannt waren, gibt es heute nicht mehr, beispielsweise den Automobilhersteller Rover in England oder die amerikanische Fluggesellschaft PAN AM. Solche Unternehmen konnten - meist wegen zu hoher Kosten - im Wettbewerb nicht mithalten und mussten den Markt verlassen. Im günstigsten Fall werden die Arbeitskräfte und die Maschinen von den erfolgreicheren Konkurrenten übernommen. Bestehen am Markt jedoch Überkapazitäten, werden die Firmenangehörigen arbeitslos und müssen versuchen, in anderen Branchen Arbeit zu finden. Die Maschinen werden verschrottet oder billig ins Ausland verkauft.

Unternehmen, die an den Bedürfnissen ihrer Kundinnen und Kunden "vorbeiproduzieren", schrumpfen oder sind zum Marktaustritt gezwungen. Ihre Kundschaft wandert zu den Konkurrenten ab. Je besser eine Unternehmung die Bedürfnisse der Kunden erkennt, weckt und befriedigt, desto mehr Kunden gewinnt sie. Insgesamt sorgt also der Wettbewerb dafür, dass genau diejenigen Güter produziert werden, an denen Interesse und Bedarf besteht, und dass diese Produktion effizient stattfindet. Kartelle und Monopole können es sich dagegen erlauben, die Bedürfnisse der Konsumentinnen und Konsumenten zu missachten und mit überhöhten Kosten zu produzieren, da diese ja auf die Konsumierenden überwälzt werden können.

Die Anpassungsfunktion des Wettbewerbs ist eine dynamische Funktion. Wenn sich die Nachfrage der Konsumenten ändert, sind Unternehmen, die im Wettbewerb stehen, dazu gezwungen, sich solchen Veränderungen anzupassen. Sie müssen dies schnell tun, denn wer zu langsam ist, verliert Marktanteile. Wettbewerb sorgt also nicht alleine dafür, dass die richtigen Güter auf effiziente Weise produziert werden, sondern auch dafür, dass der Warenkorb, der in einer Volkswirtschaft produziert wird, ständig den Veränderungen der Bedürfnisse angepasst wird. Eine Wettbewerbswirtschaft befindet sich daher im permanenten Wandel. Hierin liegt freilich auch ein Grund dafür, dass Wettbewerb Ängste hervorruft.

Die nächste dynamische Wettbewerbsfunktion, die Innovationsfunktion des Wettbewerbs, verdeutlicht ebenso wie die Anpassungsfunktion, dass Konflikte zwischen dem Wunsch nach Sicherheit und dem Wunsch nach Fortschritt bestehen können. In einer Wettbewerbswirtschaft herrscht immer ein gewisses Maß an Unsicherheit.

Innovation bedeutet die Einführung eines neuen Produkts und/oder eines neuen Produktionsverfahrens. Wir unterscheiden daher zwischen Produktinnovation und Prozessinnovation. Der Innovation geht die Erfindung voraus, die Invention. Die Innovation stellt somit letztlich die Vermarktung von Erfindungen dar.

Die Innovationsfunktion des Wettbewerbs wird erfüllt, wenn Unternehmen in einen Neuerungswettbewerb eintreten. Das Unternehmen, welches als erstes mit einem neuen Produkt auf den Markt kommt, gewinnt zunächst eine Monopolstellung, da es der erste und einzige Anbieter ist. In dieser Stellung kann der Innovator einen über das normale Maß hinausgehenden Gewinn erzielen, den "Pioniergewinn", dieser bildet das eigentliche Motiv für Innovation. In einer Wettbewerbswirtschaft geraten nun die anderen, nicht innovativen Unternehmen unter Druck. Die Kunden wandern zum erfolgreichen Innovator ab, sei es, weil sie die neuen Produkte den herkömmlichen vorziehen (Produktinnovation), oder, weil der Innovator miteinem kostengünstigeren Produktionsverfahren arbeitet als seineKonkurrenten (Prozessinnovation) und diese Ersparnisse an seine Kundschaft weitergeben kann. Der Konkurrenzdruck und die hohen Pioniergewinne des Innovators bilden in der Wettbewerbswirtschaft einen Anreiz, das Verhalten des Pionierszu imitieren. Nun setzt der "Imitationswettbewerb" ein. Immer mehr Unternehmen imitieren die neuen Produkte und die neuen Produktionsverfahren; die Neuerungen breiten sich auf die gesamte Volkswirtschaft aus, es kommt zur "Diffusion": Alle Unternehmen, die am Markt geblieben sind, benutzen die neue Technologie. Die Innovation ist damit keine mehr. Der Preis für das neue Produkt sinkt nun drastisch, der Pioniergewinn des Innovators schmilzt dahin. Nun muss er neue Anstrengungen zur Innovation unternehmen, wenn er weiterhin Pioniergewinne erzielen will. Ein Beispiel aus der Automobilindustrie ist das Anti-Blockier-System ABS: In den 1980er Jahren auf den Markt gebracht, war es anfänglich nur sehr vermögenden Konsumenten verfügbar, denn es wurde ausschließlich in Luxusautomobile eingebaut. Schon nach wenigen Jahren jedoch gehörte ABS zum Standard der Mittelklasse, und inzwischen ist es Teil der Serienausstattung aller Wagen.

Schutz für Erfinder

Aus dieser Sichtweise ist der Imitationswettbewerb genauso wichtig wie der Innovationswettbewerb. Ohne Imitation würde der Innovator den Pioniergewinn für immer genießen können. Er hätte keinen Anreiz mehr zu erneuter Innovation, sein Monopol wäre festgeschrieben. Da es aber gerade der Pioniergewinn ist, der den Anreiz zur Innovation darstellt, und zudem das Risiko hoch ist, dass eine Innovation nicht gelingt, schützt der Staat Erfindungen durch Patente. Der Patentschutz soll gewährleisten, dass der Imitationswettbewerb nicht so früh einsetzt, dass kein attraktiver Pioniergewinn mehr möglich wird.

In einer Weltwirtschaft, die sich sehr schnell wandelt und in der permanent neue Firmen mit neuen Produkten und Produktionsverfahren auf den Markt treten, muss die Innovationsfunktion des Wettbewerbs als die wichtigste angesehen werden. Die Innovationsfähigkeit einer Volkswirtschaft entscheidet wesentlich über Erfolg oder Misserfolg in der globalisierten Wirtschaft. Während Imitation in gewissem Maße auch in einer staatlich gelenkten Wirtschaft möglich ist, zeigt die Erfahrung, dass Innovation der Wettbewerbswirtschaft bedarf. Beispiele für erfolgreiche staatlich gelenkte Aufholprozesse durch Imitation bieten Korea und Japan; nachdem allerdings Japan zu den anderen Industrieländern aufgeschlossen hatte, wurde dort die staatliche Lenkung durch das Ministry of Trade and Industry (MITI), das bis in die 1980er Jahre hinein eine intensive Struktur- und Technologiepolitik betrieb, drastisch zurückgeschraubt.

Gefährdungen des Wettbewerbs

Die schwersten Gefährdungen des Wettbewerbs gehen von der Unternehmenskonzentration und von Marktabsprachen aus. Daher müssen Unternehmenszusammenschlüsse ab einer gewissen Größenordnung dem Kartellamt bzw. der Europäischen Kommission angezeigt werden und können von diesen Wettbewerbsbehörden untersagt werden, wenn das neue Unternehmen Marktmacht gewinnt und keinem wesentlichen Wettbewerb mehr ausgesetzt ist. Dies ist die vorbeugende, "präventive" Fusionskontrolle. Verfügen Unternehmen bereits über Marktmacht ohne mit anderen zu fusionieren, so wird ihr Verhalten im Rahmen der Missbrauchsaufsicht über marktbeherrschende Unternehmen vom Kartellamt kontrolliert. Wenn solche Unternehmen ihre Marktmacht missbrauchen, zum Beispiel indem sie überhöhte Preise durchsetzen oder Konkurrenten beim Wettbewerb behindern, wird ihr Verhalten vom Kartellamt sanktioniert. Sie können mit hohen Geldbußen belegt werden, und im Fall der Unternehmensfusion steht der Kartellbehörde neben dem Verbot der Fusion auch das Instrument zur Verfügung, eine Fusion nur unter Auflagen zu erlauben. Dazu kann beispielsweise gehören, dass die beteiligten Unternehmen vor der Fusion Unternehmensteile am Markt veräußern müssen.

Kartelle sind verboten, wenn sie Preise absprechen oder Absprachen über die Aufteilung von Marktanteilen durchführen. Werden die Kartelle entdeckt und die beteiligten Unternehmen rechtskräftig verurteilt, werden sie in der Europäischen Union mit Geldbußen belegt, die höher sein sollen als der zusätzliche Gewinn, den die Unternehmen aus der Kartellbildung erzielt haben. In anderen Staaten drohen dem Management auch Haftstrafen. Kartelle, die Vorteile für die Verbraucher versprechen, wie Forschungs- und Entwicklungskartelle - zum Beispiel zur gemeinsamen Motorenentwicklung in der Automobilindustrie -, können wiederum genehmigt werden. Auch diese Kartelle können aber den Wettbewerb gefährden, insbesondere dann, wenn sie sich am Ende als Vorstufe für Preis- oder Mengenkartelle erweisen.

Konjunkturpolitik

Die Konjunkturpolitik ist kurzfristig ausgerichtet und benutzt hauptsächlich Instrumente der Prozesspolitik. Der Konjunkturverlauf lässt sich in vier Phasen einteilen:

  • Aufschwung (oder Expansion),

  • Hochkonjunktur (oder "Boom"),

  • Abschwung (oder Rezession), und im schlimmsten Fall

  • Depression, die tiefe Wirtschaftskrise.

Im Boom kommt es zur Überauslastung, in der Rezession zur Unterauslastung der Produktionsmöglichkeiten einer Volkswirtschaft. Diese Ungleichgewichte entstehen, wenn die Güternachfrage von Unternehmen, Haushalten, Staat und Ausland höher oder niedriger ausfällt als das Angebot der Produzenten von Gütern. Es kommt dann zu Konjunkturschwankungen, die auch eine Ursache für soziale Ungleichgewichte sind, insbesondere bei längerer Arbeitslosigkeit und Inflation. Bei letzterer verlieren die Sparguthaben an Wert, die Schuldner werden gegenüber den Gläubigern bevorteilt und die Bezieher von Einkommen, die nicht umgehend an die steigenden Preise angepasst werden, zum Beispiel Rentnerinnen und Rentner, erleiden Kaufkraftverluste.

Arbeitslosigkeit in der Rezession führt bei den Betroffenen zu Einkommensverlusten und ruft häufig Existenzängste hervor. Es besteht die Gefahr, dass das Vertrauen in den Staat und in die Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung insgesamt schwindet. Umstritten ist allerdings, ob und mit welchen Instrumenten der Staat das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht wahren und Fehlentwicklungen korrigieren kann. Sollte der Staatshaushalt, also Staatsausgaben und Steuersätze, eingesetzt werden ("Fiskalpolitik") oder die Geldpolitik der Zentralbank?

Noch in den 1970er Jahren gingen viele Wirtschaftspolitiker davon aus, dass es einen dauerhaften Zielkonflikt zwischen den Zielen Vollbeschäftigung und Preisstabilität gebe. Daraus wurde dann abgeleitet, dass die Wirtschaftspolitik Vollbeschäftigung durch die Hinnahme einer höheren Inflationsrate "erkaufen" könne. Der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt wird mit dem Satz zitiert: "Lieber fünf Prozent Inflation als fünf Prozent Arbeitslosigkeit." Heute vertritt die Wirtschaftswissenschaft die These, dass es einen solchen Zielkonflikt zwischen Vollbeschäftigung und Preisstabilität - wenn überhaupt -, nur kurzfristig gibt. Inflation wird nicht mehr als "Öl für den Wirtschaftsmotor" angesehen, und die Erhöhung der Inflationsrate gilt nicht mehr als angemessenes Mittel, um die Beschäftigung zu erhöhen. Langfristig wird stattdessen Preisstabilität als Voraussetzung für Vollbeschäftigung angesehen.

Wirtschaftspolitische Konzepte

Die Grundlinien dieser konjunkturpolitischen Diskussion lassen sich durch die Begriffe "nachfrageorientierte" und "angebotsorientierte Wirtschaftspolitik" beschreiben. In der wirtschaftspolitischen Praxis finden wir heute Mischformen beider Konzepte. Die nachfrageorientierte Konjunkturpolitik zielt auf kurzfristige Erfolge, die angebotsorientierte Wirtschaftspolitik ist eher langfristig angelegt.

Die in der Regel nachfrageorientierte Stabilitätspolitik stehtder Marktwirtschaft skeptisch gegenüber. Ihre Konzeption geht auf den englischen Ökonomen John Maynard Keynes (1883-1946) zurück. Seine Grundthese lautet, dass sich in der Marktwirtschaft nicht automatisch ein gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht bildet, in dem Vollbeschäftigung herrscht. Wenn die Wirtschaftssubjekte negative Entwicklungen erwarten und deshalb ihre Güternachfrage einschränken, führt dies zur Unterauslastung der Volkswirtschaft und damit zu Arbeitslosigkeit. Der Therapievorschlag besteht darin, dass der Staat durch seine Fiskalpolitik eine gleichmäßige Auslastung der Volkswirtschaft sicherstellt. Er ergreift dabei prozesspolitische Maßnahmen wie die fallweise Veränderung der Staatsausgaben und der Steuersätze zur Belebung der Nachfrage. Die Rezession soll der Staat dadurch bekämpfen, dass er seine erhöhten Ausgaben durch Staatsverschuldung finanziert und somit "deficit spending" betreibt. Im Boom soll diese Staatsverschuldung dann wieder abgetragen werden.

QuellentextNachfrageorientierung im Deutschland der 1960er und 1970er Jahre

1966/67 kam es in der Bundesrepublik Deutschland zur ersten schweren Rezession (Konjunkturrückgang) der Nachkriegszeit. Die Arbeitslosigkeit, die man schon überwunden glaubte, trat erneut auf, gleichzeitig erhöhte sich die Inflationsrate, während das Wirtschaftswachstum seine Dynamik verlor.
Der aus heutiger Sicht geringfügige Anstieg der Arbeitslosigkeit auf 2,1 Prozent erschütterte die für die Erhard-Ära leitende Auffassung, dass die Marktwirtschaft in sich stabil sei und staatliche Eingriffe in die wirtschaftlichen Abläufe (Prozesspolitik) möglichst vermieden werden sollten.
Es setzte ein neuer Kurs in der Wirtschaftspolitik ein. Kennzeichnend hierfür ist das Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft (Stabilitätsgesetz) vom 8. Juni 1967. Es stellte der Regierung zusätzliche prozesspolitische Instrumente zur Verfügung wie Rücklagen zum Konjunkturausgleich, Variationen der Steuersätze und der Staatsausgaben sowie Steuervergünstigungen für Investitionen. Der Übergang zu einer nachfrage-orientierten Stabilitätspolitik vollzog sich auf der Grundlage einer Problemanalyse des neuen Wirtschaftsministers Karl Schiller (SPD): Nach ihr reichten die Selbstheilungskräfte der Wirtschaft nicht aus, um Inflation und Arbeitslosigkeit zu verhindern, und die geldpolitischen Instrumente der Bundesbank wirkten zu langsam und nicht durchschlagend genug. Deshalb sollten die öffentlichen Haushalte eingesetzt werden, um die Konjunktur zu steuern (antizyklische Fiskalpolitik).
Die Konjunkturkrise von 1966/67 konnte mit diesem Konzept überwunden werden, aber einem kurzen Boom zu Beginn der 1970er Jahre folgte 1974/75 erneut eine - europaweite - Rezession. Sowohl die Arbeitslosenquoten als auch die Inflationsraten, die durch Ölpreiserhöhungen ausgelöst wurden, stiegen an. Dieser Rezession folgte ein nur schwacher Aufschwung. In vielen Staaten kamen deshalb Zweifel auf, ob die antizyklische Fiskalpolitik noch dazu geeignet war, die Volkswirtschaft wieder auf Wachstumskurs zu bringen.

Hans-Jürgen Schlösser

Die angebotsorientierte Konjunkturpolitik baut auf den Vorstellungen des amerikanischen Ökonomen Milton Friedman (1912-2006) auf. Nach Friedman führen gerade die punktuellen Eingriffe des Staates wegen mangelhafter Diagnose- und Prognosefähigkeit zum gesamtwirtschaftlichen Ungleichgewicht. Friedman geht von der Stabilität der Marktwirtschaft aus und führt die Konjunkturschwankungen auf Staatsversagen zurück. Er plädiert für grundsätzliche Regeln statt punktueller Interventionen. Dabei steht die Geldpolitik im Vordergrund, Fiskalpolitik spielt keine Rolle. Die wichtigste Regel besteht nach Friedman darin, das Geldmengenwachstum am Wirtschaftswachstum auszurichten. Da Inflation nur möglich ist, wenn die Geldmenge wächst, wird auf diese Weise Preisstabilität gewahrt. Auf kurzfristige Schwankungen in der Auslastung der Produktionsmöglichkeiten sollte der Staat nicht reagieren, weil die prozesspolitischen Instrumente, die ihm dafür zur Verfügung stehen, unkalkulierbareWirkungsverzögerungen aufweisen und der Staat daher die Effekte seiner Politik nicht prognostizieren kann. Die angebotsorientierte Konzeption geht aber über Friedmans Vorschlag einer langfristig angelegten, an Regeln und nicht an Ermessen orientierten Geldpolitik ("Monetarismus") hinaus. Es wird ein allgemeiner Rückzug des Staates aus den Wirtschaftsabläufen empfohlen, eine Konzentration auf ordnungspolitische Grundsatzentscheidungen und generell eine Verbesserung der Rahmenbedingungen für Investitionen und Innovationen der Unternehmen. Regulierungen am Arbeitsmarkt, eine strenge Umweltpolitik, insbesondere aber die staatliche Umverteilungspolitik werden als Ursachen dafür angesehen, dass die Unternehmen zu wenig investieren und daher Arbeitslosigkeit entsteht.

QuellentextAngebotsorientierte Wirtschaftspolitik in Großbritannien

In Großbritannien und den USA wurde in den 1970er Jahren das Konzept der angebotsorientierten Wirtschaftspolitik (Supply Side Economics) verfolgt - nach der Devise: Mehr Markt, weniger Staat. Die Konjunktur- und Wachstumsschwäche der 1970er Jahre wurde nicht auf mangelnde Güternachfrage zurückgeführt, sondern auf ungünstige Angebotsbedingungen für die Unternehmen. Zur Erhöhung der Investitionsbereitschaft sollten daher die Unternehmenssteuern gesenkt, Staatsbetriebe privatisiert und Vorschriften, zum Beispiel im Umweltschutz und bei Genehmigungsverfahren für neue Anlagen, abgebaut werden. Umverteilung als Mittel zur Bekämpfung von Armut wurde abgelehnt und die Sozialpolitik zurückgefahren. Diese Wirtschaftspolitik beruhte auf konservativen Werthaltungen, sie propagierte zum Beispiel Disziplin in Schule und Gesellschaft und betonte den Vorrang staatlicher Autorität, insbesondere gegenüber Kommunen und Universitäten.
1979 wandte sich in Großbritannien die Regierung unter Premierministerin Margaret Thatcher grundsätzlich gegen prozesspolitische, insbesondere gegen fiskalpolitische Eingriffe und vertrat einen scharfen Kurs gegenüber den Gewerkschaften. Leitlinien der Wirtschaftspolitik waren

  • Verstetigung der Wirtschaftspolitik, also keine kurzfristigen Maßnahmen,

  • strikte Kontrolle der Geldmenge durch Regeln, nicht durch fallweise Eingriffe,

  • straffe Ausgabendisziplin,

  • langfristige Steuersenkungen zur Erhöhung der Leistungsbereitschaft,

  • bewusste Hinnahme hoher Einkommensunterschiede.

Zwar konnte die Inflationsrate gesenkt werden, die strikte, an festen Regeln orientierte Kontrolle der Geldmenge gelang jedoch nicht. Deshalb musste die Fiskalpolitik eine wichtigere Rolle spielen als von der Regierung ursprünglich geplant. Einsparungen wurden durch Kürzungen beim öffentlichen Wohnungsbau, Stellenabbau im öffentlichen Dienst und Senkung der Zahlungen an die EU erzielt. Dennoch stiegen die Gesamtausgaben des Staates an: Eine schwere Rezession zu Beginn der 1980er Jahre, hervorgerufen durch die restriktive Geldpolitik, erforderte steigende öffentliche Ausgaben, zum Beispiel für die Arbeitslosenunterstützung, zudem führte Großbritannien einen kostspieligen Krieg (Falklandkrieg). Allerdings flossen dem Staat wegen der steigenden Rohölpreise (Nordseeöl) und durch die Privatisierung zahlreicher Staatsbetriebe erhebliche finanzielle Mittel zu. Insgesamt konnte die Regierung die Staatsverschuldung senken, eine substanzielle Minderung des Staatsanteils am Volkseinkommen wurde jedoch nicht erreicht.
Der Verkauf von staatseigenen Betrieben war ein Hauptmerkmal der britischen Wirtschaftspolitik. Der staatliche Sektor war sehr umfangreich, da unter den Vorgängerregierungen seit den 1940er Jahren zahlreiche Unternehmen verstaatlicht worden waren. Ziele der Privatisierungen waren die Steigerung der Produktivität, Lohnzurückhaltung der Arbeitnehmer unter dem Druck des Marktes und die Chance für mehr Menschen, Eigentum an Unternehmen zu erlangen. Hinzu trat das Interesse, der Staatskasse Einnahmen zuzuführen. Zu den renommierten staatlichen Betrieben, die sich leicht verkaufen ließen, gehörten British Aerospace, Jaguar, Britoil, British Telecom und British Gas. Außerdem wurden staatliche Wohnungen an die Mieter verkauft. In Europa hatte zu dieser Zeit niemand Erfahrungen mit Privatisierungen im großen Stil, und die britische Regierung nahm eine Pionierrolle ein, handelte aber auch nicht fehlerlos. Erfolge blieben aus, wenn kein Wettbewerb eingeführt und lediglich ein öffentliches durch ein privates Monopol ersetzt wurde. Als Negativbeispiel gilt auch die Privatisierung von Britsh Rail, weil die erhoffte Sanierung des maroden Streckennetzes der unfallträchtigen britischen Staatsbahn nach dem Verkauf ausblieb.
Insgesamt stärkten die Privatisierungen jedoch den Privatsektor und das Unternehmertum und führten zu erheblichen Produktivitätssteigerungen. Als größter Erfolg der Thatcher-Regierung gilt neben der Senkung der Inflationsrate die Einleitung eines allgemeinen Stimmungswandels von einer Atmosphäre des Niedergangs hin zu Aufbruch und Optimismus.

Hans-Jürgen Schlösser

In beiden Konzepten wird eine zu geringe Investitionstätigkeit der Unternehmen als Hauptursache für Arbeitslosigkeit angesehen. Der Mangel an Investitionen wird aber unterschiedlich erklärt, und entsprechend unterscheiden sich die Therapievorschläge. Während die nachfrageorientierte Konzeption nach Keynes eine zu geringe Nachfrage auf den Gütermärkten als Ursache für den Investitionsmangel ansieht, werden in der angebotsorientierten Konzeption die Ursachen für zu geringe Investitionen darin gesehen, dass die Bedingungen für unternehmerische Tätigkeiten ungünstig sind. Der Grund für die Meinungsunterschiede über Strategien zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit besteht also in einer unterschiedlichen Analyse ihrer Ursachen. Mischformen beider Konzeptionen treten auf, wenn nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik zur Bewältigung kurzfristiger Probleme betrieben wird und angebotsorientierte Politik, um die langfristigen Wachstumsbedingungen der Volkswirtschaft zu verbessern.

Wachstumspolitik

Wirtschaftswachstum muss in einer marktwirtschaftlichen Ordnung als vorab unbekanntes Ergebnis millionenfacher privater und zusätzlich staatlicher Entscheidungen angesehen werden. Die Wachstumspolitik will in erster Linie die Wachstumsbedingungen verbessern. Sie zielt darauf ab, die Produktionsmöglichkeiten der Volkswirtschaft langfristig zu steigern.

Während die kurzfristig angelegte Konjunkturpolitik eine gleichmäßige Auslastung der Produktionsmöglichkeiten zum Ziel hat, will die langfristig orientierte Wachstumspolitik eine Ausweitung dieser Produktionsmöglichkeiten erreichen. Damit werden auch Fragen der Umweltpolitik und des Rohstoffverbrauchs interessant, zur wirtschaftspolitischen Intention der Wachstumsförderung tritt das Ziel der "Nachhaltigen Entwicklung".

Internationale Aspekte

Die Welt-Einkommensklassen

In den letzten Jahrzehnten hat sich der materielle Lebensstandard in allen Industrieländern deutlich erhöht. In Deutschland ist das reale Volkseinkommen pro Kopf beispielsweise mehr als viermal so groß wie im Jahr 1950. Allerdings bestehen zwischen den verschiedenen Staaten sehr große Unterschiede im Lebensstandard. An der Spitze stehen die USA. Nigeria jedoch erreicht nur drei Prozent des US-amerikanischen Pro-Kopf-Einkommens. Besonders bedenklich ist, dass es bezogen auf das Pro-Kopf-Einkommen der Länder kaum einen "Mittelstand" gibt: Im Jahr 2002 zählte die Weltbevölkerung sechs Milliarden Menschen. Davon lebten nur 800 Millionen in den 18 Ländern, die zur höchsten Einkommensgruppe gehören, meist in Europa und Nordamerika. Sie verfügten über ein Pro-Kopf-Einkommen von mehr als 25 000 Dollar pro Jahr. Fünf Milliarden Menschen dagegen lebten in armen Staaten, nämlich in 111 Ländern mit einem Pro-Kopf-Einkommen von weniger als 8000 Dollar pro Jahr. Nur 340 Millionen Menschen lebten im mittleren Bereich zwischen der Spitzengruppe und den armen Ländern. Das sind lediglich fünf Prozent der Weltbevölkerung.

Höchstwahrscheinlich werden die meisten der armen Nationen auch in zehn oder 20 Jahren noch arm sein. Aus Sicht der Volkswirtschaftslehre liegen die Ursachen für ökonomischen Erfolg oder Misserfolg in der Wirtschaftspolitik. Das Auseinanderklaffen der Pro-Kopf-Einkommen kann großenteils durch Produktivitätsunterschiede erklärt werden. In den reichen Ländern wird pro Arbeitsstunde und pro Arbeitskraft viel mehr Volkseinkommen erzeugt als in armen Ländern, weil erstere leistungsfähigere Technologien einsetzen, mit einer besseren Infrastruktur, beispielsweise Verkehrswegen, ausgestattet sind und die Produktion sowohl in den einzelnen Betrieben als auch in der Volkswirtschaft insgesamt effektiver organisiert ist.

Besondere Wachstumsprobleme haben die afrikanischen Staaten. Die meisten afrikanischen Länder waren 1960, als sie ihre Unabhängigkeit von den alten Kolonialmächten erlangten, sehr arm, und in vielen dieser Länder ist der Lebensstandard seither noch weiter zurückgegangen. Die Pro-Kopf-Produktion im Tschad und in Madagaskar lag 1992 nur bei 55 Prozent des Niveaus von 1960 (Nicholas Gregory Mankiw, Makroökonomik, 5. Aufl., Stuttgart 2003, S. 212).

Zwischen Wachstumspolitik und Entwicklungspolitik gibt es nur eine vage Trennlinie. Ein Unterschied besteht darin, dass die der Wachstumspolitik zugrunde liegende Wachstumstheorie in den Industriestaaten entwickelt worden ist und viele Institutionen, wie beispielsweise den Rechtsstaat oder die Demokratie, als gegeben voraussetzt. Die Entwicklungspolitik muss dagegen auch beachten, welche Institutionen für das Wachstum notwendig sind und wie sie geschaffen werden können.

Ansatzpunkte

Die Bestimmungsgründe des Wachstums liegen in der Menge und der Qualität der Produktionsfaktoren sowie in der Art und Weise ihrer Verwendung. Im Zentrum der wachstumspolitischen Überlegungen steht daher die Aufgabe der Allokation.

Ordnungspolitisch zielt Wachstumspolitik darauf ab, die Funktionsfähigkeit der Märkte sicherzustellen, um eine effiziente Allokation der Produktionsfaktoren zu gewährleisten. Das wichtigste Instrument dazu ist die Sicherung des Wettbewerbs. Unbehinderter Marktzutritt, Handels- und Gewerbefreiheit, Vertragsfreiheit sowie Maßnahmen gegen Wettbewerbsbeschränkungen durch Kartelle sowie gegen zu hohe Unternehmenskonzentrationen, die zum Missbrauch wirtschaftlicher Macht führen, sind die wichtigstenordnungspolitischen Elemente, welche die Funktionsfähigkeit der Marktwirtschaft sichern. Die Intensität des Wettbewerbs ist eine entscheidende Voraussetzung für die Wachstumsfähigkeit einer Volkswirtschaft.

In der wachstumspolitischen Praxis werden auch zahlreiche prozesspolitische Maßnahmen ergriffen, um die Menge und Qualität der Produktionsfaktoren zu erhöhen. Eine Senkung von Steuersätzen soll die Arbeits- und die Investitionsbereitschaft stärken, in vielen Ländern wird die Zuwanderung von qualifizierten Arbeitskräften aus dem Ausland gefördert, Steuervergünstigungen steigern die Sparbereitschaft und damit die Bildung von Kapital für Investitionen, zum Beispiel in neue Technologien und Produktionsstandorte. Diesem letzten Zweck dienen auch Investitionsprämien, Abschreibungserleichterungen und staatliche Beteiligungen am Investitionsrisiko der Unternehmen.

Auch der Bildungsstand der Bevölkerung, insbesondere deren berufliche Qualifikation, ist ein bedeutsamer Faktor für Wachstumsmöglichkeiten einer Wirtschaft. Wenn den Anforderungen einer expandierenden Wirtschaft Arbeitskräfte ohne ausreichende berufliche Qualifikationen gegenüberstehen, gerät das Wachstum ins Stocken. Das Recht auf Bildung stellt einerseits ein Bürgerrecht dar (so der deutsch-britische Soziologe und Politiker Ralf Dahrendorf); andererseits kann Bildung auch rein ökonomisch, wachstumspolitisch betrachtet werden. Dafür wird in der Wirtschaftswissenschaft der Begriff "Humankapital" verwendet. Investitionen in Humankapital können in dieser Sichtweise genauso unter Renditegesichtspunkten bewertet werden wie Investitionen in Sachkapital. Diese rein ökonomische Betrachtungsweise von Bildung als Humankapital schöpft gewiss nicht alle Dimensionen des Bildungsbegriffs aus, findet aber aus rein wachstumspolitischer Sicht eine Berechtigung.

Technischer Fortschritt erhöht die Qualität der produzierten Güter und gestaltet den Einsatz der dafür notwendigen Produktionsfaktoren effektiver. Aus diesem Grund fördert der Staat die Grundlagenforschung als öffentliches Gut und betreibt damit Wachstumspolitik. Beispielsweise unterstützt er physikalische Forschungen, bei denen der Einsatz von aufwändigen Groß-geräten erforderlich ist. Alsbesonders wachstumsbedeutsam werden heute die Nanotechnologie, optische Technologien, Informations- und Kommunikationstechnologien, Werkstofftechnologien, die Biowissenschaften und die Energieforschung angesehen.

In kurzer Frist lässt sich die Effizienz wachstumspolitischer Maßnahmen kaum messen. Sie können auch Mitnahmeeffekte bewirken, wenn der Staat Aktivitäten fördert, die auch ohne diese Förderung stattgefunden hätten. Mitnahmeeffekte sindim Einzelfall kaum nachzuweisen, aber umso eher zu erwarten, je anwendungs- undmarktnäher die geförderte Forschung ist, weil die Unternehmen diese aus Gewinnstreben selbst betreiben. Daher bleibt langfristig die Freiheit und Intensität des Wettbewerbs auf den Gütermärkten wahrscheinlich der wichtigste Motor für Wachstum und Innovation, denn die Innovationsfunktion des Wettbewerbs erzwingt von den Unternehmen Prozess- und Produktinnovationen und belohnt diese mit Pioniergewinnen.

Sozialpolitik

Staatliche Sozialpolitik besitzt eine Schutzfunktion, eine Produktivitätsfunktion sowie eine Verteilungsfunktion. Zur Sozialpolitik gehören Maßnahmen der sozialen Sicherung, daneben zusätzlich Bereiche wie Arbeitsschutzpolitik, Verteilungspolitik, Förderung tarifvertraglicher Übereinkünfte zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, betriebliche Sozialpolitik und Vermögenspolitik. Vielfach wird auch die Mitbestimmungspolitik zur Sozialpolitik gezählt.

Formen sozialer Grundsicherung

Mit ihrer Schutzfunktion dient die Sozialpolitik dem gesellschaftlichen Grundwert Sicherheit. Sie erfüllt diese Schutzfunktion dann, wenn sie Menschen, die nicht in der Lage sind, ihre Existenz durch Erwerbstätigkeit zu sichern, wirtschaftlich und sozial unterstützt. Geeignete Maßnahmen sollen die Stellung der betroffenen Menschen verbessern und verhindern, dass Personen durch existenzgefährdende Risiken in den Zustand wirtschaftlicher Schwäche geraten. Zu diesen Risiken gehören zum Beispiel Krankheit, Unfall, Arbeitslosigkeit, Invalidität oder Alter. Wichtige Instrumente zur Erfüllung dieser Schutzfunktion sind die "Grundsicherung für Arbeitsuchende" für die erwerbsfähigen Hilfebedürftigen und die mit ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen (ALG I - Sozialgesetzbuch [SGB], II. Buch) sowie die "Sozialhilfe" für bedürftige Nichterwerbsfähige und bedürftige Personen über 65 Jahre (SGB, XII. Buch).

Aufgabe der Sozialhilfe ist es, dem Empfänger die Führung eines menschenwürdigen Lebens zu ermöglichen. Die Hilfe soll ihn soweit wie möglich befähigen, später wieder unabhängig von ihr zu leben; hierbei muss er nach seinen Kräften mitwirken. Sozialhilfe erhält nicht, wer sich selbst helfen kann oder die erforderliche Hilfe von anderen erhält, besonders von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen. Auf Sozialhilfe besteht ein Anspruch. Er ist nicht übertragbar. Auch die erhaltenen Leistungen dürfen nicht verpfändet oder gepfändet werden (SGB XII. Buch, §1, §2).

Individualversicherung - Sozialversicherung

Die Produktivitätsfunktion der Sozialpolitik besteht darin, bei vorübergehendem Verlust der Erwerbsfähigkeit Maßnahmen zu ergreifen, welche diese Fähigkeit wiederherstellen. Schließlich hat die Sozialpolitik auch die Funktion der Verteilung: Sozialpolitik ist Umverteilungspolitik, wenn Einkommensbeziehern durch Steuern und Beiträge Mittel entzogen werden, die dann solchen Personen zugute kommen, die als bedürftig gelten.

Das sozialpolitische Leitbild einer freien Marktwirtschaft wird durch das Individualprinzip und das Versicherungsprinzip geprägt. Die Eigenvorsorge gegenüber existenzbedrohenden Risiken soll durch Sparen erfolgen, die Verantwortung für die Existenzsicherung liegt ausschließlich beim Einzelnen. Risiken, die sich nicht hinreichend durch Sparen abdecken lassen, werden durch Versicherungen gedeckt. Gleichartig bedrohte Personen schließen sich zu Gefahrengemeinschaften zusammen, in denen ein Risikoausgleich durchgeführt wird. Die Höhe der Auszahlungen, die jemand aus der Versicherung erhält, ist von den eingezahlten Beiträgen abhängig. Solche Versicherungen sind mit einer Kasko-Versicherung für das Auto oder einer privaten Lebensversicherung vergleichbar. Individual- und Versicherungsprinzip sind für die Sozialpolitik in den angelsächsischen Ländern, beispielsweise in den USA, leitend.

QuellentextGroßbritannien - ein Vorbild?

[...] Deutschland ist nicht Großbritannien [...]. Aus welchen Gründen hat der angelsächsische Neoliberalismus in Deutschland und im kontinentalen Europa keine konsequente Verwirklichung gefunden?
Vordergründig betrachtet, gibt das deutsche Regierungssystem der Bundesregierung im Vergleich zum britischen System deutlich geringere Handlungsfreiheiten. Das britische System "belohnt" über das Mehrheitswahlrecht die siegreiche Parlamentspartei, und im Gegensatz zur Theorie kontrolliert dann der Premierminister das Parlament und nicht umgekehrt. Daraus ergeben sich Handlungsfreiheiten, die eine deutsche Regierung nicht kennt. Ihre parlamentarische Bindung ist, noch dazu in Koalitionsregierungen, stark. Die Parteiführungen in der Regierung balancieren überdies ihre Macht und suchen ein Gleichgewicht zwischen der Sicherung ihres Staatsamtes und der Absicherung der Parteiloyalität. Schließlich kompliziert der deutsche Föderalismus jede politische Entscheidung und vor allem natürlich grundlegende Veränderungen der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse.
Die Interessenstruktur der deutschen Gesellschaft und ihr Einfluss über eine auch politisch agierende Medienwelt verleiht manchen wirtschaftlichen Interessen geradezu eine Blockade-Position, die auch genutzt wird.
Ein Vorgehen gegen die Gewerkschaften und ihre verbrieften Rechte, wie es die Premierministerin Thatcher in Großbritannien praktizierte, erscheint für Deutschland undenkbar.
Die großen gesellschaftlichen Gruppen sind traditionell eingebettet in gewachsene Strukturen des Zusammenlebens, des Wohnens, Arbeitens, Lernens in einem Staat, der bislang kaum anders gedacht worden war als umsorgender Staat, Sozialstaat also. In seiner geschichtlichen Verankerung ist er kaum in wenigen Legislaturperioden aus den Angeln zu heben. [...]

Hans-Hermann Hartwich, "Marktwirtschaft in Deutschland: Vom Keynesianismus zum Neoliberalismus", in: Gesellschaft-Wirtschaft-Politik 4/2006, S. 496f.

Die Soziale Marktwirtschaft hingegen folgt dem Leitbild des Sozialstaates. An die Stelle des Individualprinzips tritt das Sozialprinzip, und zum Versicherungsprinzip tritt im Sozialstaat das Fürsorgeprinzip, das zum Beispiel der Sozialhilfe zugrunde liegt. Die Sicherung des Existenzminimums ist im Sozialstaat eine staatliche Aufgabe. Flankierend dazu erzwingt der Staat durch Pflichtversicherungen die Eigenvorsorge der Bürger.

Träger der Sozialversicherung

Eine weiter gehende Zuständigkeit des Staates dagegen fordert das Konzept des Wohlfahrtsstaates. Hier kommt es zu einer Übernahme fast aller Risiken durch die Gesellschaft. Die skandinavischen Länder, insbesondere Schweden, haben sich in den 1970er Jahren an diesem Leitbild orientiert, sich inzwischen aber wieder davon abgewendet. Den Kernbereich der sozialen Sicherung stellen die Rentenversicherung und die vier Sozialversicherungen dar:

  • gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung,

  • Arbeitslosenversicherung und

  • gesetzliche Unfallversicherung.

In einem weiter gefassten Begriff von Sozialpolitik werden auch der Arbeitsschutz und die Mitbestimmung der Arbeitnehmer, Maßnahmen der Arbeitsmarktpolitik und der Bildungspolitik, des Wohnungsbaus und der Verbraucherpolitik zur Sozialpolitik gerechnet.

Sozialbeiträge

Bei Kontroversen um die Reform der Sozialpolitik und den "Umbau des Sozialstaates" treffen häufig Individualprinzip und Sozialprinzip aufeinander, beispielsweise wenn im Gesundheitswesen die einen mehr Selbstverantwortung und Eigenbeteiligung (Individualprinzip) fordern, die anderen dagegen für Solidarität der Gesunden mit den Kranken und für eine einkommensabhängige Bemessung der Versicherungsbeiträge plädieren (Sozialprinzip). Ausgelöst durch schwerwiegende Finanzierungsprobleme bei den Systemen der sozialen Sicherung hat sich eine kontroverse Diskussion um gesellschaftliche Grundwerte und ihre sozialpolitische Erfüllung entwickelt.

Umweltpolitik

Aus volkswirtschaftlicher Sicht sollen sowohl die ökonomischen als auch ökologischen Auswirkungen berücksichtigt werden, die das Verhalten einzelner Haushalte und Unternehmen auf alle Mitglieder der Gesellschaft hat. Dabei müssen auch globale Wechselwirkungen (Klimaschutz) Beachtung finden. Eine intakte Umwelt hat positive externe Effekte und ist ein öffentliches Gut. Deshalb fördert der Staat den Umweltschutz und subventioniert umweltfreundliche Technologien. Umweltbelastungen stellen negative externe Effekte dar, und Umweltpolitik hat die Aufgabe, sicherzustellen, dass diese negativen externen Effekte internalisiert werden. Dafür stehen verschiedene Maßnahmen zur Verfügung:

Ein traditioneller Weg der Umweltpolitik besteht darin, den Unternehmen Umweltstandards zu setzen, also beispielsweise Obergrenzen für Emissionen, und sie zu bestrafen, wenn sie diese Standards verletzen. Der Ausstoß von Schadstoffen durch Betriebe wird zum Beispiel "am Schornstein" (end of pipe) gemessen, und bei einer Verletzung der Auflagen drohen Geldbußen bzw. strafrechtliche Verfolgung. Diese Politik der Umweltauflagen ist in allen Industrieländern verfolgt worden und hat dazu geführt, dass die Schadstoffbelastung zurückgegangen ist oder zumindest ihr Anstieg gedämpft werden konnte.

Allerdings werden gegen staatliche Umweltauflagen drei Kritikpunkte ins Feld geführt:

  • Die Umweltbelastung ist immer noch zu hoch. Die Umweltpolitik muss mehr Umweltschutz verwirklichen als bisher.

  • Die Umweltpolitik ist zu teuer. Einige Unternehmen werden mit so hohen Kosten für Umweltschutzmaßnahmen belastet, dass ihre internationale Konkurrenzfähigkeit darunter leidet.

  • Die Umweltpolitik ist zu bürokratisch. Große Umweltbürokratien sind unbeweglich und arbeiten ineffizient.

Umweltauflagen sind mit dem Risiko verbunden, dass die Verursacher von Umweltschäden nicht motiviert werden, von sich aus ihre Schadstoffabgaben unter das vom Staat als Obergrenze vorgegebene Niveau zu senken. Eine Umweltauflage kann demgegen-über eher als "Erlaubnis" angesehen werden, bis zur vorgeschriebenen Obergrenze Schadstoffe kostenlos abzugeben. Damit werden falsche Anreize gesetzt: Wer von sich aus die Umwelt über das vom Staat vorgeschriebene Maß schont, wird finanziell "bestraft", wer dagegen die Erlaubnis zur Umweltverschmutzung voll ausnutzt, hat einen wirtschaftlichen Vorteil.

Um mehr Umweltschutz zu erreichen, muss der Staat die Umweltstandards ständig verschärfen. Welche Umweltstandards allerdings technisch durchführbar und wirtschaftlich tragbar sind, hängt vom Stand der Technik ab. Der Staat muss dies selbst definieren und gerät dabei in die schwierige Lage, herausfinden zu müssen, wie viel Umweltschutz die Unternehmen realisieren könnten, wenn sie nur wollten. Die Unternehmen ihrerseits, die ihre technischen Produktionsverhältnisse besser kennen als der Staat, haben keinen Anreiz dazu, ihre Umweltschutzmöglichkeiten offen zu legen, denn dies würde eine Verschärfung der Standards und damit einen Anstieg der Produktionskosten nach sich ziehen. So kommt es immer wieder zu langwierigen Verhandlungen zwischen Staat und Wirtschaft, welches denn der Stand der Technik sei. Ob die gefundenen Kompromisse umweltpolitisch optimal sind, lässt sich am Ende kaum noch beurteilen.

Hinzu tritt, dass die volkswirtschaftlichen Kosten des Umweltschutzes umso höher sind, je undifferenzierter die Standards gesetzt werden. Für das eine Unternehmen mag die Senkung der Schadstoffabgabe um fünf Prozent nur mit einer sehr geringen Kostensteigerung verbunden sein, für ein anderes hingegen wirkt dieselbe Verschärfung ruinös.

Einige Probleme im Zusammenhang mit Umweltauflagen können durch Umweltabgaben gelöst werden. Diesem Prinzip folgt beispielsweise der "Wasserpfennig" (Wasserentnahmeentgelt), welcher auf den Verbrauch von öffentlichem Wasser (Grundwasser, Oberflächenwasser) durch Haushalte und Unternehmen - mit verminderten Raten für bestimmte Industriezweige - erhoben wird.

Bei Umweltabgaben auf Schadstoffe müssen die Unternehmen nicht nur eine Obergrenze einhalten, sondern sie müssen für jede abgegebene Mengeneinheit eines Schadstoffes eine Abgabe entrichten. Umweltbelastung wird damit von Anfang an zu einem Kostenfaktor.

Die Unternehmen haben daher ein Interesse daran, die Umwelt nur in geringerem Maße zu verschmutzen als es erlaubt ist. Sie werden angeregt, nach neuen, umweltschonenden Produktionstechniken zu suchen, um Umweltabgaben zu vermeiden. Zumindest in diesem Punkt wird der Staat davon entlastet, den Stand der Technik zu definieren, und das Umweltschutzbestreben der Unternehmen kann eine Eigendynamik entwickeln, weil Umweltschutz Geld spart.

Emissionsrechte

Das Problem der Umweltabgaben besteht allerdings darin, wie hoch sie festgesetzt werden. Sind sie zu niedrig, so stellen sie keinen Anreiz zum Umweltschutz dar, sind sie zu hoch, so wirken sie wie eine Umweltauflage, die wirtschaftlich nicht tragbar ist.

Eine dritte Lösung stellt das Konzept von Märkten für Emissionsrechte (emission permits) dar. Dabei müssen die Unternehmen für Emissionsrechte einen Preis entrichten, der sich durch Angebot und Nachfrage bildet. Liegt der Preis für Emissionsrechte über den Kosten der Schadstoffvermeidung, so kann ein Unternehmen seinen Gewinn erhöhen, wenn es die Schadstoffabgabe vermindert und danach die nicht mehr benötigten Emissionsrechte verkauft. Käufer werden Unternehmen mit hohen "Vermeidungskosten" sein.

Der Staat legt fest, wie viele Emissionsrechte insgesamt ausgegeben werden. Damit bestimmt er eine Obergrenze für die Schadstoffabgabe insgesamt. Der Preis, der sich für die Emissionsrechte am Markt bildet, zeigt dann die Knappheit des öffentlichen Gutes Luftreinheit an.

Das Konzept der Emissionsrechte wird beim Klimaschutz angewendet. Die Weltklimaschutz-Konferenz hat im Rahmen des Kyoto-Protokolls von 1997 die Einführung eines solchen Systems zur Senkung des Kohlendioxidausstoßes beschlossen.

Außenwirtschaftspolitik

Die ordnungspolitischen Rahmenbedingungen des außenwirtschaftlichen und des binnenwirtschaftlichen Handelns müssen zueinander passen. Eine marktwirtschaftliche Binnenwirtschaftspolitik geht nicht mit einer planwirtschaftlichen Außenwirtschaftspolitik zusammen, und eine Planwirtschaft im Innern lässt sich nur schwer in eine marktwirtschaftlich organisierte Weltwirtschaft integrieren. Daran ist zum Beispiel nach dem Zweiten Weltkrieg eine Eingliederung der Sowjetunion und anderer planwirtschaftlicher Volkswirtschaften in die globale Wirtschaft gescheitert. China hingegen, das sich zunehmend in die Weltwirtschaft integriert, hat dafür zumindest in Teilbereichen und -regionen seine sozialistische Planwirtschaft marktwirtschaftlichen Reformen unterworfen, zu denen die Sowjetunion seinerzeit nicht willens bzw. nicht fähig war.

Eine rein marktwirtschaftliche Außenwirtschaftspolitik entspricht einer freien Marktwirtschaft im Binnenraum. Das Koordinationssystem ist der sich über die nationalen Grenzen hinaus entwickelnde Markt; die Entscheidungsfreiheit der Wirtschaftssubjekte ist das oberste Prinzip. Die Prozesspolitik versucht nicht, die internationalen Transaktionen mit Gütern, Kapital und Dienstleistungen zu steuern.

Doch dieses Modell einer rein marktwirtschaftlichen Binnen- und Außenwirtschaft hat es in der Realität noch nie gegeben. Zu unterschiedlich sind die wirtschaftspolitischen Zielsetzungen der verschiedenen Staaten, und auch in den internationalen Wirtschaftsbeziehungen werden die Marktergebnisse aus sozialpolitischen, umweltpolitischen und anderen Gründen korrigiert.

Auch eine Planwirtschaft in Reinkultur hat es mit wenigen Ausnahmen - so die ehemalige DDR undNordkorea - nie gegeben. Eine rein planwirtschaftliche Außenhandelspolitik entspricht einem totalen staatlichen Außenhandelsmonopol. Alle Entscheidungen der einzelnen Bürger werden durch die Entscheidung einer zentralen Behörde ersetzt. Sie allein beschließt also, welche Güter und Dienstleistungen exportiert oder importiert werden.

Den verschiedenen ordnungspolitischen Konzeptionen entsprechen unterschiedliche Vorstellungen von einer idealen Weltwirtschaftsordnung. Im marktwirtschaftlichen Leitbild verzichten die Regierungen darauf, Handelsströme zu lenken. Ziel ist eine Weltwirtschaft, die einen einzigen großen Markt darstellt. Im Prinzip ist die Welthandelsorganisation, die World Trade Organisation (WTO), diesem marktwirtschaftlichen Leitbild verpflichtet. Der Gegenpol ist das Ideal einer Weltwirtschaftsordnung, in welcher der gesamte Welthandel durch eine Zentrale gesteuert wird, wobei offen bleibt, wer diese Steuerung durchführen sollte.

Wiederum zeigt die Wirklichkeit gemischte Ordnungsformen. In den meisten Staaten dürfen die Einzelnen selbst entscheiden, ob sie ausländische Güter kaufen oder etwas ins Ausland verkaufen wollen, jedoch versucht die staatliche Seite, auf diese Entscheidungen Einfluss zu nehmen. Die Regierungen erheben Zölle, beschränken die Import- und Exportmengen durch festgelegte Kontingente und erlassen technische und verwaltungsrechtliche Vorschriften, welche die Konkurrenz aus dem Ausland behindern.

Niemand bestreitet heute, dass die internationale Arbeitsteilung allen Beteiligten Vorteile bietet, denn sie hat zur Folge, dass die Güter dort produziert werden, wo die Produktion am kostengünstigsten erfolgen kann. Genau wie die Arbeitsteilung im Inland führt die weltweite Arbeitsteilung zu Spezialisierung und damit zu Produktivitätsgewinnen. Aus der Sicht der Konsumenten bietet sie nur Vorteile, denn sie erhöht die Gütervielfalt und senkt die Preise. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft den einzelnen Konsumenten in den Mittelpunkt stellt (Konsumentensouveränität).

Aus der Sicht der Arbeitnehmer und der Unternehmen bedeutet internationale Arbeitsteilung aber nicht nur die Chance, neue Märkte im Ausland zu erschließen, sondern auch Konkurrenz aus dem Ausland. Daher erfolgt häufig der Ruf nach Schutz vor ausländischen Wettbewerbern, den der Staat bieten soll.

Die Staaten der Europäischen Union haben jedoch ihre handelspolitische Souveränität an die EU abgegeben: Die Europäische Kommission vertritt in diesem Bereich als supranationaler Akteur die EU nach außen. Während die EU-Mitglieder untereinander ihre Zölle vollständig abgebaut haben, hält die Union als Ganzes Außenzölle aufrecht. Die Handelspartner der EU kritisieren dies mit dem Schlagwort "Festung Europa". Ziel der internationalen Handelspolitik, deren wichtigstes Forum die WTO darstellt, ist es, Kompromisse herbeizuführen, die einerseits die unbestrittenen Vorteile der internationalen Arbeitsteilung sichern und andererseits den verschiedenen Staaten erlauben, ihre binnenwirtschaftlichen Ziele zu berücksichtigen. Dies erfordert langwierige und oft sehr harte Verhandlungen der internationalen "Handelsdiplomatie".

Eine Voraussetzung für eine marktwirtschaftliche Weltwirtschaftsordnung besteht darin, dass ausländische Zahlungsmittel in inländisches Geld umgetauscht werden können und umgekehrt (Konvertibilität der Währungen). Hinzu tritt der freie Kapitalverkehr: Kapital soll in die Regionen fließen können, wo es die höchste Rentabilität findet, und dort für Investitionen sorgen. Ein staatlicherseits bisher ungelöstes bzw. schwer lösbares Problem sind dabei jedoch die Folgewirkungen für eine Volkswirtschaft, wenn Kapitalanleger ihre im betreffenden Land angelegten Gelder kurzfristig und in großen Mengen abziehen. Grundsätzlich wird die Bildung der Wechselkurse sowie der Zu- und Abfluss des Kapitals den Marktkräften überlassen, allerdings greifen die Währungsbehörden durch Käufe und Verkäufe von Devisen in den Prozess der Wechselkursbildung ein, um zu starke Wechselkursausschläge zu vermeiden.

Damit finden wir sowohl in der Außenhandelspolitik als auch in der Wechselkurspolitik vielfältige staatliche Eingriffe. Internationale Organisationen spielen dabei als Akteure und als Foren eine immer wichtigere Rolle. Dazu gehören zum Beispiel der Internationale Währungsfonds (IWF), die WTO und die G 8 - die Gruppe der sieben führenden Industrieländer mit Russland.

Europäische Wirtschaftspolitik

Nicht nur die Handelspolitik nach außen findet auf der Ebene der EU statt, sondern auch alle Bemühungen zur Verbesserung des EU-Binnenwirtschaftsraumes. Im März 2000 einigten sich die Staats- und Regierungschefs im Rahmen des EU-Gipfeltreffens in Lissabon darauf, die EU bis 2010 "zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten Wirtschaftsraum der Welt" zu entwickeln, "einem Wirtschaftsraum, der fähig ist, ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum mit mehr und besseren Arbeitsplätzen und einen größeren sozialen Zusammenhalt zu erreichen." Im Jahr 2001 ergänzte der Europäische Rat von Göteborg diese Zielsetzung um Umweltschutz und nachhaltige Entwicklung.

QuellentextBesser als ihr Ruf - die Arbeit der Brüsseler "Eurokraten"

[...] Vor 50 Jahren begann das europäische Abenteuer mit sechs Ländern und einem "Gemeinsamen Markt", der so gemeinsam nicht war. Im Kern war es bloß eine Zollunion, und freie Fahrt gab's nur für Produkte, nicht einmal für Menschen, die nach wie vor ihre Pässe am Schlagbaum vorzeigen mussten.
Heute sind es 27 Länder mit einer halben Milliarde Bürger - ein Vielvölkerstaat, der von Sevilla bis nach Sofia reicht, mit gemeinsamem Pass und Geld, mit freiem Verkehr auch für Kapital und Arbeit, mit eigener Justiz und Verwaltung, mit Parlamentswahlen und militärischen Eingreifkräften. Klingt immer noch langweilig, weil es so selbstverständlich ist?
Dann noch einmal zurück: Wer hätte 1957, zwölf Jahre nach dem furchtbarsten aller Kriege, vorauszusagen gewagt, dass [...] sich dieser Kriegskontinent nach 2000 Jahren Gemetzel in eine Festung des Friedens verwandeln würde? Zum größten Wirtschaftsblock auf Erden aufsteigen würde? Und sich als Modernisierungsmaschine sondergleichen entpuppen würde?
[...] [Die] viel gescholtenen "Eurokraten", die bekanntlich auch die Krümmung von Gurken und die Höhe von Traktorensitzen bestimmen wollen, haben vollbracht, was keine Regierung aus eigener Kraft geschafft hätte.
In ihrem Deregulierungsdrang haben sie Mauern und Privilegien geschleift, den harten Wind des Wettbewerbs durch einst geschützte Räume blasen lassen. Ohne Europa würden wir vielleicht heute noch mit schwarzen Wählscheibenapparaten unter staatlicher Regie telefonieren. Tatsächlich kann ein Hamburger heute billiger mit einem New Yorker plaudern als umgekehrt. Weil die EU es so will, müssen die astronomischen Handygebühren purzeln. "Nationale Favoriten" wie Banken, Airlines oder Energiekonzerne müssen europaweit um ihre Kunden kämpfen. Und wehe den Firmen, die sich zu räuberischen Kartellen zusammenrotten.
Bismarck notierte einst: Qui parle d'Europe a tort - etwa: Wer sich auf Europa beruft, handelt mit Illusionen. Nach 50 Jahren ist Europa nicht nur eine Realität, sondern auch ein Magnet, ein "Imperium", das sich - historisch einmalig - nicht durch Gewalt, sondern durch schieres Gelingen ausdehnt. [...]

Josef Joffe, "Von wegen Alte Welt!", in: Die Zeit Nr. 13 vom 22. März 2007

Im Zentrum der Lissabon-Strategie stehen der Übergang zur wissensbasierten Gesellschaft, die Förderung von Forschung und Entwicklung, die Weiterentwicklung des Binnenmarktes sowie eine europäische Wachstumspolitik. Hinzu tritt die Bekämpfung sozialer Ausgrenzung. Zur Erreichung dieser Ziele sollen in der EU unter anderem die Investitionen in Forschung und Entwicklung von ursprünglich 2,2 Prozent auf drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts gesteigert und die Verwaltungsbürokratie abgebaut werden. Zu den Zielen gehören außerdem, die Einführung von Informationstechnologien zu erleichtern sowie Wettbewerb und Unternehmertum zu fördern.

Auf den regelmäßigen Treffen der Staats- und Regierungschefs im Frühjahr (Frühjahrsgipfel) wird überprüft, welche Fortschritte im Sinne der Lissabon-Strategie erreicht worden sind und welche zusätzlichen Maßnahmen veranlasst werden sollen. Dies erfolgt auf der Basis eines Berichts, den die Europäische Kommission vorlegt. Zusätzlich hat die Kommission 2005 ein eigenes "Lissabon-Programm für die Gemeinschaft" erarbeitet, das die Maßnahmen umfasst, die auf Gemeinschaftsebene ergriffen werden sollen. Für die Ebene der einzelnen Mitgliedstaaten stellen die Regierungen wiederum nationale Reformprogramme auf, die den spezifischen nationalen Gegebenheiten entsprechen. Die Regierungen erarbeiten anschließend Berichte darüber, wie ihre Reformprogramme auf nationaler Ebene umgesetzt worden sind.

Praktische Umsetzung mit Mängeln

Karikatur: Bürokratieabbau

Der optimistischen Aufbruchstimmung von Lissabon folgten jedoch bald Enttäuschung und Stillstand. Die Euphorie der New Economy brach zusammen und die europäische Konjunktur erlahmte. Die Fortschrittsberichte der Europäischen Kommission in den Jahren 2003 bis 2005 zeichneten ein düsteres Bild von der Wettbewerbsfähigkeit der EU: Wirtschaftsreformen wurden nur widerwillig durchgeführt, die Ausgaben für Forschung und Innovation kaum aufgestockt. Insgesamt verlor die EU wirtschaftlich gegenüber den USA und Japan an Boden.

Um die Lissabon-Strategie wiederzubeleben, ernannten die Staats- und Regierungschefs der EU im Jahr 2004 den früheren niederländischen Ministerpräsidenten Wim Kok zum Vorsitzenden einer Sachverständigengruppe mit dem Ziel, die Mitgliedstaaten und Interessengruppen stärker in den Lissabon-Prozess einzubeziehen. Die Akteure der Gesellschaft sollten dabei stärker eingebunden werden, damit der Lissabon-Pozess nicht allein ein Projekt der politischen Eliten bliebe. Der Kok-Bericht kam zu dem Schluss, dass "eine überfrachtete Agenda, eine mangelhafte Koordinierung, miteinander konfligierende Prioritäten" für das enttäuschende Ergebnis verantwortlich seien. Vor allem machte der Bericht die Mitgliedstaaten und ihren Mangel an politischem Willen für das schlechte Ergebnis verantwortlich. Er enthielt aber auch zahlreiche Vorschläge für die Weiterentwicklung der nationalen Aktionsprogramme und für die Verbesserung der politischen Steuerung sowie die Umsetzung des Lissabon-Prozesses. Nach dieser enttäuschenden Halbzeitbilanz wurde die Lissabon-Strategie 2005 neu ausgerichtet und auf Wirtschaftswachstum und Beschäftigung fokussiert.

Beim Frühjahrsgipfel unter deutscher Ratspräsidentschaft im März 2007 in Brüssel standen die erneuerte Lissabon-Strategie für Wachstum und Beschäftigung, eine bessere Rechtsetzung und die integrierte Energie- und Klimapolitik im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Im Zeichen der Lissabon-Strategie ging es vornehmlich um die Frage, wie die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für Unternehmen sowie Bürgerinnen und Bürger durch den Abbau von Bürokratie verbessert, der Binnenmarkt gestärkt und das Europäische Sozialmodell weiterentwickelt werden können. Reformbedarf sah der Europäische Rat im Hinblick auf die Nachhaltigkeit der öffentlichen Finanzen, die Steigerung der Beschäftigungsquoten, die Modernisierung der Bildungssysteme und die Stärkung von Forschung und Innovation.

QuellentextWeniger Regulierung sichert den Standort Europa

Vor wenigen Monaten hat die EU-Kommission eine neue Initiative zum Abbau von unnötiger Bürokratie und Überregulierung gestartet. Damit wollen wir das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die europäische Integration stärken und dem Eindruck entgegentreten, die EU sei ein regulierungswütiges bürokratisches Monster. Gleichzeitig wollen wir Wachstumskräfte in der Wirtschaft freisetzen, die durch zu viele oder zu komplizierte Vorschriften gehemmt sind. Wir dürfen die gefährliche Wirkung einer Wahrnehmung keinesfalls unterschätzen, die Brüssel mit seelenloser und wenig transparenter Bürokratie gleichsetzt.
Wir alle sind gefordert, Kommission, Parlament und Ministerrat durch konkrete Taten zu beweisen, dass Europa so nicht ist. Bessere Rechtsetzung ist aber auch ein wesentlicher Teil der Wachstums- und Beschäftigungsinitiative der EU. Die Barroso-Kommission hat mehr Wachstum und mehr Arbeitsplätze zur obersten Priorität ihrer Arbeit erklärt. Sie hat die Lissabon-Strategie für Wachstum und Beschäftigung in diesem Sinne überarbeitet und die Politikfelder hervorgehoben, die einen entscheidenden Beitrag zur Stärkung des Wachstums und zur Schaffung neuer Arbeitsplätze leisten können. Bessere Rechtsetzung ist eines dieser zentralen Politikfelder. [...]
Nur wenn es uns gelingt, die Bürokratie zu entschlacken, sinnlos gewordene Regelungen aufzuheben, und Industrie und Dienstleistern einen modernen und langfristig berechenbaren Rechtsrahmen vorzugeben, werden wir Europa als Standort sichern und seine Chancen im globalen Wettbewerb verbessern. Bei diesem Vorhaben geht es nicht um ideologisch befrachtete Deregulierung. Es geht um "bessere Regulierung". Der Binnenmarkt braucht einen klaren und berechenbaren Rechtsrahmen. Wir müssen jedoch dafür sorgen, dass unsere Gesellschaften nicht mit unnötiger Bürokratie belastet werden und dass unsere Bürgerinnen und Bürger die Gewissheit haben, dass europäisches Recht mit der größtmöglichen Sorgfalt vorbereitet wird und nur dort greift, wo europäische Regelungen auch notwendig sind. [...]

Günter Verheugen, "Weniger Bürokratie sorgt für mehr Wachstum", in: Deutscher Industrie- und Handelskammertag (Hg.), Sonderdienst zum Jahr "Unternehmen Europa", Dezember 2005

Ein wirtschaftspolitischer Schwerpunkt der deutschen Ratspräsidentschaft ist jedoch die Verbesserung der Rechtsetzung. Trotz vielfältiger Initiativen der Europäischen Kommission konnten für die europäischen Unternehmen bislang nur wenige spürbare Entlastungen von Bürokratiekosten erreicht werden. Solche Kosten entstehen zum Beispiel durch gesetzliche Informations- und Statistikpflichten. Auf EU-Ebene strebt der Europäische Rat bis 2012 einen Abbau von 25 Prozent der Bürokratiekosten aus EU-Recht an. Dies beträfe Verordnungen, Richtlinien und deren Umsetzung. Die Europäische Kommission, welche den Wohlstandsgewinn aus dem Bürokratieabbau in der EU auf 150 Milliarden Euro schätzt, hat bereits ein entsprechendes Aktionsprogramm für die Bereiche Gesellschaftsrecht, Landwirtschaft, Statistik und Lebensmittelhygiene vorgelegt.

Aktuelle Herausforderungen

Maßnahmen zur Stärkung des Binnenmarktes sind aktuell die Liberalisierung der Postmärkte und die Vollendung des Binnenmarktes für Telekommunikation. Bis 2009 soll gewährleistet werden, dass alle Unternehmen, die Postdienstleistungen erbringen, gleiche Eintrittschancen im gesamten Gebiet des Binnenmarktes haben. In der Telekommunikation geht es um die Absenkung der Entgelte für die Nutzung fremder Netze mit Mobiltelefonen (internationales Roaming), um Verbraucherinnen und Verbraucher sowie Unternehmen zu entlasten und mehr Markttransparenz zu schaffen.

Darüber hinaus strebt der Europäische Rat einen vollständig funktionierenden europäischen Binnenmarkt für Strom und Gas an. Dieser soll stärker zusammenwachsen und mehr Dynamik entfalten. Alle konkurrierenden Energieversorger sollen die Strom- und Gasnetze wie einen neutralen Marktplatz zur Durchleitung der Energie nutzen können. Deshalb ist ein Ziel, den Betrieb der Netze von der Energieerzeugung und dem Vertrieb zu trennen (Entflechtung), um ungleiche Zugangsbedingungen zu den Netzen zu verhindern.

Wie die Lissabon-Strategie insgesamt dienen auch die Maßnahmen zur Weiterentwicklung des europäischen Binnenmarktes dem Ziel, Europa gegenüber anderen Wirtschaftsregionen wie den USA, Japan und den neuen Zentren um China, Indien und Lateinamerika konkurrenzfähiger zu machen. Europa soll aber nicht nur wettbewerbsfähig, sondern auch sozial sein. Bei der Lissabon-Strategie geht es um die Gestaltung einer europäischen Ordnungspolitik, für die gemeinsame Grundwerte erforderlich sind. Deshalb kann dieses Projekt nur erfolgreich sein, wenn es nicht nur von den politischen Eliten, sondern von der großen Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger verstanden und getragen wird.

Dr. rer. pol. M. Sc. (LSE), Jahrgang 1952, ist Universitätsprofessor für Wirtschaftswissenschaft und Wirtschaftsdidaktik an der Universität Siegen und Leiter des Zentrums für ökonomische Bildung Siegen (ZöBiS). Seine Arbeitsschwerpunkte sind theoretische und empirische Forschungen zur ökonomischen Bildung, das Menschenbild der Ökonomie sowie Ordnungs- und Wettbewerbspolitik. Hans Jürgen Schlösser hat Volkswirtschaftslehre, Erziehungswissenschaft und Philosophie an der Universität Münster, dem Institut für Weltwirtschaft in Kiel und an der London School of Economics studiert. Vor seiner Berufung an die Universität Siegen hielt er Professuren an der TU Chemnitz und an der Universität Koblenz-Landau.

Kontakt: schloesser@wid.wiwi.uni-siegen.de