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Türkische Minderheit in Deutschland | Vorurteile | bpb.de

Inhalt Editorial Was sind Vorurteile? Fremde, Fremdsein - von der Normalität eines scheinbaren Problemzustandes "Fremde" in den Medien Türkische Minderheit in Deutschland Polenbilder in Deutschland seit 1945 Rassistische Vorurteile Antisemitismus Sinti und Roma als Feindbilder "Zigeuner" und Juden in der Literatur nach 1945 Vorurteile gegen sozial Schwache und Behinderte Stereotype des Ost-West-Gegensatzes Literaturhinweise und Internetadressen Autorinnen und Autoren, Impressum

Türkische Minderheit in Deutschland

Angelika Königseder / Birgit Schulze

/ 19 Minuten zu lesen

Bei der Eröffnung der größten Moschee in Duisburg halten junge Türken Plakate mit der Aufschrift "Made in Marxloh" hoch. (© picture-alliance/AP)

Einleitung

Als zahlenmäßig stärkste Gruppe von in Deutschland lebenden ausländischen Staatsangehörigen werden Türkinnen und Türken oder türkischstämmige Deutsche - von Asylsuchenden abgesehen - häufig mit dem Begriff "Ausländer" gleichgesetzt. Dies hat zur Folge, dass alle vermeintlichen oder tatsächlich vorhandenen Probleme im Zusammenleben mit Ausländerinnen und Ausländern und die daraus entstehenden Vorurteile auf diese Bevölkerungsgruppe projiziert werden. Fast die Hälfte der Deutschen stimmt so platt formulierten Vorurteilen zu wie "Ausländer nehmen uns die Arbeit weg", sie "lassen sich nicht integrieren; speziell die Türken lernen kein Deutsch" oder "Ausländer machen laute Musik, haben nur Ansprüche und wollen nicht arbeiten".

In weiten Kreisen gibt es Ängste vor einer drohenden "Überfremdung" und den Auswirkungen eines radikalen Islam, die durch die Ereignisse seit dem 11. September 2001 noch verstärkt wurden. Pauschal unterstellt wird auch, dass alle türkischen Frauen unterdrückt würden, alle jungen türkischen Männer Machos seien, "die Türken" kaum Deutsch sprächen und sich nicht anpassten. Diese vagen und stereotypen Einschätzungen und Bilder betreffen eine sehr differenzierte Gruppe, die von säkularisierten, gebildeten Stadtbewohnern über anatolische Bauern, von gläubigen Moslems bis hin zu wenigen radikalen Islamisten oder kurdischen Asylbewerbern auf der Flucht vor den Verfolgungen in ihrer Heimat reicht.

Geschichtlicher Rückblick

Schon vor dem Ersten Weltkrieg arbeiteten das Deutsche und das Osmanische Reich militärisch und wirtschaftlich zusammen. 1912 lebten in Berlin etwa 1350 Türken. Mit der viel beschworenen deutsch-türkischen "Waffenbrüderschaft" im Ersten Weltkrieg intensivierten sich die Beziehungen. Bereits 1916 wurde in Berlin eine Deutsch-Türkische Vereinigung gegründet, die mit der türkischen Regierung ein Lehrlingsabkommen schloss. Während der NS-Herrschaft fanden viele oppositionelle Deutsche, darunter auch Wissenschaftler und Künstler, Zuflucht in der Türkei.

Anwerbeabkommen

In den ersten Nachkriegsjahren gab es zwischen Deutschland und der Türkei wenig Austausch. In den Jahren des "Wirtschaftswunders" machte sich jedoch in der Bundesrepublik trotz der großen Zahl von Vertriebenen und Zuzüglern aus der DDR besonders nach dem Mauerbau 1961 ein steigender Bedarf an Arbeitskräften bemerkbar. Daher schloss die Bundesregierung von 1955 bis 1968 mit mehreren Staaten Anwerbeabkommen, darunter 1961 mit der Türkei.

Bis Mitte der 1960er Jahre war es allgemeiner Konsens, dass die ausländischen Arbeitskräfte - die "Gastarbeiter", wie sie bald im öffentlichen Sprachgebrauch hießen - nur vorübergehend in Westdeutschland leben und arbeiten sollten. Im Anwerbeabkommen mit der Türkei war die Aufenthaltsdauer auf maximal zwei Jahre festgeschrieben. Da lediglich der Bedarf der Wirtschaft nach Arbeitskräften erfüllt werden sollte, gab es keine Überlegungen oder gar Planungen hinsichtlich einer dauerhaften Ansiedlung der Zuwanderer. Von einigen Spezialisten wie etwa hochqualifizierten türkischen Fachärzten abgesehen, übernahmen die Arbeitsmigranten meist Stellen, für die sich keine Deutschen bewarben. Folglich fand ihr Einsatz in der Gesellschaft allgemeine Zustimmung. Eine mögliche Integration der Arbeiter und eine Auseinandersetzung mit ihrem Herkunftsland, ihren Traditionen und ihrer Religion schien nicht notwendig zu sein, da Arbeitskräfte nur kurzfristig benötigt wurden und im wirtschaftlichen Krisenfall wieder in ihre Heimat zurückkehren sollten.

Bereits in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre wurde das Rotationsprinzip - nicht zuletzt auf Betreiben der Wirtschaft, die die Anlernkosten scheute - gelockert. Noch während der Rezession 1966/67 waren zahlreiche ausländische Arbeitskräfte, die ihre Stelle verloren hatten, in ihr Herkunftsland zurückgekehrt. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung kamen sie in die Bundesrepublik zurück. Im Oktober 1973 erließ die Bundesregierung wegen der Ölkrise und dem daraufhin befürchteten wirtschaftlichen Rückgang einen Anwerbestopp. Im selben Jahr hatte die Beschäftigung von ausländischen Arbeitnehmern mit rund 2,6 Millionen ihren Höhepunkt erreicht. In den Rezessionsphasen 1974/75 und 1981 bis 1984 kehrten ausländische Arbeitslose jedoch weit seltener in ihre Heimat zurück, weil sie befürchteten, keine abermalige Rückkehrerlaubnis in die Bundesrepublik zu erhalten.

Familienzusammenführung

Bis zum Anwerbestopp waren vor allem junge Männer nach Deutschland gekommen. Im Rahmen der Familienzusammenführung ab 1974 begannen die Arbeitskräfte verstärkt, ihre Angehörigen nachzuholen. Damit stieg auch die Aufenthaltsdauer. 2004 lebten mehr als 73 Prozent der Türken länger als zehn Jahre in Deutschland, davon 20,5 Prozent sogar länger als 30 Jahre.

Aus "Gastarbeitern" waren de facto Einwanderer geworden. Viele Vertreter der ersten Generation von Arbeitsmigranten blieben im Land - ungeachtet ihres früheren Vorsatzes, in Deutschland rasch Geld zu verdienen, um sich zu Hause eine gesicherte Existenz aufbauen zu können. Oftmals wollten die Kinder und Enkelkinder nicht zurück in die Türkei, und so blieben auch die Älteren bei den Familien in Deutschland.

Arbeitslosigkeit

Mit verlängerter Aufenthaltsdauer waren die in Deutschland lebenden Türken auch stärker von Arbeitslosigkeit betroffen. Entgegen dem Vorurteil, die Türken würden den Deutschen die Arbeitsplätze wegnehmen, sind mit 25,5 Prozent (Stand: 2005) überproportional viele Türken arbeitslos, davon sind 40 Prozent langzeitarbeitslos. Ihre Arbeitsplätze in der Industrie fielen der Rationalisierung zum Opfer. Trotzdem stimmten laut einer ALLBUS-Umfrage 2004 46 Prozent der Bevölkerung der Aussage zu: "Zuwanderer nehmen Menschen, die in Deutschland geboren sind, Arbeitsplätze weg."

Die Aufrechnung von freien Stellen gegen die von Ausländern eingenommenen Arbeitsplätze ist jedoch nicht angebracht: Tatsächliche Konkurrenz gibt es nur bei Stellen, die mit ungelernten Arbeitern besetzt werden können. Diese meist schlecht bezahlten und körperlich anstrengenden Arbeiten werden von Deutschen aber nur in seltenen Fällen angenommen.

Eine Übersicht über die Verteilung Erwerbstätiger ohne Berufsabschluss nach Herkunft

Nicht zuletzt wegen der anhaltend hohen Arbeitslosigkeit machen sich immer mehr Türken selbstständig. Die Zahl der türkischen Unternehmer in Deutschland stieg von 3000 im Jahr 1970 auf 61.300 im Jahr 2003. Und keineswegs bestätigen alle Unternehmen das Klischee vom "Döner-Türken" oder vom Inhaber eines Obst- und Gemüseladens; es gibt auch türkische Anwälte, Architekten, Juweliere, Rechtsanwälte und Handwerker.

Größte ausländische Minderheit

Bis 1970 stammte der Großteil der in Deutschland lebenden Ausländer aus Italien, Griechenland, Spanien und Österreich. Seit Beginn der 1970er Jahre bildeten die türkischen Staatsangehörigen die größte Gruppe. Heute leben 1,88 Millionen Türkinnen und Türken in der Bundesrepublik - dies entspricht 26 Prozent aller in Deutschland lebenden Ausländer (Stand: 2004). Die Mehrheit von ihnen lebt in den industriellen Ballungszentren Nordrhein-Westfalens und Baden-Württembergs sowie in den Großstädten Berlin, Köln, Hamburg, Frankfurt am Main und München.

Islam

Unser Bild von "den Türken" setzt sich jedoch nicht ausschließlich aus den Erfahrungen oder Vorstellungen über die heute in Deutschland lebenden Türken zusammen, sondern ist weit älter. Selbst bei geschichtlich wenig Interessierten hat sich eine vage Vorstellung von den "Türken vor Wien" im Jahr 1683 erhalten. Damals schien das Abendland durch das Osmanische Reich bedroht, dem militärische Stärke und Grausamkeit zugeschrieben wurde. Wenn sich auch das Bild vom Türken gewandelt hat und vor allem durch aktuelle Entwicklungen geprägt ist, so haben sich doch einige Vorurteile über die Jahrhunderte hinweg erhalten. Das Gefühl einer möglichen Bedrohung des Abendlandes - damals durch die osmanischen Eroberer, heute durch den radikalen Islam - ist überaus präsent.

Der Islam ist - wie das Christentum und das Judentum - eine monotheistische Religion. Er entstand Anfang des siebten Jahrhunderts auf der arabischen Halbinsel und wurde von dem Propheten Mohammed (570-632) begründet. Er gilt als "Siegel der Propheten", weil er das letzte Buch Gottes, den Koran, überbrachte. Der in arabischer Sprache verfasste Koran ist in 114 Abschnitte (Suren) mit insgesamt 6236 Versen eingeteilt. Bedeutsamer noch als die Entstehung des Islam war für die Weltgeschichte die damit verbundene Gründung eines Staatswesens auf der Arabischen Halbinsel im frühen siebten Jahrhundert. Es expandierte rasch und schuf damit die Voraussetzung für die Verbreitung der neuen Religion. Die islamischen Eroberer garantierten allerdings den Anhängern der anderen monotheistischen Religionen neben dem Schutz von Leben und Eigentum auch die freie Religionsausübung.

Muslime in europäischen Ländern

Typisch für den Islam ist die fehlende zentrale Organisationsform. Es gibt keine den christlichen Kirchen entsprechende Einrichtung, die als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt wäre und damit eine religiöse Infrastruktur wie die Errichtung von Moscheen oder die Ausbildung von Religionslehrern gewährleisten könnte. Eine kirchenähnliche Institution ist im Islam nicht vorgesehen. Die religiöse Autorität wird von so genannten Rechtsgelehrten ausgeübt. Um in Deutschland dennoch Beträume organisieren zu können, wurden muslimische Verbände und Vereine gegründet. Der größte und mitgliederstärkste Verein in Deutschland ist die "Türkisch-islamische Union der Anstalt für Religionen e. V." mit Sitz in Köln, die das in der türkischen Verfassung festgehaltene Prinzip der Trennung von Religion und Staat vertritt. Die europaweit agierende "Islamische Gemeinschaft - Milli Görüs e. V.", die vom Verfassungsschutz beobachtet wird, lehnt hingegen diese Trennung ab und steht für eine Islamisierung. Darüber hinaus gibt es eine Vielzahl von Organisationen, die die verschiedenen Strömungen des Islam repräsentieren. Diese Vielfalt behindert die Anerkennung der islamischen Religionsgemeinschaft als Körperschaft des öffentlichen Rechts und die Einführung eines islamischen Religionsunterrichts an den öffentlichen Schulen.

Unterschiedliche Strömungen

Die Ängste der Deutschen vor dem Islam werden auch durch das Erstarken des Islamismus genährt. Das Bild, das wir etwa vom Iran, vom Irak, von Ägypten, von Pakistan und vom Sudan haben, vermittelt uns die Vorstellung von einem fanatischen, intoleranten und menschenverachtenden Islam.

Die islamistischen Bewegungen, die die religi-ösen Schriften wortgetreu auf alle Lebensbereiche angewendet sehen wollen, erstarken seit den 1970er Jahren. Dass es sie gibt, hängt unter anderem mit der europäischen Kolonialherrschaft und den Problemen der nachkolonialen Regime zusammen. Sie gründeten sich auf der Annahme, dass die westlich-christliche Kolonialisierung und die damit verbundene Modernisierung seit dem 19. Jahrhundert die bis dahin vorhandene Vormachtstellung der islamischen Welt zerstörte. Eine Rückkehr zur alten Bedeutung des Islam, so die Argumentation der Islamisten, sei nur über die exakte Auslegung der religiösen Schriften möglich.

Daneben gibt es verschiedene andere Strömungen im Islam. So unterscheiden sich als zwei Hauptgruppen des Islam die größere Gruppe der Sunniten (die etwa 90 Prozent der Muslime umfasst) von der kleineren Gruppe der Schiiten. Etwa 20 Prozent der Türken rechnen sich den Aleviten zu, die sich nicht an die Scharia-Pflichten, die Einhaltung der islamischen Pflichtenlehre und Religionsgesetze, gebunden fühlen und in der Regel westlicher orientiert sind.

Stellung der Frau

Ein sensibles Thema ist die Stellung der Frau im Islam. Eine weit verbreitete Ansicht lautet: Die islamische Frau ist unterdrückt und dem "Paschagehabe" ihres Ehemannes oder Vaters bedingungslos unterworfen. Die Realität rechtfertigt ein derart pauschales Urteil jedoch nicht. Die türkische Verfassung schreibt die Gleichstellung von Mann und Frau vor, freilich sieht die Wirklichkeit häufig anders aus. Das Stadt-Land-Gefälle und die sozialen Gegensätze prägen das Leben oft stärker, als es rechtliche Vorgaben vermögen. Nach dem Koran kommt den Männern eine privilegierte Stellung zu. In vielen ländlichen Gegenden und sozialen Schichten, die in den religiösen Traditionen verhaftet sind, kann von einer weiblichen Gleichberechtigung keine Rede sein. Mindestens ebenso wichtig wie die Religion scheint jedoch die Schichtzugehörigkeit der Frau zu sein. So gibt es etwa in der Türkei in der kleinen Gruppe der Oberschicht prozentual und absolut mehr Universitätsprofessorinnen als in Deutschland.

Differenziert werden muss auch zwischen der Einstellung der ersten Generation der Arbeitsmigranten, die meist - gerade bedingt durch die Erfahrung in der Fremde - in ihren traditionellen Wertvorstellungen verharren, und der der jüngeren Frauen. Allerdings gibt es in der Tat Konflikte zwischen Vätern und Töchtern, die in Deutschland sozialisiert sind.

QuellentextDer Islam nach dem 11. September 2001

Die Anschläge auf das World Trade Center in New York und auf das US-Verteidigungsministerium in Washington vom 11. September 2001 verstärkten einerseits die Furcht vor den Auswirkungen eines radikalen Islam und rückten andererseits das Thema in den Fokus des öffentlichen Interesses. Das Bundesinnenministerium reagierte mit so genannten Sicherheitspakten und verbot mehrere muslimische Vereine und Organisationen. Die Medien berichteten vor allem über das Verbot des Kölner "Kalifatstaates" im Dezember 2001 und die Abschiebung seines Vorsitzenden Metin Kaplan im Oktober 2004. Ziel der verbotenen Organisation war "der Sturz des laizistischen Systems in der Türkei und die Installierung eines ausschließlich auf Koran und Sunna begründeten Gemeinwesens". Demokratische Regierungsformen lehnte die für eine weltweite Herrschaft des Islam eintretende Organisation strikt ab. Von seinen Anhängern forderte Kaplan laut Verfassungsschutzbericht 2004 als selbsternannter "Emir der Gläubigen und Kalif der Muslime" auch die Bereitschaft zum "Jihad" also zum "Heiligen Krieg".
Oft wird allerdings in der Öffentlichkeit vor allem durch die Medien ein Bild gezeichnet, das den Islam mit Islamismus und Islamismus mit Terrorismus gleichsetzt und Muslime damit einem Generalverdacht aussetzt.
Vorurteile neigen zu Verallgemeinerungen und nähren sich häufig aus der Angst vor dem Fremden. Deshalb überrascht es nicht, dass das diffuse Bild, das der Großteil der Deutschen vom Islam hat und das durch die terroristischen Anschläge in den USA, in Istanbul (November 2003), in Madrid (März 2004) und in London (Juli 2005) verstärkt wurde, auch in Vorurteile gegenüber den mehrheitlich muslimischen Türken umschlägt. Insgesamt 70 Prozent der Deutschen hielten 2004 den Islam für gefährlich oder bezweifelten gar, dass er in die westliche Welt passt. Fast 58 Prozent lehnen es ab, in eine Gegend zu ziehen, in der viele Muslime leben. 24 Prozent vertreten sogar die Auffassung, dass Muslimen der Zuzug nach Deutschland untersagt werden sollte.
In Deutschland wird dabei häufig übersehen, dass die islamistischen Bewegungen nur eine Strömung im Islam bilden und keinesfalls repräsentativ für den Islam insgesamt sind. Maximal 1,4 Prozent der in Deutschland lebenden Türken identifizieren sich mit diesen radikalen politischen Ideen. Der Großteil fordert lediglich die Anerkennung des Islam im Rahmen der grundgesetzlich garantierten Religionsfreiheit.

Birgit Schulze

Wertesystem im Wandel?

In Deutschland leben mehr als 3,2 Millionen Musliminnen und Muslime. Größtenteils ist die Familie die wichtigste soziale Einheit, deren Interesse sich alle Mitglieder unterzuordnen haben. Die zentralen Werte sind "Ehre" (namus), "Achtung" (saygi) sowie Würde und Ansehen (Seref) der innerfamiliären Autoritätsbeziehungen. Der Verlust der Ehre gilt als Schande für die ganze Familie, vor allem aber für die männlichen Mitglieder, die für die Familienehre verantwortlich sind. Verkürzt wird es oft folgendermaßen dargestellt: Aggressives Verhalten von türkischen Männern ihren Frauen, Töchtern und Schwestern gegenüber wird mit einem in der Türkei bis heute gültigen Ehrenkodex erklärt, nach dem der Mann - eben bei Verletzung der Ehre der Frau - gezwungen ist, in bestimmter Weise zu handeln. Die Hintergründe für dieses Verhalten sind kompliziert und haben eine lange Tradition. Im Kontext des türkischen Dorfes verbinden Männer mit dem Begriff Ehre vor allem ihre Fähigkeit, für die Familie zu sorgen, diese gegen Angriffe von außen zu verteidigen und die sexuelle Integrität der Frauen innerhalb der Familie zu gewährleisten. Wenn der Mann bei einem Angriff gegen diese Werte nicht reagiert, verliert er seine Ehre. Die Ehre der Frau leitet sich aus Regeln zum Schutze ihrer Keuschheit ab. Darüber hinaus muss sie bestimmte Regeln im Umgang mit fremden Männern einhalten und sich korrekt kleiden. Verstößt sie gegen diese Grundsätze, wird nicht nur ihre eigene Ehre verletzt, sondern auch die der Familie.

Die türkischen Gastarbeiter und ihre Familien brachten diese Erfahrungen und Wertesysteme mit nach Deutschland, wodurch die einzelnen Familienmitglieder in einen Kulturkonflikt gerieten. Die erste Generation der Arbeitsmigranten, deren Aufenthalt in Deutschland nicht auf Dauer angelegt war, hielt an diesem Wertesystem fest. Eine Annäherung an die deutsche Gesellschaft schien nicht erforderlich und war zudem schwierig, weil ein Großteil der Zuwanderer nicht aus den westlich orientierten türkischen Großstädten kam, sondern meist aus dem ländlich geprägten Anatolien, wo die jahrhundertealten Traditionen weiterhin ihre Gültigkeit behielten. Erst mit längerem Aufenthalt und der Geburt der Kinder und Kindeskinder wurde das traditionelle Wertesystem - vor allem durch die Kinder selbst, die mit den Werten der bundesdeutschen Gesellschaft aufgewachsen waren - in Frage gestellt. Sie fühlen sich hin- und hergerissen zwischen zwei Kulturen.

Dies führt zu familiären Problemen, die in vielen türkischen Familien das Ausmaß der normalen Generationenkonflikte übersteigen. Vor allem an der Stellung der Frau und der Einhaltung gewisser religiöser Pflichten entzünden sich die Auseinandersetzungen. In manchen Fällen suchen die Betroffenen in der Hinwendung zur Religion die Lösung ihrer Identitätskrisen und -brüche.

Die meisten Türken regeln ihre Eheprobleme vor Gericht und nicht in tätlichen Auseinandersetzungen. Allerdings werden auch in Deutschland Ehrverbrechen und Ehrenmorde verübt. Besonderes Aufsehen erregte der Fall der 23-jährigen Hatun Sürücü, die im Februar 2005 mutmaßlich von ihren drei Brüdern auf offener Straße in Berlin erschossen wurde. Sürücü kam nach einer gescheiterten arrangierten Ehe in Istanbul als allein erziehende Mutter zurück nach Berlin und lebte, nach Auffassung ihrer Brüder, zu emanzipiert und nicht traditionskonform. Aufsehen erregte der Mord jedoch auch, weil mehrere Schüler einer Oberschule die Tat befürworteten und die Meinung vertraten: Eine wie Hatun Sürücü sei eine "Schlampe", wenn sie wie eine Deutsche lebe, habe sie den Tod verdient. Gerade diese Äußerungen schockierten und verdeutlichten, dass die Integration in die deutsche Gesellschaft in diesen Fällen misslang. Initiativen wie "NEIN zu Verbrechen im Namen der Ehre" von Terre des Femmes fordern gesetzliche Regelungen zum Schutz vor Zwangsehen, Unterdrückung der Frau und Ehrverbrechen. Jedoch darf nicht jedes gewalttätige Handeln gegenüber Frauen mit dem Begriff "Ehre" erklärt werden. Eine derartige Gleichsetzung vereinfacht die Suche nach den Ursachen und unterstützt zudem ein klischeehaftes Bild von der türkischen Familie und vom Islam.

Zweifelsohne wandelt sich auch der Ehrbegriff. Darüber hinaus wird dieser nicht von allen Türkinnen und Türken geteilt. Beispielsweise nähern sich die Ansprüche zur Erhaltung der Familienehre zwischen den Geschlechtern an, werden also zunehmend im Sinne einer beiderseitigen ehelichen Treue und einer Solidarität innerhalb der Familie sowohl an Männer als auch an Frauen gestellt. So wenig man ein allgemein gültiges Bild der deutschen Familie zeichnen kann, so wenig trifft das bei türkischen Familien zu.

Kopftuchstreit

Besonders deutlich zeigen sich die unterschiedlichen Vorstellungen über die Position der Frauen in der Auseinandersetzung um das Tragen des Kopftuchs. Die "Vermummung" türkischer Frauen, die als ein Zeichen der Rückständigkeit und Unterdrückung angesehen wird, weckt Ängste in der deutschen Bevölkerung. Anstoß an dem Kopftuch nehmen allerdings auch säkularisierte Türken, die hinter dem Kopftuch religiöse Bruderschaften mit fanatischen Ideen vermuten. Im Koran finden sich keine eindeutigen Kleidungsvorschriften für Frauen. Im Zuge der Auseinandersetzung beriefen sich sowohl Gegner als auch Befürworter auf die gleichen Textstellen. Mit großem Interesse verfolgte die Öffentlichkeit den Fall von Fereshta Ludin, die in Afghanistan geboren wurde und seit 1995 in Besitz der deutschen Staatsbürgerschaft ist. Frau Ludin wurde die Einstellung als Lehrerin im baden-württembergischen Schuldienst verwehrt, weil sie darauf bestand, mit Kopftuch zu unterrichten. Das Kultusministerium vertrat die Auffassung, dass das religiöse Symbol auch eine politische Aussage darstelle und gegen das Neutralitätsgebot in Schulen verstoße. Das Kopftuch sei ein deutlich wahrnehmbares Symbol und somit seien Schülerinnen und Schüler einer Beeinflussung unweigerlich ausgesetzt. Die Lehrerin erhob Klage beim Verwaltungsgericht, das sich der Entscheidung des Ministeriums anschloss und betonte, die staatliche Neutralitätspflicht habe Vorrang vor der Religionsfreiheit. Im September 2003 urteilte das Bundesverfassungsgericht im Sinne der Klägerin. Es entschied zu Gunsten der Glaubensfreiheit und betonte in seiner Begründung, der Symbolgehalt des Kopftuchs sei nicht eindeutig festzulegen. Die vorhandenen Landesgesetze reichten für ein Kopftuchverbot nicht aus. Das Kopftuch müsse kein politisch motiviertes Kampfmittel oder Ausdruck patriarchalischen Zwanges sein; es könne ebenso getragen werden aus religiöser Überzeugung, als Ausdruck neoislamischer Weiblichkeit odermit der Absicht, die weiblichen Reize in der Öffentlichkeit zu bedecken. Eine generelle Gleichsetzung mit Unterdrückung, mangelnder Emanzipation, Fanatismus, Islamismus dürfe nicht erfolgen. Es sei im Einzelfall zu klären, mit welcher Motivation ein Kopftuch getragen werde.

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts hielt ein Kopftuchverbot für möglich, wenn die Bundesländer eine rechtliche Grundlage dafür schafften. Baden-Württemberg beschloss daher am 1. April 2004 eine Änderung des Schulgesetzes, die Lehrkräften untersagt, politische, religiöse oder weltanschauliche Bekundungen abzugeben. Dieses Verbot klammert die Darstellung christlicher und abendländischer Symbole explizit aus, sodass faktisch nur das Kopftuch unter diese Regelung fällt. Auch Bayern, Niedersachsen, das Saarland und Bremen erließen entsprechende Gesetzesänderungen. Berlin verabschiedete am 27. Januar 2005 eine Änderung, die allen Lehrkräften und Beamten in Justiz und Polizeidienst das Tragen sichtbarer religiöser und weltanschaulicher Symbole untersagt. Noch keine gesetzlichen Regelungen erließ Nordrhein-Westfalen - das Bundesland, in dem die meisten türkischen Staatsangehörigen und ein Drittel der Muslime in Deutschland leben. Die neue CDU/FDP-Landesregierung hat aber bereits einen Gesetzentwurf für ein Kopftuchverbot vorgelegt, der zurzeit diskutiert wird - insofern ist hier mit einer Änderung der Rechtslage zu rechnen.

Festzuhalten ist: Die Diskussion wurde quer durch alle Gesellschaftsschichten mit unterschiedlichen Argumenten geführt. Der Symbolgehalt des Kopftuchs kann nicht eindeutig definiert werden. Gleichwohl hält sich bei vielen Menschen die Auffassung, das Kopftuch widerspreche grundsätzlich der Verfassung oder sei charakteristisch für die Unterdrückung der Frau. Dadurch wird ein Generalverdacht gegenüber allen Musliminnen und Muslimen erzeugt. Die pauschale Ablehnung des Kopftuchs birgt zudem weitere Gefahren: Sie kann dazu führen, dass sich Musliminnen und Muslime verstärkt auf ihre Religion zurückbesinnen und sich aus der Gemeinschaft zurückziehen. Dies würde ihre Integration erschweren.

Integrationsprobleme

Bis heute gelten die Türken als die am schwersten zu integrierende Bevölkerungsgruppe. Einer Umfrage von 2002 zufolge lehnen 39 Prozent der Ostdeutschen und 28 Prozent der Westdeutschen Türken als Nachbarn ab. Gegenüber 1996 stieg die Abneigung um fast zehn Prozent. Dieser Unterschied zwischen Ost- und Westdeutschen zeigt, dass das langjährige Zusammenleben von Türken und Deutschen in den alten Bundesländern die soziale Distanz verringert hat, wenn auch die Ablehnung sehr hoch bleibt.

Eines der größten Probleme für die türkische Minderheit wie für die deutsche Mehrheit ist die Erziehungs- und Bildungssituation der jungen Türken. Immer noch verfügen manche türkischen Kinder nicht über ausreichende Sprachkenntnisse, um dem deutschen Schulunterricht folgen zu können. Die Folge sind fehlende Schulabschlüsse, die wiederum eine erfolgreiche berufliche Eingliederung erschweren. Daraus entstehen soziale Probleme, die eine weiter gehende Integration verhindern. Die Aufstiegschancen junger Türken hängen damit auch wesentlich von der Toleranz und Offenheit des Elternhauses ab. Türkische Kinder, deren Familien sich weit gehend vom deutschen Umfeld abschotten, haben deutlich schlechtere Bildungschancen. Ein Umdenken in der Schulpolitik, mehr Deutschunterricht in den Kindergärten, aber auch für die Eltern, insbesondere für die Mütter, sind dringend erforderlich. Stärker berücksichtigt werden sollte auch die Geschichte und Kultur des Herkunftslandes - über beides wissen deutsche Kinder kaum Bescheid -, die Zweisprachigkeit der Kinder und die Tatsache, dass sie durch ihre konfliktreichen Sozialisationsbedingungen oftmals sozusagen zwischen allen Stühlen sitzen.

Sozialleistungen

Ein weit verbreitetes Vorurteil betrifft den angeblichen Missbrauch von Sozialleistungen. 43 Prozent der deutschen Bevölkerung stimmen der Aussage zu: Die Ausländer kommen nur hierher, um unseren Sozialstaat auszunutzen. Wie in jeder Bevölkerungsgruppe trifft dies sicherlich auf Einzelne zu. Problematisch ist jedoch der Rückschluss auf die gesamte Gruppe. Über 500.000 türkische Arbeitnehmer entrichteten 2003 neben den selbstständigen Unternehmern Steuern und Sozialversicherungsbeiträge und haben sich damit einen rechtlichen Anspruch auf Renten und andere Sozialleistungen erworben. Hinzu kommt, dass Millionen von ausländischen Arbeitskräften in den 1950er und 1960er Jahren in die Sozialversicherungen einbezahlten, ohne zunächst deren Leistungen in Anspruch zu nehmen. Nicht zuletzt diese Zahlungen der ausländischen Arbeitnehmer ermöglichten einen großzügigen Ausbau des Sozialstaates. Staatlichen Leistungen bei der Sozialhilfe und Arbeitslosenversicherung stehen deutliche Mehreinnahmen bei der Kranken- und Rentenversicherung gegenüber.

Asylbewerber: Kurdische Flüchtlinge

Von den türkischen Arbeitsmigranten einschließlich ihrer Familien und Nachkommen müssen die Asylbewerber aus der Türkei unterschieden werden. 2003 stellten über 6000 Türkinnen und Türken einen Asylantrag, von denen 80 Prozent kurdische Flüchtlinge waren. Nach Einschätzung der Bundesregierung leben etwa 500.000 Kurdinnen und Kurden in Deutschland. Bis Ende der 1990er Jahre erfuhr der Kampf der Kurden um ihre Unabhängigkeit zwar öffentliches Interesse. Obwohl die kurdischen Immigranten vor Vertreibung, Verfolgung und Krieg aus der Türkei flohen, wurden sie jedoch keinesfalls vorurteilsfrei aufgenommen.

Viele Deutsche befürchteten damals, Deutschland könne zum Bürgerkriegsschauplatz des türkisch-kurdischen Konfliktes werden. Kurdische Flüchtlinge leiden oftmals unter den Hausdurchsuchungen der deutschen Polizei, die bei vielen Kurden Verbindungen zur kurdischen Befreiungsorganisation PKK vermutet.

Staatsangehörigkeitsrecht

Die Annahme der deutschen Staatsbürgerschaft erleichtert den Zuwanderern zwar den Alltag in Deutschland, ändert jedoch nichts an der Voreingenommenheit vieler Deutscher. Diese ist ein Ergebnis der langjährigen Verweigerung, Deutschland politisch als das zu akzeptieren, was es in der Praxis längst ist: ein Einwanderungsland. Bis heute ist das Abstammungsprinzip bei der Einordnung von in Deutschland lebenden Menschen als In- bzw. Ausländer vorherrschend. Das andersartige Aussehen macht jemanden zum "Fremden", daran ändert auch die Annahme der deutschen Staatsbürgerschaft wenig. Das hängt damit zusammen, dass die Definition des "Fremden" das Konstrukt der Beobachtenden ist. Als "fremd" wird definiert, wer in der eigenen Wahrnehmung "anders", unbekannt oder unvertraut wirkt. Der Begriff des "Fremden" trifft somit nicht nur auf Ausländer aus staatsbürgerlicher Sicht zu, sondern auch auf Menschen mit anderen Lebensformen, Traditionen, Gewohnheiten und anderem Aussehen.

Fremdheit ist folglich keine objektive Eigenschaft, sondern das Ergebnis eines Zuschreibungsprozesses. Im Alltag erfahren dies etwa deutsch-türkische Kinder, die zu Beginn der Ferien - keineswegs unfreundlich - gefragt werden: "Fährst du in den Ferien wieder nach Hause?" Der Fragesteller ist verdutzt, wenn das Kind gleichermaßen verwundert antwortet: "Nein, ich besuche nur meine Oma." Offenbar hat er nicht verstanden, dass das Kind in Deutschland geboren wurde und dies als "Zuhause" betrachtet.

Auch der Fall eines 16-jährigen in Köln geborenen Türken, der auf zahllose Bewerbungen für einen Ausbildungsplatz als Industriekaufmann nur Ablehnungen erhielt, ist symptomatisch: "Wenn die meinen türkischen Namen gelesen oder meine dunklen Haare gesehen haben, war bisher immer Feierabend", erzählt er mit rheinischem Akzent. Von einem deutschen Pass erhofft er sich zumindest beim Arbeitsamt eine Verbesserung, dass er die alten Vorurteile beseitigen wird, glaubt er nicht.

2003 ließen sich 56.244 der in Deutschland lebenden Türkinnen und Türken einbürgern. Damit stammten 41,8 Prozent aller neu Eingebürgerten aus der Türkei, womit die Einbürgerungsquote bei der türkischen Minderheit deutlich höher liegt als deren Anteil an der ausländischen Gesamtbevölkerung in Deutschland, der 2002 etwa 26 Prozent betrug. Die Wiedererlangung der türkischen Staatsangehörigkeit, die mit Annahme der deutschen abgegeben werden musste, war bis 2000 gängige Rechtspraxis und wurde geduldet, wenn die betreffende Person einen festen Wohnsitz in Deutschland hatte. Nach dem Staatsbürgerschaftsrecht von 2000 ist eine doppelte Staatsbürgerschaft für Türkinnen und Türken jedoch nicht mehr zulässig. Wegen Änderung der Rechtslage drohte 55.000 Türkinnen und Türken der Entzug der deutschen Staatsbürgerschaft.

Zum 1. Januar 2005 trat das neue Zuwanderungsgesetz in Kraft. Neben der Reduzierung der Aufenthaltstitel sind vor allem die Regelungen zur Integration bedeutsam. Neu eingewanderte Migrantinnen und Migranten sind demnach verpflichtet, Integrationskurse zu absolvieren, in denen die deutsche Sprache, Alltagswissen, Kultur und Geschichte, Kenntnisse über das demokratische Staatswesen sowie die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit, Gleichberechtigung, Toleranz und Religionsfreiheit vermittelt werden sollen. Für Migrantinnen und Migranten, die schon länger in Deutschland leben und über eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung verfügen, besteht keine Teilnahmepflicht. Den Gemeinden obliegt es, für diese Zielgruppe Angebote anzubieten oder freie Plätze zur Verfügung zu stellen. Bei erfolgreicher Absolvierung des Integrationskurses kann die deutsche Staatsbürgerschaft bereits ein Jahr früher angenommen werden.

QuellentextDas Staatsbürgerschaftsrecht seit 2000 - wesentliche Neuerungen

Vor dem Jahr 2000 galt in Deutschland das Abstammungsprinzip, nur Kinder von Deutschen wurden automatisch Deutsche. Seit dem Jahr 2000 gilt: Deutscher ist automatisch, wer in Deutschland geboren ist - egal, welche Staatsbürgerschaft die Eltern haben. Voraussetzung ist, dass mindestens ein Elternteil bereits acht Jahre in Deutschland lebt. Bis zum 23. Lebensjahr können Kinder zwei Pässe besitzen - danach müssen sie sich entscheiden. Wer die deutsche Staatsangehörigkeit behalten will, muss seinen ausländischen Pass abgeben.
In Deutschland lebende Ausländer haben Anspruch auf die deutsche Staatsangehörigkeit, wenn sie

  • mindestens acht Jahre über einen festen Wohnsitz in Deutschland verfügen,

  • für ihren Lebensunterhalt aufkommen können,

  • nicht strafrechtlich verurteilt wurden,

  • eine Niederlassungsberechtigung besitzen,

  • sich zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung bekennen,

  • Integrationskurse absolviert haben, die deutsche Sprache beherrschen und

  • ihre derzeitige Staatsangehörigkeit ablegen.

Eine Mehrstaatlichkeit ist nur in Ausnahmefällen zulässig.

Birgit Schulze

Reaktionen auf Vorurteile

Vorurteile seitens der deutschen Mehrheitsgesellschaft rufen bei Teilen der türkischen Minderheit eine Trotzreaktion hervor. Angehörige der zweiten oder dritten Generation grenzen sich bewusst von der deutschen Mehrheitskultur ab und identifizieren sich wieder stärker mit der Kultur und Gesellschaft ihrer Eltern und Großeltern. Die jungen Türken wollen gleichberechtigt und anerkannt, also integriert sein; sie lehnen jedoch eine Aufgabe ihrer Kultur, Traditionen, Werte und Sprache, also eine vollständige Assimilation an die deutsche Mehrheitsgesellschaft, ab.

Von den Deutschen wird dies häufig als ein Zeichen für die Reislamisierung und einen Rückzug der Türken von der deutschen Umwelt gewertet. Dies scheint jedoch in vielen Fällen an den Tatsachen vorbeizugehen. Der falschen Einschätzung zu Grunde liegt wohl die lange verbreitete Theorie, die Einwanderer der zweiten und dritten Generation würden sich unter Aufgabe ihrer eigenen Kultur weit gehend an das deutsche Umfeld anpassen. Die Traditionen der Eltern und Großeltern werden jedoch bewahrt und dienen bei jungen Türkinnen und Türken als kultur- und identitätsstiftend. Als besonders wichtige Werte werden hier Wärme, Großzügigkeit und die zentrale Bedeutung der Familie genannt. Vermutlich wird dieser Prozess der Rückbesinnung auf die Tradition gestärkt durch die Zurückweisungen, die die Türken immer wieder von der Mehrheitsgesellschaft erfahren.

Die ehemalige Ausländerbeauftragte des Berliner Senats, Barbara John, deutet diese Entwicklung als Zeichen für eine Integration in einer offenen, pluralistischen Gesellschaft und nicht als Rückzug in ein kulturelles oder religiöses Getto. Die Ergebnisse einer Ende 2001 in Berlin durchgeführten repräsentativen Telefonumfrage unter den in Berlin lebenden Türken bestätigen diese Einschätzung. Danach fühlen sich immerhin 80 Prozent der Türkinnen und Türken "wohl" bzw. "sehr wohl" in Berlin und verorten dort ihren Lebensmittelpunkt.

Nicht übersehen werden darf jedoch auch, dass bei einem Teil von frustrierten, von der deutschen Mehrheitsgesellschaft vermeintlich oder tatsächlich zurückgewiesenen Türken eine Ablehnung der Deutschen festzustellen ist. Sie sind anfällig für religiöse oder nationalistische Organisationen wie etwa die "Grauen Wölfe", die ihnen ein Gefühl von Stärke oder auch Überlegenheit vermitteln.