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Parteiensystem und Koalitionsbeziehungen seit der deutschen Vereinigung

Frank Decker

/ 5 Minuten zu lesen

In den 30 Jahren seit der Vereinigung hat sich das Parteiensystem in Deutschland verändert. Aus dem bipolaren Parteiensystem mit zwei Parteien im sogenannten bürgerlichen Lager und zwei Parteien im linken Lager ist ein komplexes System geworden, in dem strategische Koalitionspolitik zu einem Schlüsselfaktor für die Regierungsbildung wird.

Deutscher Bundestag seit 1980 (Interner Link: Download der Grafik als PDF) (© picture-alliance/dpa, dpa-infografik GmbH | dpa-infografik GmbH; Quelle: Bundeswahlleiter)

In den 30 Jahren seit der Vereinigung hat sich das Parteiensystem in Deutschland verändert. Aus dem bipolaren Parteiensystem mit zwei Parteien im sogenannten bürgerlichen Lager auf der einen Seite – den Christdemokraten und den Liberalen – und zwei Parteien im linken Lager auf der anderen Seite – den Sozialdemokraten und den Grünen – ist ein komplexes Sechsparteiensystem geworden.

Die Komplexität rührt zum einen daher, dass die beiden neu hinzugekommenen Parteien – die Linke und die rechts im Parteienspektrum angesiedelte Alternative für Deutschland – als ideologische Randparteien von den anderen Parteien nur bedingt oder gar nicht als mögliche Regierungspartner betrachtet werden. "Bedingt" gilt dabei für die Linke und "gar nicht" für die AfD. Insofern gibt es kein gemeinsames linkes oder rechtes Lager mehr. Komplex sind auch die veränderten Koalitionsbeziehungen innerhalb des von Union, SPD, Grünen und FDP gebildeten Zentrums, wo die einseitige Orientierung der Grünen auf die SPD heute ebenso der Vergangenheit angehört wie der vorrangige Fokus der FDP auf die Union. Koalitionspolitik und -strategien werden damit zu einem Schlüsselfaktor für die Regierungsbildung.

Bis Ende der 1970er-Jahre gab es in der Bundesrepublik ein System mit zwei großen Parteien – Union und SPD –, die deshalb als "Volksparteien" galten, und einer kleineren Partei, der FDP. Die großen Parteien konnten in ihrer besten Zeit bis zu 90 Prozent der Wählerinnen und Wähler und – aufgrund der hohen Wahlbeteiligung – 80 Prozent der Wahlberechtigten auf sich vereinen. Dieser Wert hat sich bis heute mehr als halbiert. Die FDP übte – bis zum Hinzutreten der Grünen als vierte Partei in den 1980er-Jahren – eine Scharnierfunktion im Parteiensystem aus. Sie konnte entweder mit der Union oder mit den Sozialdemokraten zusammen die Regierung bilden. Eine Regierung ohne Koalition hat es in der gesamten Geschichte der Bundesrepublik noch nie gegeben.

Bindungskraft der Volksparteien (© Eigene Berechnung auf Basis des Bundeswahlleiters, bundeswahlleiter.de)

Das bipolare System der 1980er-Jahre mit den beiden klar abgegrenzten Lagern geriet durch das Hinzutreten der postkommunistischen PDS nach der deutschen Vereinigung ins Wanken. Die PDS bestand als einzige Partei der untergegangenen DDR weiter. Alle anderen Parteien, die in der Wendezeit – also in der Periode vom Mauerfall im November 1989 bis zur förmlichen staatlichen Vereinigung ein Jahr später – in der DDR entstanden waren, wurden von den Parteien der alten Bundesrepublik marginalisiert und aufgesogen. Der Weg der Sozialdemokratisierung, den die kommunistischen Parteien in den meisten anderen Neudemokratien Mittelosteuropas beschritten, blieb der PDS versperrt, weil mit der SPD bereits eine sozialdemokratische Partei vorhanden war. Die PDS verharrte deshalb in orthodoxen Positionen, blieb eine quasi-kommunistische Partei. Dennoch konnte sie als Regionalpartei des Ostens auch gesamtdeutsch überleben, indem sie sich zum Anwalt für die massive Unzufriedenheit der dortigen Bürgerinnen und Bürger mit den ökonomischen Folgen des Einigungsprozesses in den 1990er-Jahren machte. In Ostdeutschland wurde und blieb sie so stark, dass sie dort auf der Länderebene schon bald in die Regierungsbildung einbezogen wurde.

QuellentextDas Ende der Volksparteien

[…] Wann wird man zur Volkspartei? Es war im Mai 2002, als die FDP auf ihrem Parteitag in Mannheim einen eigenen Kanzlerkandidaten aufstellte. "Als Partei für das ganze Volk treten wir mit unserem eigenen Kanzlerkandidaten an", hieß es dazu. Guido Westerwelle plakatierte 18 Prozent als Wahlziel. Es war die Marke, die bei der FDP als Maßzahl für eine Volkspartei galt. […] Am Ende landete die FDP statt bei 18 bei 7,4 Prozent. Die Partei hatte sich übernommen. Vom Anspruch, Volkspartei zu sein, war nicht mehr die Rede. […]

Volkspartei ist ein nostalgischer Begriff, ein Attribut aus der bundesrepublikanischen Vergangenheit, aus der Zeit der VW-Käfer. Gewiss: Die Volksparteien von einst, CDU, CSU und SPD, nutzen ihn wie einen Adelstitel. Aber der Adel ist abgeschafft. Die Gesellschaft der Wirtschaftswunderzeit gibt es nicht mehr: Es war eine Gesellschaft mit ausgeprägten Loyalitäten zu Gewerkschaften oder Kirchen, welche wiederum in enger Beziehung zur SPD oder zur Union standen. Diese Klassen- und Kirchenmilieus sind zerfallen. Die alten Bindungskräfte sind schwach geworden. […]

Der Trend geht weg von den Großparteien; er geht auch weg von den kleinen Parteien; er geht hin zu mittelgroßen Parteien – die Wählerinnen und Wähler in allen Schichten der Gesellschaft finden. Insofern kann man heute jede Partei, die ausreichend Zuspruch findet, als Volkspartei bezeichnen. Der Begriff taugt nicht mehr; er hindert nur die Ex-Volksparteien daran, sich neu zu finden. […]

Die Magnetfelder richten sich neu aus. Es wird mehr als zwei Pole geben, die neue politische Landschaft ist multipolar; es wird viel Patchwork geben, auch bei der Regierungsbildung. Das ist nicht der Untergang der Demokratie; eher im Gegenteil – wenn die Parteien beherzigen, dass sie einerseits wieder deutlich voneinander unterscheidbar werden und andererseits dennoch eine Portion Kompromissfähigkeit mitbringen müssen, damit handlungsfähige Regierungen zustande kommen. […]

Heribert Prantl, "Es gibt keine Volksparteien mehr", in: Süddeutsche Zeitung vom 14. Mai 2021

Stellte die PDS die Gesetzmäßigkeiten der Koalitionsbildung noch nicht in Frage, so änderte sich dies mit der Entstehung der gesamtdeutschen Linkspartei, der heutigen Partei Die Linke. Sie entstand durch Fusion der PDS mit Teilen der SPD, angeführt vom früheren SPD-Vorsitzenden Oskar Lafontaine, aus Protest gegen die 2005 von der sozialdemokratisch-grünen Bundesregierung unter Kanzler Gerhard Schröder durchgesetzten Sozial- und Arbeitsmarktreformen (Stichwort: Hartz IV). Die Partei war bereits beim ersten Anlauf 2005 so erfolgreich, dass sie die Bildung einer Koalition nach dem normalen Muster – Rot-Grün oder Schwarz-Gelb – durchkreuzte. Deshalb mussten Union und SPD zum ersten Mal seit 1966 eine Große Koalition bilden – unter der seither amtierenden Kanzlerin Angela Merkel.

Deutschland hatte demnach seit 2005 ein Fünfparteiensystem. Was auffällig war, wenn man es mit der Entwicklung der Parteiensysteme in anderen europäischen Ländern vergleicht, war das Fehlen einer Partei am rechten Rand. Ausschlaggebend hierfür dürfte der Umstand gewesen sein, dass die Unionsparteien als führende Kraft im Mitte-Rechts-Lager die Wählerinnen und Wähler am rechten Rand durch konservative Positionen binden konnten und extrem rechte Positionen durch die NS-Vergangenheit Deutschlands gesellschaftlich stigmatisiert waren.

Mit der zunehmenden Liberalisierung der Unionsparteien, etwa in der Einwanderungs- und Integrationspolitik, öffnete sich Anfang der 2010er-Jahre dann in gesellschaftspolitischen Fragen eine Nische im Parteiensystem, in die die AfD später hineinstoßen konnte. Dasselbe galt für die Europapolitik, die den ursprünglichen Entstehungsanlass der Partei bildete. Die AfD lehnte die von allen anderen Parteien mitgetragene Eurorettungspolitik im Zuge der Finanzkrise 2008/09 ab. Für ihre Wählerinnen und Wähler war aber bereits 2013, als die AfD nur knapp den Einzug in den Bundestag verpasste, das Migrationsthema wichtiger. Als die Flüchtlingskrise 2015 einsetzte, konnte sie hier ihre Anti-Positionen voll ausspielen und bei den Wahlen beachtliche Erfolge erzielen. Ihre Stimmenanteile waren und sind dabei in Ostdeutschland etwa doppelt so hoch wie im Westen. In Ostdeutschland übernimmt sie heute die Funktion einer Protestpartei, die vorher die Linke ausgeübt hatte.

Mit der Etablierung der AfD verschoben sich die Kräfteverhältnisse im deutschen Parteiensystem nach rechts. 1998, 2002 und 2005 hatten SPD, Grüne und Linke zusammengenommen noch einen klaren Vorsprung vor Union und FDP gehabt, bevor sich das Verhältnis 2009 erstmals umkehrte. 2013 lagen die bürgerlichen Parteien und die AfD dann um 8, 2017 sogar um 18 Prozentpunkte vor SPD, Grünen und Linken. Das lag auch daran, dass es den Rechtspopulisten in Deutschland genauso wie in anderen Ländern gelang, Personen aus dem Nichtwählerbereich und dem linken Parteienspektrum (SPD und Linke) für sich zu gewinnen.

Durch die Erweiterung der Fünf- zu einer Sechsparteienstruktur sind Mehrheiten für die klassischen "lagerinternen" schwarz-gelben und rot-grünen Bündnisse auf Bundesebene in weite Ferne gerückt. Auch in den Ländern kommen sie heute nur noch in Ausnahmefällen zustande. Die Parteien haben darauf mit einer Öffnung ihrer Koalitionsstrategien reagiert: Die frühere "Ausschließeritis" (ein Begriff des hessischen Grünen-Politikers Tarek Al-Wazir) in der politischen Mitte, also im Verhältnis von Union, SPD, Grünen und FDP, wurde damit nahezu vollständig und im Verhältnis von SPD und Grünen zur Linken teilweise überwunden. Allein Koalitionen oder sonstige Formen der Zusammenarbeit mit der AfD bleiben für alle anderen Parteien ein Tabu.

Koalitionsmodelle in den Ländern (© Eigene Darstellung)

Lagerinterne Bündnisse bestehen heute nur noch in sechs der 16 Bundesländer. In den drei Stadtstaaten sowie in Thüringen regieren linke, in Nordrhein-Westfalen und in Bayern "bürgerliche" Koalitionen. Die übrigen Länder sowie der Bund werden von lagerübergreifenden Koalitionen regiert. In Westdeutschland hat sich dabei neben der klassischen eine zweite Variante der Großen Koalition von Union und Grünen herausgebildet, nachdem die Grünen in Hessen und Baden-Württemberg zur zweitstärksten bzw. sogar stärksten Kraft aufgestiegen sind. In Ostdeutschland scheint wiederum das "Kenia"-Bündnis von Union, SPD und Grünen zur neuen Standardformation zu avancieren. Weil CDU und SPD hier auch zusammen nicht mehr in der Lage sind, eine regierungsfähige Mehrheit hinter sich zu bringen und die FDP als parlamentarische Kraft zu schwach bleibt oder ganz ausfällt, müssen die Grünen als Partner zusätzlich mit ins Boot.

Die Länder haben koalitionspolitisch die Funktion eines Testlabors für die Bundesebene. In den 1960er-Jahren war das bereits bei der sozialliberalen Koalition der Fall, in den 1980er-Jahren bei Rot-Grün. 2008 und 2012 wurden in Hamburg und im Saarland die ersten schwarz-grünen bzw. "Jamaika"-Koalitionen gebildet, die aber beide vorzeitig scheiterten. Ihre erfolgreicheren Nachfolger in Hessen (ab 2013) und in Schleswig-Holstein (ab 2017) nahmen die Jamaika-Verhandlungen nach der Bundestagswahl 2017 vorweg. Schon 2013 hatte es im Bund schwarz-grüne Sondierungsgespräche gegeben, doch fehlte den Grünen damals der Mut, das Bündnis zu wagen.

Prof. Dr. Frank Decker, geb. 1964 in Montabaur, hat seit 2001 einen Lehrstuhl für Politische Wissenschaft am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn inne. Seit 2011 ist er außerdem Wissenschaftlicher Leiter der Bonner Akademie für Forschung und Lehre praktischer Politik (BAPP).