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Die Bundestagswahl 2017 und ihre Folgen

Frank Decker

/ 9 Minuten zu lesen

Langdauernde und schwierige Sondierungen münden 2018 in eine Neuauflage der Großen Koalition, der vierten in der Geschichte der Bundesrepublik. Das Regierungsbündnis steht von Beginn an unter starkem Druck. Dafür sorgten Innerparteiliche Konflikte ebenso wie vor allem die Herausforderungen im Zuge der Corona-Pandemie seit 2020.

Bei der Bundestagswahl 2017 mussten die beiden Regierungsparteien mit einem Minus von 8,6 (bei den Unionsparteien) und 5,2 Prozentpunkten (bei der SPD) herbe Verluste einstecken.

Nach erfolgreichen Koalitionsverhandlungen zwischen Union und SPD präsentieren Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), der CSU-Vorsitzende Horst Seehofer (CSU) und der kommissarische SPD-Vorsitzende Olaf Scholz den unterzeichneten Koalitionsvertrag am 12. März 2018 in Berlin. (© picture-alliance, Kay Nietfeld/dpa | Kay Nietfeld)

Bei der Union waren diese vor allem dem parteiinternen Streit über die Flüchtlingspolitik geschuldet, die seit 2015 die innenpolitische Agenda geprägt hatte und deshalb auch im Wahlkampf eine wichtige Rolle spielte. Die SPD musste wiederum erneut die Erfahrung machen, dass sich ihre Funktion als Juniorpartner in der Regierung nicht auszahlte – trotz unbestreitbarer Erfolge wie dem von ihr vorangetriebenen und durchgesetzten gesetzlichen Mindestlohn. Mit der Bestellung von Martin Schulz zum Parteivorsitzenden und Kanzlerkandidaten erlebte die Partei zu Beginn des Wahljahres einen unverhofften Höhenflug in den Umfragen, der kurzfristig die Möglichkeit eines Wahlsiegs zu eröffnen schien – schlussendlich blieb dies aber vergeblich.

Bundestagswahl 2017 (© picture alliance/dpa/dpa-infografik GmbH | dpa-infografik GmbH; Quelle: dpa 27280)

Gewinner der Wahl waren die AfD und die FDP, die mit zweistelligen Ergebnissen in den Bundestag einzogen bzw. wieder einzogen, während die Ergebnisse der Linken und der Grünen hinter deren Erwartungen zurückblieben. Die SPD zog aus dem Misserfolg die Konsequenz, indem sie noch am Wahlabend erklärte, in die Opposition gehen zu wollen. Als einzig gangbares Bündnis verblieb damit eine sogenannte Jamaika-Koalition aus Union, FDP und Grünen unter Führung der bisherigen Kanzlerin Angela Merkel. Die Sondierungsgespräche der potenziellen Partner gestalteten sich von Beginn an schwierig und wurden von der FDP schließlich nach vier Wochen für gescheitert erklärt.

Auf Wunsch der Union und unter tatkräftiger Mithilfe des Bundespräsidenten ließ sich die SPD daraufhin – wenn auch widerwillig – erneut in die Pflicht nehmen und erklärte ihre Bereitschaft zu einer Neuauflage der Großen Koalition, der vierten in der Geschichte der Bundesrepublik. Verbunden war dies mit einem personellen Neuanfang. Anstelle von Martin Schulz und Sigmar Gabriel übernahmen jetzt Andrea Nahles (als neue Parteivorsitzende) und Olaf Scholz (als Finanzminister und Vizekanzler) die Führung der Partei.

Der SPD gelang es in den Sondierungen nicht, für die eigene programmatische Identität wichtige Forderungen (Einführung einer Bürgerversicherung, Erhöhung des Spitzensteuersatzes) gegen die Union durchzusetzen. Daher konnte die Parteiführung eine Parteitagsmehrheit (56,4 Prozent) für die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen nur sicherstellen, indem sie Nachbesserungen versprach. Drei Punkte wurden ausdrücklich benannt: der Familiennachzug von Flüchtlingen, denen bei Rückkehr in ihr Land ernsthafter Schaden droht, die Entfristung von Arbeitsverträgen und die Beendigung der "Zwei-Klassen-Medizin". So wie 2013 lag das letzte Wort über den Koalitionsvertrag auch dieses Mal bei den SPD-Mitgliedern, deren Zustimmung trotz kontroverser Meinungen überzeugender ausfiel als erwartet (66 Prozent Ja-Stimmen bei einer Beteiligung von 78,4 Prozent).

Kaum hatte die neue Regierung ihr Amt angetreten, gab es innerhalb von CDU und CSU einen Streit über die Flüchtlingspolitik, der die Fraktionsgemeinschaft – nach den Worten Wolfgang Schäubles – an den "Rand des Abgrunds" brachte. Die Auseinandersetzung bedeutete zugleich eine weitere Belastung für die ohnehin schwierige Zusammenarbeit mit der SPD – die Große Koalition sollte sich von diesem Schlag bis zum Ende der Wahlperiode nicht mehr erholen.

Koalitionsvertrag und Regierungspolitik der vierten Großen Koalition

Union und SPD stellten ihren Koalitionsvertrag unter drei Leitsätze: "Ein neuer Aufbruch in Europa. Eine neue Dynamik für Deutschland. Ein neuer Zusammenhalt für unser Land". Diese übergreifenden Zielbestimmungen wurden in insgesamt 296 Einzelvorhaben übersetzt, die sich unterschiedlich auf die Ressorts verteilten. Die meisten entfielen mit 49 auf das Innenministerium (einschließlich Bau und Heimat), gefolgt von Arbeit und Soziales (33), Gesundheit (32), Verkehr und digitale Infrastruktur (30), Justiz und Verbraucherschutz (29) sowie dem Umweltressort (27), die wenigsten auf die Bereiche Kultur (7), Wirtschaft und Energie (7), Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (5) und das Auswärtige Amt (2).

Zu den politisch bedeutsamen Vorhaben zählten die Einführung einer über dem Grundsicherungsniveau liegenden Grundrente, die schrittweise Abschaffung des Solidaritätszuschlags für rund 90 Prozent der Steuerzahlenden, die Wiedereinführung der paritätischen Finanzierung in der gesetzlichen Krankenversicherung, die Erhöhung des Kindergelds und der Kinderfreibeträge, die massive finanzielle Förderung sowohl des Sozialen Wohnungsbaus als auch des Eigenheimbaus (durch die Einführung eines Baukindergelds in Höhe von 1200 € je Kind und Jahr), der fünf Milliarden schwere Digitalpakt für die Schulen (für den das Grundgesetz geändert wurde) und die Begrenzung der Flüchtlingszahlen (auf 12.000 pro Jahr beim Familiennachzug im Rahmen einer flexiblen Obergrenze von 180.000 bis 220.000). Letzteres war während der Koalitionsverhandlungen besonders umstritten gewesen, gestaltete sich aber in der Praxis aufgrund rückläufiger Flüchtlingsbewegungen problemlos. Unter den Maßnahmen mit geringerem öffentlichem Aufmerksamkeitswert ist vor allem der mit den Ländern vereinbarte "Pakt für den Rechtsstaat" erwähnenswert, der 2700 zusätzliche Stellen in der Justiz geschaffen hat.

Neben die Investitionen in den Ausbau der digitalen Infrastruktur trat als wichtigstes Querschnittsthema der Regierungspolitik der Klimaschutz. Die ursprünglich verabredeten Ziele des Koalitionsvertrags wurden hier durch zwei Entwicklungen bzw. "Ereignisse" während der Wahlperiode überholt: die im Frühjahr 2019 einsetzenden, weltumspannenden Proteste der "Fridays for Future"-Bewegung und den im April 2021 ergangenen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts. Dieses erklärte die Reduktionsziele für Treibhausgase, die die Regierung im Oktober 2019 in ihrem Klimaschutzgesetz festgelegt hatte, für verfassungswidrig, weil sie dem von Artikel 20a des Grundgesetzes verlangten Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen für die künftigen Generationen nicht genügten. Zentrale Bestandteile der Klimaschutzpolitik der Großen Koalition waren die Elektrifizierung der Mobilität und der Anfang 2020 zwischen Bund und Ländern vereinbarte "Kohlekompromiss". Er sieht eine Stilllegung der Kohlekraftwerke bis zum Jahre 2038 vor, wofür die betroffenen Regionen im Gegenzug mit 40 Milliarden Euro unterstützt werden. Die Klimaschutzmaßnahmen wurden nach der im Mai 2021 beschlossenen Verschärfung der Reduktionsziele erneut auf den Prüfstand gestellt.

Obwohl die Passagen zur Europapolitik im Koalitionsvertrag den innenpolitischen Vorhaben demonstrativ vorangestellt wurden, spielte Europa in der Regierungspolitik der Großen Koalition keine herausgehobene Rolle. Der im Januar 2019 zwischen Deutschland und Frankreich geschlossene "Aachener Vertrag", der an den Élysée-Vertrag von 1963 anknüpfen sollte, wurde nicht mit Leben erfüllt und ist in der Öffentlichkeit bis heute kaum bekannt. Auf die im März 2019 vorgetragenen Vorschläge des französischen Präsidenten Emmanuel Macron für eine Weiterentwicklung der Europäischen Union reagierten nicht nur Merkel und die Union, sondern auch die SPD mit Finanzminister Scholz eher zurückhaltend.

Als Erfolg konnten CDU und CSU wenig später die Bestellung Ursula von der Leyens zur neuen EU-Kommissionspräsidentin verbuchen, auch wenn dies auf Kosten ihres eigenen Spitzenkandidaten Manfred Weber ging. Als Deutschland im zweiten Halbjahr 2020 die EU-Ratspräsidentschaft übernahm, wurden die Pläne der Regierung durch die Coronavirus-Pandemie durchkreuzt, die seit März 2020 die nationale wie die europäische Politik überschattet. Das deutsch-französische Tandem bewährte sich hier bei der Vorbereitung eines 750 Milliarden Euro starken Aufbaufonds, für den die Bundesregierung – in Abkehr von ihrer bisherigen Politik – erstmals auch die Aufnahme gemeinschaftlicher Schulden akzeptierte.

Für ihr Corona-Krisenmanagement erhielt die Bundesregierung nur in der ersten Phase der Pandemie (von März bis September 2020) gute Noten in der öffentlichen Meinung, da Deutschland diese Phase deutlich besser meisterte als fast alle seine Nachbarstaaten. Während der ab Oktober 2020 einsetzenden zweiten und der dritten Pandemiewelle (ab Januar 2021) änderte sich das Bild. Zur Zielscheibe der Kritik wurden nun vor allem die föderalen Strukturen – symbolisiert durch die Ministerpräsidentenkonferenz –, die sich als ungeeignet erwiesen, den notwendigen Koordinationsbedarf zu leisten und ein Mindestmaß an Einheitlichkeit bei den Bekämpfungsmaßnahmen sicherzustellen. Mit zunehmender Pandemie-Dauer ging die Akzeptanz der Freiheitsbeschränkungen in der Bevölkerung zurück. Eine Entspannung zeichnete sich erst ab Mai 2021 ab, nachdem die dritte Welle gebrochen wurde und die nur schleppend begonnene Impfkampagne an Fahrt aufnahm.

QuellentextRedebeiträge im Deutschen Bundestag

[…] Es gab unter den Bundestagsabgeordneten immer die Vielredner, die Wenigredner und die Kaumredner. Aber derzeit ist die Diskrepanz besonders deutlich. Laut einer Statistik der Parlamentsdokumentation des Bundestags, die der Süddeutschen Zeitung vorliegt, haben drei Abgeordnete bereits mehr als hundert Mal geredet […]. Dazu kommen sieben weitere Parlamentarier (ausschließlich Männer) mit mindestens 80 Reden. […] In der Liste sind aber auch 63 Abgeordnete mit weniger als drei Redebeiträgen aufgeführt. […]

Die Parlamentsstatistiker zählen allerdings nur jene Reden, die im Plenum des Bundestags in der Funktion "MdB" [Mitglied des Deutschen Bundestages] gehalten oder zu Protokoll gegeben wurden. Deshalb bedarf das untere Ende der Liste der Interpretation. Mit null Reden wird dort etwa die Bundestagsabgeordnete Angela Merkel aufgeführt, die natürlich schon oft im Bundestag gesprochen hat, aber eben stets in ihrer Rolle als Kanzlerin.
[…] Insgesamt sind in der Liste 738 Abgeordnete aufgeführt, obwohl der Bundestag nur 709 Mitglieder hat. Das erklärt sich mit den Nachbesetzungen für ausgeschiedene oder verstorbene Parlamentarier.

Unter jenen Abgeordneten, die wenig bis gar nicht reden, auch nicht in anderer Funktion, hört man unterschiedliche Erklärungen für ihre Zurückhaltung: gesundheitliche Gründe, […] den Jüngeren die Bühne überlassen. […]
[…] Der Politologe Stefan Marschall von der Uni Düsseldorf spricht […] von einer "Mischform aus Rede- und Arbeitsparlament". Der Bundestag ist nicht ganz so redselig wie das britische Unterhaus, aber deutlich debattenfreudiger als klassische Arbeitsparlamente wie der US-Kongress.
Beim Blick auf den Kreis der Vielredner fällt auf, dass sich darin keine Fraktionsvorsitzenden finden. Sie liegen alle irgendwo im soliden Mittelfeld […]. Offenbar picken sich die Chefinnen und Chefs die wichtigsten Debatten heraus und überlassen die breite Masse der Redegelegenheiten anderen.
Es sind weder die Granden noch die sogenannten Hinterbänkler, die im Plenarsaal am häufigsten in die Bütt steigen. Es sind eher die Mittelbänkler. […]

Boris Herrmann, "Wer oft im Bundestag geredet hat – und wer fast nie", in: Süddeutsche Zeitung vom 1. Juni 2021

Innerparteiliche Konflikte bei Union und SPD

Die Große Koalition, die nach dem Scheitern der Jamaika-Verhandlungen von Union und SPD gebildet werden "musste", stand von Beginn an unter erheblichem Druck. Nahezu die gesamte Legislaturperiode wurde von internen Führungsstreitigkeiten überlagert, mit denen beide Parteien zu kämpfen hatten. In der SPD sahen sich all diejenigen, die die erneute Regierungsbeteiligung kritisiert hatten, durch die schlechten Umfragewerte bestätigt. Vor allem die Vorsitzende Andrea Nahles geriet stark unter Druck und erklärte nach der Niederlage der SPD bei der Europawahl im Juni 2019 ihren Rücktritt.

Für die Neubesetzung des Vorsitzenden-Amtes betrat die Partei Neuland, indem sie zum ersten Mal die Wahl einer geschlechterparitätisch besetzten Doppelspitze ermöglichte. In der sich über mehrere Monate hinziehenden Prozedur unterlag dabei das von der Parteiführung favorisierte Duo aus Finanzminister Olaf Scholz und der brandenburgischen Landtagsabgeordneten Klara Geywitz überraschend dem früheren nordrhein-westfälischen Finanzminister Norbert Walter-Borjans und der Bundestagsabgeordneten Saskia Esken. Nachdem ein Austritt aus der Regierung spätestens nach Ausbruch der Coronakrise nicht mehr zur Debatte stand, bemühten sich die neuen Vorsitzenden in der Folge um ein möglichst einvernehmliches Auftreten der Führungsspitze und kürten Olaf Scholz schon im August 2020, also mehr als ein Jahr vor der kommenden Bundestagswahl, zum Kanzlerkandidaten.

Noch turbulenter sollte sich die Entwicklung in der Union gestalten. Bei ihr waren die Konflikte durch Angela Merkels Ankündigung vorgezeichnet, bei der Bundestagswahl 2021 nicht mehr antreten zu wollen. Zu einem vorzeitigen Amtsverzicht, der einem Nachfolger die Möglichkeit gegeben hätte, sich einzuarbeiten und mit einem Amtsbonus in die Wahl zu ziehen, war die Kanzlerin allerdings nicht bereit. Merkels Machtverfall innerhalb ihrer Partei und der von ihr geführten Regierung begann im Herbst 2018, als es ihr nicht gelang, die Abwahl Volker Kauders als Fraktionsvorsitzenden zu verhindern. Die Stimmenverluste bei den Landtagswahlen in Bayern und Hessen veranlassten die Kanzlerin kurz darauf, nach 18 Jahren ihren Rücktritt vom Parteivorsitz zu verkünden. Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer konnte sich in der Nachfolgeentscheidung zwar knapp gegen den ehemaligen Bundestagsabgeordneten Friedrich Merz durchsetzen, büßte jedoch auch dank selbstverschuldeter Fehler ihren innerparteilichen Rückhalt und die öffentliche Unterstützung in den folgenden Monaten rasch ein und gab den Vorsitz und den damit verbundenen Anspruch auf die Kanzlerkandidatur bereits im Februar 2019 wieder auf.

Das Rennen um ihre Nachfolge – für die sich erneut mehrere Kandidaten bewarben – zog sich coronabedingt fast ein Jahr hin. In der Stichwahl unterlag Friedrich Merz wieder nur knapp – diesmal gegen den Parteivize und nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Armin Laschet. In der Auseinandersetzung um seine Kanzlerkandidatur konnte sich Armin Laschet gegen den an der Parteibasis und bei den Wählerinnen und Wählern deutlich populäreren CSU-Vorsitzenden Markus Söder nur mühsam durchsetzen. Ob sich die Gräben bis zur Wahl wieder zuschütten lassen, bleibt abzuwarten. Dies gilt umso mehr, als die abnehmende Zustimmung zur Regierungspolitik die Umfragewerte der Union schon vorher nach unten getrieben hatte. Waren CDU und CSU nach dem vergleichsweise erfolgreichen Krisenmanagement in der ersten Phase der Coronavirus-Pandemie in der Sonntagsfrage auf über 40 Prozent nach oben geschnellt, lagen sie im Mai 2021 wieder bei unter 30 Prozent.

Das Erstarken der Grünen

Sonntagsfrage September 2017 bis Mai 2021 (© Quelle: Infratest dimap)

Wenn die Regierungsparteien an Zuspruch verlieren, ist die Nutznießerin fast automatisch immer die Opposition. In der zu Ende gehenden 19. Legislaturperiode hat sich dieser Effekt auf die vier Oppositionsparteien aber höchst unterschiedlich verteilt. Während die AfD, die Linke und bis zum Beginn der zweiten Phase der Pandemie auch die FDP auf der Stelle traten, konnten die Grünen ihre Werte im Vergleich zur Bundestagswahl 2017 mehr als verdoppeln und sich seit Herbst 2018 als zweitstärkste Kraft dauerhaft vor die SPD setzen. Im Mai 2021 lag die Partei in Umfragen sogar zeitweilig vor der Union.

Es sind vor allem drei Faktoren, die den erstaunlichen Aufstieg erklären. Erstens wurden die Grünen für ihre konstruktive Rolle bei den Jamaika-Verhandlungen belohnt, die nicht an ihnen, sondern an der FDP gescheitert waren. Dies hat aus Sicht der Wählerinnen und Wähler ihre uneingeschränkte und in den Bundesländern unter Beweis gestellte Regierungsfähigkeit untermauert. Zweitens ist es der Partei unter ihrem seit 2017 amtierenden Führungsduo Annalena Baerbock und Robert Habeck gelungen, innerparteiliche Konflikte geräuschlos zu lösen und eine bei den Grünen bis dahin nicht gekannte Geschlossenheit herzustellen – in deutlichem Kontrast zu den Führungsstreitigkeiten in den Unionsparteien und in der SPD. Und drittens spielte der Bedeutungsgewinn des Themas Klimaschutz im Zuge der "Fridays for Future"-Proteste den Grünen seit März 2019 massiv in die Hände. Als Umweltpartei genießen sie hier ohnehin einen traditionellen Kompetenzvorsprung vor der Konkurrenz, den sie durch ihre Konzepte für eine wohlstandsverträgliche Reduktion der COc-Emissionen jetzt weiter ausbauen konnten.

Ähnlich wie Union und SPD und im Unterschied zu den Grünen konnte auch die übrige Opposition kein sonderlich attraktives Bild vermitteln. Die Wählerinnen und Wähler trugen der FDP den Ausstieg aus den Jamaika-Verhandlungen noch lange nach. Gleichzeitig fehlte es der Partei an Themen, mit denen sie gegenüber den Regierungsparteien und den erstarkenden Grünen hätte punkten können. Das sollte sich erst während der zweiten Phase der Pandemie ändern, als die FDP ihre Doppelkompetenz als wirtschaftsfreundliche Partei und Anwältin der Bürgerrechte glaubwürdig ausspielen konnte. Ihre Umfragewerte gingen seither wieder nach oben. Die größte Oppositionspartei, die AfD, machte seit 2017 vor allem durch heftige innerparteiliche Richtungsstreitigkeiten und ihre weiter voranschreitende Radikalisierung von sich reden. Ihr Zuspruch nahm daher vor allem im Westen ab, allerdings muss die Partei auf der Bundesebene nicht um ihre parlamentarische Existenz fürchten. Bedrohlicher stellt sich die Lage für die Linke dar, die einerseits weiter unter ihren ungelösten innerparteilichen Konflikten litt und sich andererseits mit ihren eigenen Themen nicht stark genug von Union, SPD und Grünen abheben konnte. Letzteres galt auch für die Coronapolitik, bei der sie – im Unterschied zur AfD – eine konstruktive Rolle einnahm.

Prof. Dr. Frank Decker, geb. 1964 in Montabaur, hat seit 2001 einen Lehrstuhl für Politische Wissenschaft am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn inne. Seit 2011 ist er außerdem Wissenschaftlicher Leiter der Bonner Akademie für Forschung und Lehre praktischer Politik (BAPP).