1863 fragte sich Johann Gustav Droysen, was die Geschichte in den Rang einer Wissenschaft erhebe. Anlass dafür war eine Publikation von Henry Thomas Buckle, die wenige Jahre zuvor erschienen war und ein immenses Publikumsinteresse hervorrief. Buckle unternahm in seiner zweibändigen "History of Civilization in England" den Versuch, die Geschichte des Landes mit naturwissenschaftlichen Methoden zu erklären. Nicht nur das: Ausschließlich diese Vorgehensweise ermögliche es, so Buckle, die auch für die Geschichte geltenden, unwandelbaren und allgemeinen Gesetze zu formulieren. Die Statistik spielte bei seinem Ansatz eine wesentliche Rolle. Droysen nahm sich die Argumente Buckles in seiner Besprechung in der Historischen Zeitschrift im Einzelnen vor.
"Mag immerhin die Statistik zeigen, daß in dem bestimmten Lande so und so viele uneheliche Geburten vorkommen, […] daß unter tausend Mädchen 20, 30, wie viele es denn sind, unverheiratet gebären, – jeder einzelne Fall der Art hat seine Geschichte und wie oft eine rührende und erschütternde, und von diesen 20, 30 Gefallenen wird schwerlich auch nur eine sich damit beruhigen, daß das statistische Gesetz ihren Fall ,erkläre‘;"
Nun könnte man meinen, es handele sich hierbei um einen rein akademischen Disput zweier gelehrter Männer, aber das war mitnichten so. Im Grunde genommen hat die Frage nach der Bedeutung der Statistik – auch wenn es seither vermutlich nicht mehr so formuliert worden ist – in den folgenden 150 Jahren die Gemüter vielfach entzweit – und sie fiel in eine Aufbruchsphase, deren Dynamik bis heute beeindruckend ist.
Buckle sah sich in der Tradition des Belgischen Statistikers und Astronomen Adolphe Quetelet. Zwischen 1827 und 1835 untersuchte Quetelet eine Vielzahl von statistischen Daten in Form von Tabellen und Grafiken: Geburts- und Todesraten in Abhängigkeit von den Monaten und der Temperatur, den Zusammenhang von Mortalität, Berufen und Orten, in Gefängnissen und Krankenhäusern usw. Seine Erkenntnisse resultierten schließlich 1835 in einer ersten Buchausgabe seiner "Physique sociale", die ihm internationale Beachtung als Sozialwissenschaftler einbrachte. Zu seinen größten Bewunderern zählte Ernst Engel, von 1850 bis 1858 Leiter des neu geschaffenen Statistischen Büros des königlichen Ministeriums des Innern in Sachsen und von 1860 bis 1882 Direktor des Königlich Preußischen Statistischen Bureaus. Ernst Engel gestaltete die Entwicklung der amtlichen Statistik in Deutschland maßgeblich mit. Seine Auffassung über die Bedeutung statistischer Gesetzmäßigkeiten wurde aber in der amtlichen Statistik nicht von jedermann geteilt. Einig war man sich jedoch über die Notwendigkeit des Erhebens, Auswertens und Publizierens entsprechender Daten.
Mit der Institutionalisierung der amtlichen Statistik ging eine wahre Publikationsflut einher. Statistik wurde auf Drängen der entstehenden bürgerlichen Öffentlichkeit, dank des Engagements einzelner Amtsleiter und schließlich auch durch aufgeschlossene Mitglieder verschiedener Herrschaftshäuser von einer geheimen Staats- zu einer öffentlichen Angelegenheit.
Basis der Veröffentlichungen bildete ein stetig wachsendes Programm eigenständiger Großzählungen (Volks-, Berufs-, Betriebs-, Gewerbezählungen etc.) sowie von Statistiken, die aus laufenden Verwaltungsvorgängen heraus erhoben wurden, oder solcher, die die amtliche Statistik von anderen Datenproduzenten übernahm.
Material war also in Hülle und Fülle vorhanden. An seiner Auswertung schieden sich jedoch nicht nur die Geister von Engel und Mayr. Überwiegend Einigkeit herrschte darüber, dass eine weit in die Vergangenheit zurückreichende, statistische Betrachtung einschließlich eines darauf aufbauenden Postulierens universaler Gesetzmäßigkeiten kaum den Kriterien einer wie auch immer verstandenen Wissenschaft genügen würde. Umstrittener war dagegen, inwieweit historische Studien generell mit statistischen Daten umgehen sollten und bis zu welchem Grad eine statistische Analyse eben auch historisch zu sein habe.
Man würde Droysen Unrecht tun, unterstellte man ihm eine generelle Ablehnung quantifizierender Methoden und statistischer Untersuchungen,
Die Abgewogenheit derartiger Urteile übersah man zu dieser Zeit aber bereits. Die Ökonomie wurde zunehmend theoretisch, die Soziologie gegenwartsbezogen, die Geschichtswissenschaft ereignisorientiert. Eine Verbindung von Geschichte und Statistik galt als gemeinhin diskreditiert.
In den letzten Jahren ist das Klima in der Wissenschaftslandschaft ideologisch deutlich entspannter geworden. Die Soziologie zeigt, von Ausnahmen abgesehen, ein eher geringes Interesse an historisch-statistischen Daten, dagegen sind die Berührungsängste zwischen der theoretischen Ökonomie und der Wirtschaftsgeschichte wieder geringer geworden. Die Verwendung statistischer Daten in der Geschichtswissenschaft wird heute weder verteufelt noch glorifiziert.
Um es in Droysens Worten zu sagen: "Es wird keinem Verständigen einfallen zu bestreiten, daß auch die statistische Betrachtungsweise der menschlichen Dinge ihren großen Werth habe; aber man muss nicht vergessen, was sie leisten kann und leisten will."