Das moderne Schulsystem hat sich nach den bürgerlichen Revolutionen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts herausgebildet. Durch den Zwang zur Neuordnung nach den Napoleonischen Kriegen begann unter Wilhelm von Humboldt eine umfassende Bildungsreform, die auf der Grundlage neuhumanistischer Philosophie, die eine "allgemeine Menschenbildung" als Ziel ansah, die ständischen Privilegien auch im Bereich der Bildung zurückdrängen wollte. Wichtige Neuerungen waren dabei die Einführung einer einheitlichen Prüfung für Gymnasiallehrer 1810 und die Einführung des Abiturs als Voraussetzung für die Aufnahme an eine Universität 1830, die beispielhaft für die fortschreitende Durchsetzung der staatlichen Aufsicht über alle Prüfungen im Bildungssystem und damit für einen garantierten Standard stehen. Erst dadurch konnten sich die Prinzipien der individuellen Benotung für eine entsprechende Leistung und der Wirksamkeit der Examen für die beruflichen Chancen entfalten, die auch als "Bildungsselektion" bezeichnet werden und in der Mentalität der heutigen Gesellschaft tief verwurzelt sind.
Tabelle 1: Schülerinnen und Schüler nach Schularten (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/
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Die Reformen betrafen aber vor allem die höhere Bildung. Die allgemeine Schulpflicht war in Preußen zwar schon 1763 eingeführt worden, aber die Volksschulen litten unter einer ständigen Finanznot und dem Fernbleiben der Kinder wegen der Kinderarbeit, die aufgrund der Industrialisierung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch zunahm, dann aber wegen des technischen Produktionsfortschritts in der zweiten Hälfte stark absank. So gingen 1816 erst rund 60 Prozent, 1846 rund 82 Prozent, aber 1888 annähernd alle Kinder in die Schule bis zur 8. Klasse.
Die fortschreitende Industrialisierung, mit ihr die Verschriftlichung von Arbeitsanweisungen und damit die Notwendigkeit, lesen zu können, führten bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zu einer Verbesserung der Volksschulbildung, zum Teil zu einem Rückgang des Religionsunterrichts und neuen Fächern wie Geschichte und Erdkunde. Die generelle "Modernisierung" in der Arbeitswelt erforderte deshalb einen Ausbau des Mittel- und Fachschulwesens. In diesen Schulen wurde mindestens eine Fremdsprache und kaufmännisches Rechnen unterrichtet. Aus politischen Äußerungen lässt sich aber auch die Absicht erkennen, mit diesem Ausbau eine Bildungsbegrenzung zu etablieren, indem den Aufstiegsambitionen aus der Arbeiterschicht eine Alternative unterhalb der gymnasialen Bildung geboten wurde. Durch dieses Angebot sollte der Diskussion über die sozialen Unterschiede, die vor allem von den Sozialisten thematisiert wurden, die Schärfe genommen werden.
Auch das Bildungsbestreben der bürgerlichen Schichten konnte von der konservativen Bürokratie zunächst durch den Ausbau der "realistischen" Bildung, zu der die Oberrealschulen und Realgymnasien gehörten, kanalisiert werden. Diese "lateinlosen Anstalten" berechtigten nicht zum Studium der klassischen Fakultäten. Die lange Zeit umkämpfte "Berechtigungsfrage" endete erst 1900 mit der Gleichstellung der Abschlüsse der realistischen Bildungseinrichtungen mit dem Abitur eines Gymnasiums. (siehe Tab 1, Abb 2)
Die höhere Bildung von Mädchen endete bis zum Ende des 19. Jahrhunderts unterhalb des Abiturs. Die höheren Mädchenanstalten hatten als oberstes Ziel die Erziehung zu "echter Weiblichkeit", dazu gehörte das Idealbild der Frau als "Gehilfin des Mannes", die selbst nicht im Berufsleben steht.
Abbildung 2: Profil der Schülerinnen und Schüler nach Schularten (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/
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Im Kaiserreich konnten Kinder aus den höheren Schichten bis zum Eintritt in ein Gymnasium in privaten und kostenpflichtigen Vorschulen unterrichtet werden, sodass sie nicht mit den Kindern in den Volksschulen in Berührung kamen. Von allen Fünftklässlern der höheren Schulen kamen 1916 rund 40 Prozent aus diesen Vorschulen.
Neben dem kräftigen Beteiligungswachstum der Frauen an der höheren Bildung wurden weitere Schultypen eingerichtet, auf denen eine Studienberechtigung erworben werden konnte, die mittleren Bildungswege vereinheitlicht und 1931 ein länderübergreifendes "Zeugnis der mittleren Reife" eingeführt. Damit war das vertikal in drei Säulen gegliederte Schulsystem, wie wir es heute kennen, etabliert.
In der Zeit des Nationalsozialismus war die Schulpolitik von der Ideologie bestimmt, die die Schule als Relikt des "bürgerlichen Leistungssystems" verachtete. Dagegen stellten die Nationalsozialisten für Jungen das Ideal einer "reinrassigen Kämpfernatur", die in zur Schule parallelen Organisationen wie der Hitlerjugend besser gebildet werden könnte, und versuchten bei den Mädchen, "die natürliche Rolle der Frau" als Mittelpunkt der "deutschen Familie" wieder herzustellen. Die in dieser Richtung eingeleiteten Maßnahmen wie Obergrenzen für Aufnahme in Schulen und Universitäten, rassistischer Ausschluss von Juden und anderen Gruppen, Werbung für militärische Karrieren und Diskreditierung der höheren Bildung allgemein führten zu einer starken Verminderung der Bildungsbeteiligung insgesamt, die schon zu Beginn des Zweiten Weltkriegs zu Kritik aus Industriekreisen am allgemeinen Leistungsrückgang und zu Lehrer- und Ingenieurmangel führte. Mit diesen Maßnahmen wurde auch die soziale Öffnung der höheren Bildung, die in der Weimarer Republik eingesetzt hatte, wieder rückgängig gemacht und die alten Bildungseliten konnten ihren Anteil an der höheren Bildung wieder erhöhen. Das Schulsystem war so um Jahrzehnte zurückgeworfen und hätte die gestiegenen Qualifikationsanforderungen der Wirtschaft und der Industrie nicht befriedigen können, was durch den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zunächst nicht sichtbar wurde. (siehe Tab 1, Tab 3)
Tabelle 2: Schulabgängerinnen und Schulabgänger mit Hochschulreife, Lehrerinnen und Lehrer (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/
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Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte sich durch die nationalsozialistische Schulpolitik und durch die wegen der Kriegsfolgen eingeschränkten Möglichkeiten bis zum Ende 1950er Jahre ein großer Bildungsbedarf aufgestaut. Zunächst wurde das dreigliedrige System der Weimarer Republik wieder hergestellt, und fehlende qualifizierte Schulabgänger konnten durch die Flüchtlinge aus den Ostgebieten und der DDR überdeckt werden. Zu Beginn der 1960er Jahre begann, durch einen "Rahmenplan" des "Deutschen Ausschusses für Erziehungs- und Bildungswesen" angestoßen, eine politische Diskussion, die sowohl die stark gestiegene Nachfrage nach höherer Bildung thematisierte wie auch die Unterrepräsentation verschiedener Gruppen wie Katholiken, Frauen und Landbevölkerung sowie den im internationalen Vergleich geringen Anteil an Abiturienten. Sie mündete in verschiedene Vorschläge einer Bildungsreform. Schon in den 1960er Jahren erhöhten sich die Übergangsquoten auf die Gymnasien erheblich, aber erst 1969 wurde die "Bildungsreform" unter Kanzler Willy Brandt zur dringlichsten Aufgabe erklärt, mit dem Ziel, sowohl die Bildungsbeteiligung generell als auch die Abiturienten- und die Studierendenquote im Besonderen zu erhöhen.
Die danach einsetzende "Bildungsexpansion" ist das wichtigste Charakteristikum der Entwicklung des Bildungssystems in der bundesrepublikanischen Zeit. Sie zeigt sich erstens darin, dass die Bildungsbeteiligung in allen Hinsichten über drei Jahrzehnte sehr stark wuchs: die Schülerzahlen, die Übergänge in die höheren Bildungsstufen, die Anzahl der Schulen, Schultypen und Hochschulen, der Lehrerinnen und Lehrer sowie die Dauer des Aufenthalts im Bildungssystem. Die Zahlen des relativen Schulbesuchs verdeutlichen, dass es dabei nicht um Bevölkerungswachstum ging (das seit dem "Pillenknick" ab 1965 stagnierte), sondern um eine Verlagerung der niederen in die höhere Bildung: Besuchten 1950 noch 86,9 Prozent aller Schüler die Volksschulen und nur 8,66 Prozent ein Gymnasium, waren 2005 nur noch 44,2 Prozent auf Grund- und Hauptschulen, aber 25,6 Prozent auf dem Gymnasium. Neben den weiter steigenden Qualifikationsanforderungen aus der Wirtschaft gelten vor allem der steigende Wohlstand und die dadurch steigenden Bildungswünsche der Eltern, die Änderungen der traditionellen Geschlechterrollen und die dadurch bewirkte gleich starke Beteiligung der Frauen an der Bildung sowie die durch verschiedene Reformmaßnahmen erleichterten Zugänge zum Abitur als Ursachen. Dazu kommt die oben beschriebene Eigendynamik von Bildungsprozessen, die desto stärker wird, je mehr die Übergänge auf höhere Bildungsniveaus wachsen.
Die Bildungsreform führte zweitens zur Nivellierung der früheren ungleichen Beteiligung von Frauen, der Unterschiede zwischen den Konfessionen und zwischen Stadt und Land. Die Frauen haben neuerdings sogar die Männer beim Abituranteil überholt. Drittens wurden neue Schultypen wie die Gesamtschule oder die Fachoberschule eingerichtet, die weitere Wege zum Abitur ermöglichen. Viertens wurde eine weitere Qualifikationsstufe zwischen dem Realschulabschluss und dem Abitur, die Fachhochschulreife, eingeführt. (siehe Tab 2, Abb 3)
Das letzte Jahrzehnt ist durch den Interner Link: "PISA-Schock" und die Annäherung der Schulsysteme im Rahmen der europäischen Einigung geprägt. Die PISA-Untersuchung wies Deutschland nur einen mittleren Rang zu bei der Beurteilung der Kompetenzen, die das Bildungssystem den Kindern vermittelt. Seitdem gibt es eine erneute Diskussion über notwendige Bildungsreformen, die heute mehr in die Richtung integrierter Systeme weist, wie etwa die Zusammenlegung von Haupt- und Realschulen. Damit nähert sich das deutsche System einem horizontalen Stufensystem an, wie es in vielen anderen Ländern existiert, in denen alle Kinder bis zur Oberstufe gemeinsam unterrichtet werden.
Tabelle 3: Studierende nach Hochschularten und Studienabschlüssen (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/
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Die personelle Ausstattung der Schulen hat sich seit Einführung der allgemeinen Schulpflicht ebenfalls erheblich verbessert. Die Betreuungsrelation ist sowohl in den höheren als auch in den Volksschulen (bzw. Grund- und Hauptschulen) beträchtlich zurückgegangen. Frauen durften auch schon vor 1908 in Volksschulen unterrichten, weil das Volksschullehramt bis 1967 (Einführung der Pädagogischen Hochschulen) nicht als wissenschaftliches Studium galt. Dementsprechend war der Anteil der Lehrerinnen in den Volksschulen immer höher als in den höheren Schulen. Nach der Öffnung des Abiturs für Frauen 1908 waren der Schulbesuch auf den höheren Schulen und ebenso das Lehrerkollegium nach Geschlechtern getrennt, bis in den 1950er Jahren in allen Bundesländern der gemeinsame Schulunterricht eingeführt wurde.
In der Phase der Bildungsexpansion gab es viele Studierende, die die ersten aus ihren Familien waren, die studieren konnten. Insbesondere für Studentinnen war das Studium für das Grund- und Hauptschullehramt attraktiv, weil es berufliche Sicherheit bot und in vergleichbar kurzer Zeit abgeschlossen werden konnte. Deshalb nahm der Anteil der Lehrerinnen in diesen Schulen erheblich zu. Aber auch die Kollegien aller anderen Schulen erfuhren nach den 1970er Jahren, in denen bis zu 40 Prozent aller Studierenden ein Lehramt studierten, einen erheblichen Verjüngungsschub. Diese schiefe Altersstruktur führte in den Jahrzehnten danach zu erheblicher Lehrerarbeitslosigkeit und heute, eine Lehrergeneration später, zu entsprechendem Lehrermangel. (siehe Tab 2)
Abbildung 3: Schulabgängerinnen und -abgänger mit Hochschulreife (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/
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In der DDR stand das Bildungssystem, wie alle anderen gesellschaftlichen Teilsysteme auch, unter zentralstaatlicher Steuerung. Allerdings ließen sich die ideologischen Ziele der Steuerung nur zum Teil gegen die anfangs beschriebene Eigendynamik der Bildungsprozesse durchsetzen. In der ersten Nachkriegsphase bis 1959 wurde versucht, mit weitreichenden Veränderungen proportionale Chancengleichheit herzustellen. Darunter fielen unter anderem die Verlängerung der gemeinsamen Schulzeit aller Kinder (Grundschule) auf acht Jahre und die Einführung von Arbeiter- und Bauernfakultäten als Vorbereitung auf ein Studium für Personen ohne Abitur. Das misslang unter anderem dadurch, dass die Lehrerinnen und Lehrer fast ausschließlich aus dem alten System stammten und auch der ökonomische Anreiz für die Anstrengung eines Studiums ohne Abitur fehlte.
Bis 1970 wurde wegen der aufkommenden "Systemkonkurrenz" mit dem Westen als Hauptziel der wissenschaftlich-technische Unterricht etabliert, unter anderem mit dem Ausbau der Polytechnischen Oberschule (POS), die zum weitaus häufigsten Bildungsabschluss und direkt in die Berufsausbildung führte, allerdings mit weitgehenden Möglichkeiten, parallel einen Hochschulzugang zu erwerben. Wegen dieses POS-Abschlusses war die DDR-Bevölkerung zum Zeitpunkt der Wende signifikant besser schulisch ausgebildet als die Bevölkerung der Bundesrepublik.
Mit dieser Neuausrichtung des Bildungssystems begann eine Rückkehr vom Ziel proportionaler Chancengleichheit zur Leistungsorientierung. Dies führte, zusammen mit dem zahlenmäßig und ideologisch gesteuerten Zugang zu den Hochschulen, zu einer letztlich wesentlich schärferen sozialen Bevorzugung bildungsnaher Schichten (die mit dem Begriff "Intelligenz" gekennzeichnet wurden) als im Westen, unter anderem, weil diese Schicht in der DDR nur über kulturelles, nicht aber ökonomisches Kapital verfügte und deshalb die familiären kulturellen Dispositionen eine noch größere Rolle für den Bildungserfolg spielten. Zum Zeitpunkt der Wende war durch diese Entwicklungen die Zahl der Hochschulabgänger eklatant geringer als im Westen, dabei stammten sie zu 78 Prozent aus den Familien der sogenannten "Intelligenz".