Als stärkste Anbieter von religiöser Weltanschauung und einer darauf ausgerichteten Praxis stechen in Deutschland trotz vielfältiger Erosionsprozesse nach wie vor die christlichen Religionsgemeinschaften hervor. Deshalb gilt ein erster Zugriff der Frage, wie sich die evangelische und die katholische Kirche als Organisationen im religiösen Feld entwickelten. Grundlegendes Kriterium für eine statistisch messbare Entwicklung ist die Kirchenzugehörigkeit durch formale Mitgliedschaft. Kirchenein- und -austritte stellen wichtige individuelle Entscheidungen dar, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß: In Deutschland wird der Eintritt gewöhnlich mit dem Sakrament der Säuglings- oder Kindertaufe vollzogen. Die Entscheidung dazu treffen meist die Eltern und religiösen Paten des noch religionsunmündigen Kindes. Der Austritt im Jugend- oder Erwachsenenalter hingegen oder der (Wieder-)Eintritt sind eine bewusste Hin- oder Abwendung von der religiösen Organisation. Natürlich ist mit der Zugehörigkeit allein noch wenig über die individuelle Religiosität derjenigen gesagt, die den Kirchen durch die Taufe und den Kirchensteuereinzug zugerechnet werden. Doch stellen die absoluten Zahlen eine wichtige Referenzgröße für die Bedeutung der Kirchen als gesellschaftliche Gruppen dar und vermitteln eine Vorstellung von der Attraktivität der Kirche zum jeweiligen Zeitpunkt. (siehe Abb 2)
Abbldung 2: Kirchenein- und austritte - in 1.000 (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/
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Sowohl die Entwicklung der Ein- und Austritte wie auch der Saldo beider Größen lassen erkennen, dass die kirchlichen Mitgliederverhältnisse über lange Zeiträume stabil waren. Diese Stabilität wurde indes durch zwei Phasen der Instabilität unterbrochen, die die Kirchen erheblich veränderten. Erstens war dies die Zeit zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg und betraf da vor allem die Protestanten. Während dieser 20 Jahre traten 3,6 Millionen Protestanten aus ihrer Kirche aus (gegenüber ca. 900 000 Katholiken) bei nur etwa 1,15 Millionen Eintritten (gegenüber ca. 250 000 Katholiken). In dieser Zeit konnten die protestantischen Kirchen nur in wenigen Jahren eine Abmilderung dieser Tendenz verzeichnen, etwa zwischen 1933 und 1936, als die Zahl der Austritte auf rund 30 000 sank. Es handelte sich hierbei allerdings nur um einen zwischenzeitlichen Rückgang. Ab 1937 verließen bis 1939 pro Jahr mehr als 300 000 Personen ihre Kirche, dieser Wert ging erst im Laufe des Krieges wieder zurück. Eine vergleichbare Negativdynamik ist für die Zeit nach der Wiedervereinigung festzustellen. Hier stiegen die Austritte auf über 350 000 und erreichten damit ein ähnliches Niveau wie zum Ende der 1930er Jahre. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs bis in die 1960er Jahre folgte für Protestanten wie Katholiken eine recht stabile Phase, die erst mit den 1970er Jahren endete. Nun verloren beide Konfessionen wieder mehr Mitglieder als hinzukamen, wobei bis zur Jahrtausendwende wiederum die Protestanten besonders betroffen waren.
Die skizzierten Phasen der Erosion finden sich zwar auch für die katholische Kirche, doch waren hier die Ausschläge – seltener Gewinne, öfter Verluste an Mitgliedern – nicht so ausgeprägt wie bei den evangelischen Kirchen. Die Gründe dafür sind wohl in der strafferen Kirchenzucht der Katholiken, wie zum Beispiel der sonntäglichen Kommunion und der Ohrenbeichte, aber auch in der dichteren Struktur von Vereinen und Verbänden zu suchen, die für eine stärkere lebensweltliche Einbindung der Mitglieder sorgten. Erst nach der Jahrtausendwende ändert sich diese Konstellation vor dem Hintergrund verschiedener Skandale, die die katholische Kirche Mitglieder kosteten.
Ein genauerer Blick auf die Perioden hoher innerer Dynamik mit großer Schwankung der Mitgliederzahlen lenkt die Aufmerksamkeit auf einige besonders auffallende Zeiträume. Bemerkenswert waren zum Beispiel die 1920er Jahre, die Zeit um 1970 und ab 1990, als viele Menschen aus den Kirchen austraten, das Jahr 1946 mit vielen Eintritten, oder als sich – so in den Jahren 1932 bis 1939 – hohe Eintritts- und Austrittszahlen gegenüberstanden. Diese Entwicklungen fielen mit politischen Ereignissen, aber auch organisatorischen und gesetzlichen Einschnitten zusammen.
Die Austrittswelle der frühen 1920er Jahre resultierte fraglos aus verschiedenen lang- und mittelfristigen Faktoren. Erinnert sei hier an den Bruch des "Bündnisses von Thron und Altar" in der Weimarer Republik oder das Scheitern der kirchlichen Kriegstheologie im Ersten Weltkrieg. Vor allem aber war eine juristische Änderung ausschlaggebend: Der kirchenkritische preußische Kultusminister Adolph Hoffmann erleichterte 1920 den Kirchenaustritt erheblich, indem er das Verfahren vereinfachte und Gebühren strich. Infolgedessen stiegen die Zahlen zunächst rasant und etablierten sich dann auf einem vergleichsweise hohen Niveau.
Auch die hohen Eintrittszahlen im Jahr 1933 lassen sich mit der politischen Entwicklung in Verbindung bringen. So schnellte mit dem Antritt der Regierung Hitler die Zahl der Eintritte in die protestantische Kirche auf über 325 000 in die Höhe, weil sich die Nationalsozialisten – um Akzeptanz zu gewinnen – zunächst auf ein "positives Christentum" beriefen und demonstrativ die Nähe insbesondere zur protestantischen Kirche suchten. Nach dem Scheitern dieser Kirchenpolitik spätestens 1934 verfolgten die Nationalsozialisten zunehmend eine antikirchliche Politik, was bis 1939 zu einem Höchststand an Kirchenaustritten führte. Während die Entwicklung bei den Evangelischen äußerst dynamisch war, entwickelten sich die Zahlen der Katholiken gemäßigt. Um den Preis des weitgehenden Rückzugs aus der Gesellschaft war es der katholischen Kirche gelungen, sich stärker gegen den Nationalsozialismus abzuschotten. Während des Krieges gingen die Austrittszahlen in beiden Konfessionen markant zurück, war doch das geistige Angebot der Kirchen in Zeiten der Not und Bedrängnis stärker gefragt.
Im Jahr 1946 gab es einen kurzen religiösen "Frühling": In der "Zusammenbruchgesellschaft" der unmittelbaren Nachkriegsjahre kamen den Kirchen wichtige Funktionen für das öffentliche Leben und insbesondere bei den Entnazifizierungsverfahren zu, sodass sie für viele Menschen an Attraktivität gewannen.
Besonders einschneidend verlief die Entwicklung für die Protestanten in der DDR mit dem Wandel "von der Mehrheits- zur Minderheitenkirche".
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Auf diese Weise etablierte sich eine "Kultur der Konfessionslosigkeit", die über das Ende des Regimes hinaus prägend blieb für das religiöse Feld in Ostdeutschland.
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Im weiteren Verlauf der 1990er Jahre entwickelten sich die gesamtdeutschen Austrittszahlen etwas oberhalb des alten westdeutschen Niveaus. Insbesondere mit Blick auf die Kirchenverbundenheit der jüngeren Generationen hat die jüngste Mitgliedschaftsuntersuchung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) diesen Trend als "Stabilität im Abbruch" interpretiert.