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Interview mit dem Regisseur von "Oray" Mehmet Akif Büyükatalay | Oray | bpb.de

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Interview mit dem Regisseur von "Oray" Mehmet Akif Büyükatalay Das Gespräch führte Marguerite Seidel

/ 6 Minuten zu lesen

Erste Spielfilme sind für die meisten Filmemacher*innen Herzensangelegenheiten. "Oray" ist dein Debüt. Warum ist die Geschichte des jungen Muslims Oray zu deinem ersten Film geworden?

Regisseur Mehmet Akif Büyükatalay. (© Annette Etges)

"Oray" ist mein Abschlussfilm an der Kunsthochschule für Medien in Köln. Ursprünglich wollte ich in meinen Filmen auf keinen Fall postmigrantisches Leben in Deutschland behandeln. Denn genau dies wird aufgrund meines familiären Hintergrundes oft von mir erwartet. Einer meiner Professoren schlug mir beispielsweise vor, einen Film über die damals sogenannten "Dönermorde", die noch nicht als die rassistisch motivierten Morden der NSU bekannt waren, zu machen. Dabei habe ich überhaupt keinen Bezug zu Mafia und Rechtsextremismus. Gegen diese Erwartungshaltung habe ich mich jahrelang gewehrt. Irgendwann musste ich mir eingestehen, dass ich gerne meine Geschichten erzählen möchte. Es sind genau diese Geschichten, die mein eigenes Leben prägen und mich als Bürger dieses Landes beschäftigen, und welche dann als postmigrantisch etikettiert werden. Mein Kompromiss: Ich erzähle ausschließlich so, wie ich es möchte. Das heißt, ich mache keine Erklärfilme. Ich erkläre der Mehrheitsgesellschaft keine andere Kultur und bestätige keine Wertvorstellungen. Meine Filme sollen meine eigene Suche und Selbstbefragungen spiegeln.

Wie ist die Idee zu "Oray" entstanden?

Wie Orays Cousin im Film habe ich in einem großen Studentenwohnheim gewohnt. Eines Abends war ich bei einem türkischen Nachbarn eingeladen. Die Stimmung war feucht-fröhlich und auch ein Joint machte die Runde – genauso wie in "Oray". Aber ein offensichtlich muslimischer Mann mit Vollbart mahnte zum Warten. Ich nahm an, er sei aus religiösen Gründen gegen Kiffen. Doch er hatte einfach nur noch nicht gebetet. Erst danach konnte er mitrauchen. Diese Ambivalenz, die dieser Mann wie selbstverständlich in sich vereinte, hat mich fasziniert. Es war, als ob er meine eigenen Widersprüche in sich konzentrierte. Die Figur des Oray war geboren. Später, bei der Entwicklung des Plots, war es mir wichtig, einen Liebesfilm zu machen. Denn Muslime und ihre Konflikte werden im Kino oft allein auf den Glauben reduziert. In "Oray" will ich eine Bandbreite des Fühlens deutlich machen, die nur zum Teil religiös motiviert ist.

Warum ist es deiner Ansicht nach wichtig, im Deutschland von heute Orays Geschichte zu erzählen? Was fügt der Film bestehenden medialen Repräsentationen junger Muslim*innen hinzu?

"Oray" erzählt abseits vom Skandalösen, von Schlagzeilen. Kopftuch, Burka oder der Krieg in Syrien spielen im Alltag gläubiger muslimischer Menschen in Deutschland kaum eine Rolle. Anders als in den meisten Filmen zum Thema schaffe ich keine politischen, sondern psychologische Figuren. Ich schaue von innen in das Milieu, nicht von außen. Tatsächlich sagen mir viele postmigrantische Zuschauerinnen und Zuschauer, dass sie sich in "Oray" wiedererkennen, weil sie ihre Gefühle ernsthaft repräsentiert sehen. Ich selbst fühlte mich oft als Konsument ohnmächtig, unverstanden und nicht respektiert, weil deutsche Filme Menschen wie mich meist klischeehaft fernab jeder Lebensrealität oder sogar als Gefahrenquelle darstellen. Mit "Oray" will ich die Deutungshoheit über meine eigene Repräsentation zurückgewinnen.

Was war bei der filmischen Umsetzung von "Oray" besonders wichtig?

Ich wollte das Lebensgefühl einer männlichen Gruppe möglichst authentisch herüberbringen. Deswegen musste ich naturalistisch erzählen. Gedreht habe ich zum Beispiel an Originalschauplätzen. Die Komparsen – die Gemeindemitglieder im Film – wurden von Familienmitgliedern gespielt. Wir haben auch bei meinen Eltern zuhause gedreht. So verbinden die Darsteller bereits bestimmte Emotionen mit den Orten. Oder die Predigtszene. Die hat Zejhun Demirov, der den Oray spielt, einfach performt, ohne dass die Komparsen darauf vorbereitet waren. Entsprechend waren sie von seinen Worten beeindruckt. Ihre Reaktionen sind echt. Das spürt der Zuschauer. Auch die Sprache musste sich real anhören. Sie hat eine wichtige Doppelfunktion: Einerseits ist sie integrativ. Aus der Mischung von Deutsch, Türkisch, Arabisch, Rumänisch und Romanes entsteht eine Art neue Sprache, die die Vielfalt der Herkünfte einbindet. Andererseits ist diese Sprache auch exklusiv. Wie eine Geheimsprache ist sie nur schwer verständlich, wenn man nicht Teil der Gruppe ist. Für die Jungs im Film bedeutet sie Heimat, aber zugleich auch Abgrenzung zur Mehrheitsgesellschaft.

Aus welchen Gründen ist die Handlung von "Oray" kammerspielartig auf ein bestimmtes Milieu begrenzt und wird überwiegend von männlichen Figuren dominiert?

Schlicht und einfach, weil es der Realität entspricht. Der Begriff der sogenannten "Parallelgesellschaft" trifft hier zu – genauso wie, meiner Meinung nach, auf ganz andere Milieus, die nach ihren eigenen Codes und Regeln funktionieren, etwa die Rockerszene oder die Hooliganszene im Fußball. Auch mein Milieu, ein Künstlerkollektiv, ist eine in sich geschlossene Gruppe. All diese Welten haben miteinander nichts zu tun. Warum sollte dies bei muslimischen Jungs anders sein? In "Oray" geht es um eine Männergruppe, die im Männlichsein eine Heimat findet – ähnlich wie im Hip-Hop oder auch in DAX-Unternehmen.

Mit Orays Ehefrau Burcu gibt es eine zentrale Figur, die außerhalb von diesem männlichen Milieu angesiedelt ist. Sie verkörpert – quasi als Gegenpol – eine starke, unabhängige Frau.

Ja, das ist sie. Oray steht sogar zwischen zwei starken Frauen – Burcu und seine Mutter. Man kann es so sehen: Er fühlt sich minderwertig und flieht vor diesen starken Frauen in die Arme männlicher Solidarität. Es geht nicht um Frauen oder Frauenbilder im Film, sondern um das Männlichkeitsbild von Männern. In der neuen Gemeinde in Köln ist Oray plötzlich wer. Zuhause in Hagen ist er ein Außenseiter ohne Job und mit krimineller Vergangenheit. Ebenso könnte man die Handlung in ein völlig anderes Milieu verlegen. Ein weißes deutsches Paar streitet sich ununterbrochen. Der Beziehungscoach rät zu einer Pause. Der Mann zieht nach London und geht dort beruflich in einem männlich dominierten Unternehmen auf. Als die Frau ihn nach Deutschland zurückholen will, entscheidet sich der Mann für seinen Posten in London.

Im Film heißt es: "Wir können nur in der Gemeinde überleben. Vor allem in Deutschland. Wen haben wir sonst außer uns Muslimen?" Kannst du erläutern, wie es zu dieser Aussage kommt?

Oray und die anderen Gemeindemitglieder haben das Gefühl, nur in dieser Gemeinde überleben zu können. Das lässt sich nicht nur emotional mit der dort herrschenden Solidarität begründen, sondern auch rein faktisch. Die Gemeinde übernimmt die Aufgaben des Sozialstaates wie Wohnungssuche und Arbeitssuche. Mit türkischem Namen und Vollbart findet man sonst nur schwer eine Wohnung. Das geht bloß mit Kontakten. Indem Orays Gemeinde sagt, dass sie nur durch Zusammenhalt überleben, ethnisiert sie gewissermaßen soziale Ungerechtigkeit. Vergleichbar zu anderen Subkulturen, die sich durch ihre Andersheit definieren und abgrenzen, bietet hier der Islam eine Legitimation des Außenseitertums. Die Männer fühlen sich in der Migration zuhause. Eigentlich geht es aber um die soziale Benachteiligung dieser Männer, nicht um Religion. In ihr spiegeln sich die Probleme der Gesellschaft als Ganze.

Was sollen Zuschauende vom Film mitnehmen? Was wäre dein Wunsch?

Ich wünsche mir, dass "Oray" nicht in erster Linie als Film über Muslime oder Jungs wahrgenommen wird. Es handelt sich vielmehr um den Versuch, komplexe Gefühle und widersprüchliche Identitätspunkte in einer einzigen Person zu vereinen. Eine Generation früher hätten sich zum Beispiel "deutsch" und "muslimisch" noch ausgeschlossen. Jetzt aber nicht mehr. Es geht um die Schwierigkeiten und den Kampf der Identitätsbildung. Zuschauer aus der queeren Szene haben mir erzählt, dass sie in "Oray" auch ihren Kampf wiederfinden. Der Film behandelt universelle Themen.

Was macht den Film insbesondere für die politische Bildung relevant?

Das Publikum soll ins Gespräch kommen und diskutieren, ob Identität eigentlich exklusiv sein muss. Muss ich mich zwischen zwei Identitäten überhaupt entscheiden? Türkisch oder deutsch, muslimisch oder christlich …? Sind Unterschiede und Widersprüche nicht doch vereinbar? Orays Weltbild ist dualistisch: entweder Islam oder nichts. Aber das kollidiert mit der Lebensrealität. Auch die Frage, was Heimat ist, finde ich interessant. Oder die nach Strukturen in Jungsgruppen und Männlichkeit. Der Film hinterlässt am Schluss mehr Fragen als Antworten.

Fussnoten

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