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Diskriminierungserfahrungen Jugendlicher | Say My Name | bpb.de

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Diskriminierungserfahrungen Jugendlicher

Julian Ernst Josephine B. Schmitt

/ 8 Minuten zu lesen

Es gibt verschiedene Ausprägungen von Diskriminierung: individuelle, institutionelle und strukturelle. Nachfolgend wird beispielhaft erläutert, in welchen konkreten Formen Jugendliche in ihrem Alltag Diskriminierung erfahren. Bezug genommen wird immer wieder auf Berichte aus Videos der Webvideo-Reihe "Say My Name". In diesen erzählen die Protagonistinnen und Protagonisten, wie sie aufgrund äußerlicher Merkmale "anders" als andere Jugendliche wahrgenommen und benachteiligt worden sind.

Diskriminierungserfahrungen Jugendlicher: Mädchen (© bpb)

Einführung

Diskriminierung bezeichnet individuelle, institutionelle und strukturelle "Praktiken der Herabsetzung, Benachteiligung und Ausgrenzung von sozialen Gruppen und ihnen angehörigen Personen". Während individuelle Diskriminierung sich auf Handlungen einzelner Menschen gegenüber anderen bezieht, meint institutionelle Diskriminierung Formen der Ungleichbehandlung, die durch und innerhalb von Organisationen, also beispielsweise Verwaltungsbehörden oder auch Schulen, vollzogen werden und über das bewusste Handeln Einzelner hinausgehen. Strukturelle Diskriminierung ist wiederum eng verwoben mit Praktiken von Organisationen und bezeichnet im weitesten Sinne gesellschaftliche Bedingungen, durch die Menschen routiniert und regelhaft Schlechterstellung gegenüber der Mehrheitsgesellschaft erfahren.

Die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland beansprucht genau hiervor rechtlich zu schützen. Trotz der juristischen Klarheit der Verfassung, gehört die Erfahrung, in verschiedenster Hinsicht diskriminiert zu werden, für viele Menschen in Deutschland dennoch zur Lebenswirklichkeit. Diskriminierung erfolgt entlang verschiedener, teils zugeschriebener Merkmale. In besonderem Maße betroffen sind dabei Menschen mit Migrationshintergrund bzw. Menschen, die beispielsweise aufgrund ihrer Hautfarbe als "anders" wahrgenommen werden, Menschen mit einem niedrigen sozioökonomischen Status, Menschen mit Behinderung, Frauen sowie Menschen, die ihre Geschlechteridentität jenseits einer binären Vorstellung von Mann und Frau begreifen und leben. Die genannten Differenzkategorien können machtvoll zusammenspielen: Schwarze Frauen können etwa sowohl rassistische Diskriminierung aufgrund ihrer Hautfarbe als auch Sexismus durch ihr Frau-Sein erfahren. Das Zusammenfallen mehrerer potentiell zu Diskriminierung führender Differenzkategorien wird auch als Intersektionalität bezeichnet.

Diskriminierung erfahren nicht nur Erwachsene, sondern auch Kinder und Jugendliche – letztere sollen hier näher in den Blick genommen werden. Die Lebensphase Jugend zeichnet sich durch mehrere Merkmale aus. Gerade in dieser Lebensphase können und müssen Menschen sich in unterschiedlichen sozialen Rollen und Räumen ausprobieren. Die Jugendzeit ist zudem stark durch die berufliche Qualifikation (Schule, Ausbildung, Studium) geprägt. Die so entstehende Lebenssituation zeichnet sich einerseits durch die zunehmende Erlangung von Rechten und Pflichten aus. Andererseits befinden sich Jugendliche i. d. R. weiterhin in ökonomischen Abhängigkeiten gegenüber Eltern oder Förderinstitutionen. Während diese Lebensphase so für die einen das Wahrnehmen von "Zukunftschancen" bedeutet, sind Jugendliche, die in einer oder mehrfacher Hinsicht als "anders" gelesen werden wie oben beschrieben, in ihrem Alltag mit Hürden konfrontiert.

Schule und Diskriminierung

Wie eine Institution strukturelle Chancenungleichheit in Deutschland reproduziert, lässt sich an der Schule demonstrieren: Sie ist qua Schulpflicht gesellschaftliche "Zwangsveranstaltung" und bestimmt mit der Vergabe von Bildungszertifikaten über weitere Qualifikationsmöglichkeiten. Sie wird damit zu einem "Flaschenhals" gesellschaftlicher Chancenvergabe. In Zahlen greifbar wird die schulische Ungleichbehandlung etwa darin, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund an Gymnasien unterrepräsentiert sind – ohne dass sich dies objektiv im kognitiven Vermögen der Schülerinnen und Schülern widerspiegelte. Eine Studie von Mechtild Gomolla zeigt eindrücklich, wie Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund Ungleichbehandlung bei Schulzuweisungsprozessen erfahren. Gerade Plätze an besonders begehrten Schulen wurden Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund besonders häufig verwehrt. In solchen Fällen werden rassistische und kulturalisierende Zuschreibungen besonders häufig zur Legitimation von Abweisungen herangezogen. Gerade auch die gelebte Mehrsprachigkeit von Schülerinnen und Schülern und unterstellte Defizite in der deutschen Sprache dienen als Argumente. Die Studie verdeutlicht, wie Praktiken institutioneller Diskriminierung marktförmigen Logiken folgen und sich gerade dann verschärfen können, wenn die Nachfrage nach einer Leistung (Platz an einer Schule) größer ist als das Angebot (begrenzte Zahl an Plätzen an einer Schule).

Auch mit Blick auf sozioökonomische Verhältnisse spiegeln sich im dreigliedrigen Schulsystem in Deutschland ungleiche Gesellschaftsverhältnisse und Zugangsmöglichkeiten wider. Kaum ein Merkmal eines Jugendlichen kann derart zuverlässig dafür herangezogen werden, die besuchte Schulform zu erraten, wie die Berufe bzw. die sozioökonomischen Verhältnisse der Eltern. Belege für die Kontinuität dieses Zustandes liefern u. a. die PISA-Studien. Wie hartnäckig strukturell verankerte Praktiken sind und wie nachhaltig gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse wirksam werden können, lässt sich allein schon daran ablesen, dass die skizzierten Mechanismen und die Wirkweisen des dreigliedrigen Schulsystems generell seit Jahrzehnten für Bildungspolitikerinnen und -politiker bekannt sind. Dennoch ist Diskriminierung durch die Schule bis heute wirksam – Weiterbildungen und Seminaren zum Thema Diskriminierung an Universitäten und öffentlichkeitswirksamer Sensibilisierungskampagnen zum Trotz.

Polizei und Diskriminierung

Während die Entscheidungen über die Schullaufbahn häufig eher als abstrakte Verwaltungsprozesse erscheinen (Tests werden durchgeführt, Gutachten geschrieben etc.), können Diskriminierungen auch sehr konkrete Gestalt annehmen – etwa im Kontakt mit der Staatsgewalt. Gerade Begegnungen mit der Polizei können für viele Jugendliche mit Migrationshintergrund stigmatisierend sein.

Mit dem Stichwort des Racial-Profiling werden polizeiliche Maßnahmen, insbesondere, aber nicht ausschließlich anlassunabhängige Personenkontrollen bezeichnet, die die an Äußerlichkeiten "abgelesene" Herkunft einer Person – und hier wird die rassistische Dimension des Vorgehens deutlich – zum Anlass polizeilicher Ansprache nehmen. Mediale Präsenz hat diese polizeiliche Praxis in den Folgejahren nach den Übergriffen im Kontext der Silvesternacht am Kölner Hauptbahnhof 2015 bekommen.

Im Video "Bin ich eine rassistische Freundin" der Reihe "Say My Name" berichtet auch Clement im Gespräch mit Lisa Sophie über diskriminierende Erfahrungen mit der Polizei. So sei er im Zusammenhang mit einem Ladendiebstahl als Täter verdächtigt worden – ungeachtet des Umstandes, dass er im geschädigten Geschäft arbeitete und noch vor der Auswertung der Aufnahmen von Überwachungskameras.

Diskriminierung und Wohnungssuche

Konkret kann Diskriminierung auch bei der Wohnungssuche werden. Das Phänomen zeigt sich insbesondere in deutschen Großstädten. In urbanen Regionen wie dem Rhein-Ruhr Gebiet, Berlin oder München ist der Wohnungsmarkt seit Jahren angespannt. Es herrscht eine Knappheit an für die meisten Menschen bezahlbaren Wohnraum. Jugendliche, die einen Namen tragen, der nicht als "deutsch", "von hier" o. ä. identifiziert wird, haben hier besondere Schwierigkeiten, eine Bleibe zu finden oder müssen durchschnittlich mehr Miete zahlen.

Diskriminierungen im Alltag – Beispiele aus Erfahrungsberichten bei "Say my Name"

Viele Jugendliche stehen konkreten rassistischen, sexistischen etc. Sprüchen und Andeutungen in ihrem Alltag gegenüber. Joana alias CurlyJay (jetzt Jhaleezi) berichtet in ihrem Video mit dem Titel "Woher kommst du wirklich? #Vonhier | Rassismus und Identity Struggles" von mehreren Situationen während ihrer Schulzeit, in denen sie direkt von Lehrern rassistisch abgewertet worden ist. Diese interaktionellen Formen von Diskriminierung können uneindeutig sein, d. h. erschöpfen sich nicht etwa in der Anwendung des Interner Link: N-Wortes. Joanas Lehrer etwa führte eine "schwarze Liste" zusätzlich zu einer bereits bestehenden "roten Liste" ein, auf der er ihren Namen vermerkte. Das rassistische Anders-Machen von Joana, das der Lehrer in diesem Moment vollzieht, wird verbunden mit dem für Schule und Unterricht typischen Vorgang des Listen-Führens. Dieses bewusste Verschwimmenlassen von Ebenen, die uneindeutige Eindeutigkeit, bringt Joana in eine Position der Unterlegenheit. Selbst wenn sie die Äußerung des Lehrers als rassistisch benannt hätte, hätten diesem noch rhetorische Rückzugsmöglichkeiten offen gestanden wie etwa: "Ich schreibe nur eine Liste, so habe ich das nicht gemeint".

Auch in anderen Alltagssituationen erleben Jugendliche Diskriminierung in individueller Form. Im bereits erwähnten Gespräch mit Lisa Sophie erzählt Clement von offen rassistischen Anfeindungen während des alltäglichen Bahnfahrens. Solche direkte individuelle Diskriminierung muss aber nicht notwendigerweise face-to-face erfolgen. Einige Studien haben mittlerweile gezeigt, dass Begegnungen mit hasserfüllten Abwertungen für viele Jugendliche zum Alltag ihres Medienhandelns gehören.

Fazit

Es ist deutlich geworden, wie unterschiedlich und komplex Diskriminierung sein kann: Diskriminierung kann in der Schule, auf der Wohnungssuche oder im Kontakt mit Behörden erfolgen, kann durch Institutionen oder Einzelpersonen praktiziert werden. Besonders an der Erfahrung von Joana lässt sich aber illustrieren, dass die Trennung individueller, institutioneller von struktureller Diskriminierung allenfalls analytischen Wert hat. In der Äußerung des Lehrers artikuliert sich nicht nur eine persönliche, individuelle Abwertung Joanas, sondern ein gesellschaftlicher (und damit struktureller) Rassismus gegenüber schwarzen Menschen bzw. People of Colour. Diskriminierung, ob durch Institutionen oder Einzelpersonen praktiziert, steht nie im luftleeren Raum, sondern vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Machtverhältnisse und Ungleichheiten.

Weitere Inhalte

Julian Ernst (Lehramtsstudium in Köln und Istanbul) ist Doktorand am Arbeitsbereich für Interkulturelle Bildungsforschung der Universität zu Köln. Er forscht zur Medienkritik(fähigkeit) Jugendlicher, zu digitalen Bildungsmedien im Kontext von Hass und Gegenrede sowie zu didaktischen Fragestellungen Interkultureller Bildung. Weiterhin entwickelt er (medien)pädagogische Konzepte u.a. im Auftrag der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) und des Innenministeriums NRW.

Dr. Josephine B. Schmitt (Studium der Psychologie in Hamburg, Promotion im Bereich Medienpsychologie an der Universität Hohenheim) ist Referentin am Center for Advanced Internet Studies (CAIS) in Bochum. Sie forscht unter anderem zu Inhalt, Verbreitung und Wirkung von Hate Speech, extremistischer Propaganda, Gegenbotschaften und (politischen) Informations- und Bildungsangeboten im Internet. Zudem entwickelt sie didaktische Konzepte für die Radikalisierungsprävention unter anderem im Auftrag der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb und des Innenministeriums NRW.