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M 01.04 Geschichtsvergessenheit und Geschichtsversessenheit revisited | 8. Mai 1945 - erinnern heute | bpb.de

8. Mai 1945 - erinnern heute Einstieg (B1) M 01.04 Geschichtsvergessenheit und Geschichtsversessenheit revisited M 01.05 Die Rückkehr der Opfererinnerung M 01.06 Wider die Skandalisierung M 01.07 Geschichtsfernsehen M 01.08 "Erinnerungskultur ist nicht nur Camouflage" M 01.09 Karikatur: Geschichte zum Einsturz bringen Einstellungen zur NS-Zeit (B2) M 02.01 Methode: Vorbereitung und Durchführung der Entscheidungsübung M 02.03 Auswertungsbogen zur Entscheidungsübung M 02.08 Empirische Untersuchungen zum Geschichtsbewusstsein Auswertung der Daten (B4) M 04.01 Sechs-Punkte-Schema zur Auswertung von Umfragedaten M 04.02 Beispielhypothesen zur Analyse der Befragungsdaten Präsentation (B5) M 05.01 Beispiel einer Dokumentation der Befragungsergebnisse Projektevaluation (B6) M 06.01 Methode: Stummes Schreibgespräch Links und Literatur Links für den Unterricht Angebote in den Medien Sachinfos Literatur Redaktion

M 01.04 Geschichtsvergessenheit und Geschichtsversessenheit revisited

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Um [die Geschichte der NS-Zeit] wird gestritten. [...] Worüber indes gestritten wird, verändert sich je nach den aktuellen Bedürfnissen und Standpunkten der Zeitgenossen. Abstrakt und hintergründig geht es dabei immer wieder um den Platz des "Dritten Reiches" in der nationalen Geschichtserzählung. Die Frage nach Kontinuität und Diskontinuität, nach Herkünften und Nachwirkungen ist, wie die Debatten der vergangenen zwei Jahrzehnte deutlich zeigen, eine eminent politische Frage, auf die es verschiedene Antworten gibt. Konkret und vordergründig tobt ein Kampf der Erinnerungen, in den die noch lebenden Zeitzeugen ebenso verwickelt sind wie ihre Kinder und Enkel. Hier geht es um die öffentliche Anerkennung eines Opferstatus, den fast alle für sich reklamieren, erlaubt er es doch, die politische Perhorreszierung des Nationalsozialismus mit einer persönlichen Erfahrung zu verbinden, die sich davon abspalten möchte, ohne den Grundkonsens zu missachten.

Dieser Grundkonsens hat sich in den historischen Debatten der vergangenen dreißig Jahre herausgebildet und umfasst alle politischen Lager - vom rechtsextremen Rand abgesehen. Er besagt, dass während des "Dritten Reiches" Verbrechen unerhörten Ausmaßes in staatlichem Auftrag und "im Namen des deutschen Volkes" begangen worden sind. Deshalb verbietet es sich gleichsam von selbst, sich dieser Epoche positiv zu erinnern. Wie weit und tief allerdings die negative Erinnerung reichen soll, was sie umfasst und was sie ausschließt, daran scheiden sich die Geister. Das private und das Familiengedächtnis verfahren dabei oft milder und großzügiger, in jedem Fall aber unkontrollierter als der öffentliche Umgang mit dem Nationalsozialismus. [...]

Der Umgang mit der Vergangenheit in DDR und BRD


Sich zu erinnern - das war spätestens seit Richard von Weizsäckers Gedenkrede zum 8. Mai 1985 ein Sesam-Öffne-Dich. Dazu trugen die in rascher Folge abgefeierten Jubiläumsjahre (Kriegsbeginn, Kriegsende, Novemberpogrom, Stalingrad, Auschwitz-Befreiung) ebenso bei wie das In-die-Jahre-Kommen der verbliebenen Zeitzeugen. Ihnen blieb nur noch eine begrenzte Spanne, um über ihre Erfahrungen und Erlebnisse zu berichten, und das öffentliche Interesse an diesen Erzählungen war groß. Zugleich aber war das Interesse nicht neutral, sondern es konfrontierte die Erzählenden mit neuen, aufwühlenden Fragen nach individueller Schuld und Verantwortung.

In diesen Fragen lag der explosive Zündstoff, der die Vergangenheitsdebatten jenseits politischer Instrumentalisierung und demographischer Bedrängnis kurz vor der Jahrhundertwende noch einmal kräftig anfachte. Fragen nach persönlicher Teilhabe und Mitwirkung der Vielen waren bislang weder in der DDR noch in der alten Bundesrepublik gestellt worden. Die SBZ/DDR hatte, nach anfänglichen radikalen Entnazifizierungsaktionen in Verwaltung, Justiz, Bildung und Militär, ihre Bevölkerung kollektiv entschuldet und die Verantwortung für den Nationalsozialismus den "usual suspects" aufgebürdet: Monopolkapitalisten und Militaristen, also jenen, die im neuen sozialistischen Staat ohnehin zu Personae non gratae erklärt worden waren.

In der Bundesrepublik hingegen hatte man sich daran gewöhnt, das "Dritte Reich" als "Gewaltherrschaft" zu etikettieren und so ebenfalls die eigene Bevölkerung gewissermaßen zu entlasten. Denn selbst Schergen des Regimes konnten sich lange darauf berufen, nur Befehle ausgeführt, im "Befehlsnotstand" gehandelt zu haben. Die Masse der "kleinen Leute" nahm sich als Opfer wahr, die unter dem Nationalsozialismus und seinen Kriegsfolgen schwer gelitten hätten und deshalb für nichts verantwortlich seien.

An jener Lesart änderten auch die heftigen Attacken der antiautoritären 68er-Bewegung nicht viel. Ihre kritischen Fragen nach personellen und strukturellen Kontinuitäten mündeten rasch in eine globale Verurteilung der Vätergeneration, welche eine echte Auseinandersetzung dauerhaft blockierte. [...]

Ein neuer Zugang


Einen gänzlich neuen, bis dahin ungewohnten Ton schlug Ende der siebziger Jahre die vierteilige amerikanische TV-Serie "Holocaust" an. Ihr Erfolgsrezept bestand darin, dass sie Geschichte intimisierte und emotionalisierte. Indem sie die Judenverfolgung und -vernichtung in Deutschland und den von der Wehrmacht besetzten Ländern Europas als Familiendrama inszenierte, konnten Zuschauer Empathie mit den Opfern empfinden und sich mit deren Leid identifizieren. Das bis dahin namenlose, lediglich in abstrakten Todeszahlen präsente Schicksal der jüdischen Bevölkerung bekam ein Gesicht; es wurde persönlich nachvollziehbar und damit erst "wirklich". Viele Menschen begannen damals, Kontakte zu jüdischen Überlebenden zu knüpfen und die lokale Geschichte auf jüdische Spuren hin zu durchforsten. Einladungen an Überlebende in den ehemaligen Heimatort folgten und führten zu vorsichtigen, oft herzlichen Annäherungen. Denkmalsprojekte, in welcher Form auch immer, begleiteten diesen Prozess der Wiederaneignung. Der Holocaust rückte auf diese Weise, verstärkt durch starke mediale Unterstützung, in den Mittelpunkt der individuellen und kollektiven Auseinandersetzung. Die Geschichte des Nationalsozialismus war seit den achtziger Jahren über weite Strecken identisch mit der Geschichte der Judenvernichtung.

"Hitlers willige Vollstrecker"?


Annäherung an die und Empathie mit den jüdischen Opfern führten aber mittelfristig auch dazu, dass die Rolle der "normalen" Deutschen bei diesem Jahrhundertverbrechen zunehmend in den Blick geriet. Inwiefern hatte die nichtjüdische Bevölkerung mitgewirkt - durch Wegschauen, Denunziationen, Solidaritätsverweigerung? Und was war für diese kollektive Gleichgültigkeit verantwortlich gewesen? Solche Fragen tauchten etwa bei der Lektüre der Tagebücher von Victor Klemperer auf, die 1996 erschienen und sich wider Erwarten blendend verkauften. Der jüdische Autor, der die NS-Zeit in Dresden mit knapper Not überlebt hatte, zeichnete ein bedrückendes Bild seines Überlebenskampfes. Er hatte es nicht nur mit brutalen Gestapo-Beamten zu tun, sondern auch mit gewissenlosen, bestenfalls lethargischen, oft offen feindseligen und grausamen Mitbürgern.

Noch radikaler stellte der amerikanische Historiker Daniel J. Goldhagen die Frage nach Schuld und Verantwortung. Sein [...] Buch über "Hitlers willige Vollstrecker" nahm dezidiert von der Legende Abschied, es seien nur einige wenige gewesen, welche die Mordaktionen des NS-Regimes durchgeführt hätten. Goldhagen wies demgegenüber nach, dass die Zahl der Beteiligten ungleich größer war und, wie bereits Christopher Browning vor ihm festgestellt hatte, "ganz normale" Deutsche umfasste. Er argumentierte darüber hinaus, dass diese Männer ihre Mordtaten nicht unter Zwang, sondern zuweilen geradezu lustvoll begangen hätten, angetrieben von einem seit jeher in der deutschen Kultur verwurzelten "eliminatorischen Antisemitismus".

So sehr Goldhagens Buch von Fachhistorikern gerade wegen dieser eindimensionalen Beweisführung kritisiert wurde, so großer Zustimmung erfreute es sich bei seiner Leserschaft. Seine eingängige Botschaft - alle Deutschen waren 1933 Antisemiten und deshalb auch potentielle Täter - kam an: Sie lieferte nicht nur eine einfache Erklärung für den Holocaust, sie entlastete auch die Nachgeborenen. Denn nach 1945 war jener Antisemitismus, der sich mindestens zwei Jahrhunderte lang in der deutschen Mentalität eingenistet hatte, laut Goldhagen abrupt von der Bildfläche verschwunden. Diese These nahm, überspitzt gesagt, den Charakter eines Heilswissens an, das seinen Konsumenten - sofern sie nach 1945 geboren waren oder die NS-Zeit nur als Kinder durchlebt hatten - Absolution und Erlösung versprach. [...]

Verbrechen der Wehrmacht


Besonders dramatisch kam die Forderung [an die ältere Generation, zumindest in der Erinnerung Rechenschaft abzulegen] in der Ausstellung über "Verbrechen der Wehrmacht" zum Ausdruck. Sie räumte mit einem der letzten Tabus der NS-Erinnerung auf, der Legende von der sauberen Wehrmacht. Diese Legende war zwar von der Geschichtswissenschaft längst als solche enttarnt; in der Bevölkerung jedoch und vor allem unter den ehemaligen Kriegsteilnehmern und ihren Angehörigen hielt sie sich weitgehend unangefochten. Millionen von Soldaten waren nach wie vor der Meinung, einen "normalen" Krieg geführt zu haben; wenn es Auswüchse und Grausamkeiten gegeben hatte, dann nur auf sowjetischer Seite oder als legitime Reaktion auf feindliche Übergriffe. Fünfzig Jahre nach Kriegsende machte die Ausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung publik, dass dem nicht so gewesen war: Neben Dokumenten über den von Anfang an verbrecherischen Charakter des Ostkrieges zeigte sie Fotomaterial aus dem Besitz einfacher Soldaten, das diese als aktive Teilnehmer oder selbstzufriedene Chronisten der Verbrechen abbildete.

Diese These löste landauf, landab große Bestürzung und ebenso große Empörung aus. Viele Kriegsteilnehmer wiesen sie mit Verve von sich; manche reagierten nachdenklich und selbstkritisch. Wer an einer der überaus zahlreichen lokalen und zentralen Diskussionsveranstaltungen im Begleitprogramm der Wehrmachtsausstellung teilgenommen hat, wird die tiefe Erschütterung gespürt haben, welche die Ausstellung provozierte - in ihrer alten, angreifbaren ebenso wie in ihrer neuen, methodisch abgesicherten, aber in der Sache identischen Aussage. Auch diejenigen Soldaten, deren Einheiten nicht oder nicht unmittelbar an dem Vernichtungswerk beteiligt gewesen waren, mussten sich fragen lassen, wie sie unter anderen Umständen gehandelt hätten. Und niemand konnte mehr daran zweifeln, dass Menschen selbst dort, wo sie in einen Zwangsapparat wie das Militär eingespannt waren, über Handlungsspielräume verfügten, die sie je nach Zivilcourage und moralischer Ausstattung so oder so nutzen konnten.

In dieser ethisch-moralischen, zivilgesellschaftlichen Dimension lag die neue, aufrüttelnde Erkenntnis, welche die Wehrmachtsausstellung vermittelte und die sie zu einem zentralen geschichtspolitischen Ereignis erhob. Wie mit jener Erkenntnis umzugehen sei, war gleichwohl umstritten. In den öffentlichen, stark nachgefragten Gesprächen mit Zeitzeugen machte sich nicht selten eine moralisierende Tendenz breit, die bereits frühere Auseinandersetzungen polarisiert und gelähmt hatte. Wichtiger und ergiebiger war es demgegenüber, nicht nur "schlechtes" Verhalten zu rügen, sondern jene Institutionen zu überprüfen, die "gutes" Verhalten hätten einüben, stützen und honorieren können. Moralisch versagt, das wurde in den Debatten sehr deutlich, haben in der Zeit des Nationalsozialismus nicht nur die Individuen, die sich bereitwillig oder gleichgültig, jedenfalls ohne Gewissensbisse in die Terrormaschinerie einbinden ließen; versagt haben auch ihre Familien, ihre Lehrer, Pfarrer, Richter, ihre Freundeskreise, ihr soziales und konfessionelles Milieu.

Aus: Ute Frevert, Der jüngste Erinnerungsboom in der Kritik, in: Interner Link: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 40-41/2003

Fussnoten