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Filmbesprechung

Sarina Lacaf

/ 6 Minuten zu lesen

Der französische Spielfilm „Der Himmel wird warten“ beginnt mit Fassungslosigkeit und Ohnmacht. Er beginnt mit einem Gespräch zwischen Eltern, deren Kinder im Internet von radikalen Islamisten angeworben wurden. Ein Vater berichtet: „Mein Sohn und ich, wir teilten alles. Wir trieben Sport. Wir gingen zusammen fischen, laufen … Er liebte die Berge. Wir gingen zusammen klettern … Wir teilten alles. Und eines schönen Morgens bekamen wir einen Anruf. Man sagte uns, Thomas sei an der Grenze verhaftet worden. Ich hatte nichts gemerkt, gar nichts.“

Was bringt junge Frauen in Europa dazu, sich dem Dschihad anzuschließen? Und wie können sie den Weg zurück in unsere Gesellschaft finden? (© Neue Visionen)

Es sind Angehörige französischer Familien, die ihre Erfahrungen in dieser Runde austauschen. Sie scheinen gut situiert, ihr Familienleben intakt. Für sie alle hat sich das sichere Gefühl, die eigenen Kinder gut zu kennen und deshalb zu wissen, was in ihnen vorgeht, als Trugschluss entpuppt. Ihr Kind sei wie ein Phantom, das sie nur noch schütteln möchte, sagt eine Frau. Ein Paar tut die Anzeichen der Radikalisierung ihrer Tochter als pubertäre Laune ab.

Die Regisseurin Marie-Castille Mention-Schaar bricht gleich zu Beginn ihres Filmes mit der Annahme, dass radikal-islamistische Indoktrinierung ausschließlich ein Problem schlecht integrierter muslimischer Einwandererfamilien sei, das die breite Masse der französischen Bevölkerung nur in der weiteren Konsequenz beträfe. Vielmehr zeigt sie, dass es auch gebildete junge Menschen aus der Mittelschicht sind, die der Propaganda von Terrororganisationen wie dem Islamischen Staat anheimfallen. Ihr Film beleuchtet das Thema aus einer genderspezifischen Perspektive. Im Zentrum stehen ausschließlich weibliche Figuren. Ausgehend von der anfänglichen Ratlosigkeit, ist „Der Himmel wird warten“ der Klärung zweier Fragen gewidmet: Was bringt junge Frauen in Europa dazu, sich dem Dschihad anzuschließen? Und wie können sie den Weg zurück in unsere Gesellschaft finden?

Multiperspektivisches Erzählen

Mention-Schaar bedient sich einer multiperspektivischen Erzählweise, um die komplexe Thematik facettenreich und unter Einbezug unterschiedlicher Seiten abzubilden. Drei Erzählstränge, die episodisch im Wechsel verfolgt werden, erzählen die Geschichte jeweils einer Protagonistin. Ein weiterer zeigt Szenen aus der eingangs erwähnten Gruppensitzung betroffener Eltern, zu der der Film immer wieder zurückkehrt.

Die Protagonistin Mélanie wird von Islamisten rekrutiert. Schritt für Schritt radikalisiert sie sich. (© Neue Visionen)

Eine der drei Protagonistinnen des Films ist die 16-jährige Mélanie. Mention-Schaar führt sie als gewöhnlichen Teenager ein: Sie besucht das Gymnasium, verbringt Zeit im Kreis ihrer Freundinnen, engagiert sich sozial für Burkina Faso, spielt Cello, fragt sich, welcher Lippenstift am besten zu ihrer Haarfarbe passt. Und sie ist nachdenklich, so wie es die meisten Jungen und Mädchen in ihrem Alter sind. Der Schriftzug „Und wenn wir die Welt verändern würden...“ ziert den Header ihrer Facebook-Seite. Zwar ist Mélanies Familie christlich geprägt, Religion spielt in ihrem Alltag aber keine Rolle. Von Beginn des Films an wird Mélanie immer wieder über Einstellungen charakterisiert, die sie beim Umherlaufen durch ihre Umgebung zeigen und durch eine besonders sinnliche Lichtgestaltung auf eine sensible Weltwahrnehmung verweisen. Solche Einstellungen treten gehäuft auf, als Mélanies Großmutter stirbt. Für Mélanie bleibt ein Gefühl der Leere zurück. Während ihr Umfeld ihr nicht viel mehr als Kurznachrichten mit traurigen Smileys anzubieten hat, trifft der junge Mann, der ihr auf Facebook eine Freundschaftsanfrage geschickt hat und sich „Epris de Liberté“ („Freigeist“) nennt, mit seinen aufmerksamen Kommentaren und spirituellen Anregungen genau den richtigen Ton, um Mélanie zu trösten. Ob sie gläubig sei, fragt er irgendwann. Erst nach und nach hält eine radikal-islamistische Weltanschauung immer forcierteren Einzug in seine Nachrichten. Der zunehmende Einfluss, den er auf Mélanie ausübt, wird durch die Präsenz seiner Stimme auf der Tonebene inszenatorisch veranschaulicht.

Die 17-jährige Sonia hat all das bereits hinter sich. Ihre Eltern fallen aus allen Wolken, als die Polizei eines Nachts ihr Zuhause stürmt und Sonia festnimmt. Zwei Monate zuvor ist Sonias Versuch, nach Syrien auszureisen, im letzten Moment gescheitert, weil sie am Flughafen kollabiert ist. Nun steht sie unter Verdacht, als Teil eines radikal-islamistischen Netzwerks einen Anschlag in Frankreich vorbereitet zu haben. Unter strengen Bedingungen darf Sonia ihre Haft zu Hause verbringen. Sie steht unter Arrest, der Zugang zu Internet und Telefon ist ihr untersagt. Nach außen reagiert Sonia hart und widerborstig; allein in ihrem Zimmer fällt sie der Panik anheim. Heimlich versucht sie zu beten, denn die Isolation nimmt sie vor allem als Hindernis auf ihrer Mission wahr: Als Märtyrerin will sie ihre ungläubige Familie vor der Hölle retten. Nicht nur das Ausmaß von Sonias Indoktrinierung wird in diesen Szenen deutlich, sondern auch, welche Belastung die Situation für die ganze Familie bedeutet. Während der Konflikt zwischen Sonia und ihrem Vater Samir, der muslimische Wurzeln hat, mehrfach lautstark eskaliert, versucht ihre Mutter, liebevoll und mit Verständnis zu reagieren. Und dann ist da noch Sonias jüngere Schwester Emilie, die eines Tages Sonias Dschilbab ausgräbt und selbst anlegt. Die dritte Protagonistin des Films, Sylvie, ist die Mutter eines Mädchens, das sich aller Wahrscheinlichkeit nach in Syrien aufhält. Im Laufe des Films erfahren die Zuschauenden, dass es sich hierbei um die Mutter von Mélanie handelt. Die Hilflosigkeit und die Schuldgefühle, die die betroffenen Eltern in ihrer Gesprächsrunde immer wieder äußern, konkretisieren sich an der Figur Sylvies und erhalten durch sie eine anschauliche emotionalen Dimension. In dem Gefühl, von der Regierung im Stich gelassen zu werden, plant Sylvie sogar, ihrer Tochter nach Syrien zu folgen, um sie auf eigene Faust zu suchen.

Komplexe Dramaturgie und subtile Montage

Die Geschichten von Mélanie und Sonia beschreiben eine Entwicklung in entgegengesetzte Richtungen: den Weg von der Normalität in die Radikalisierung und umgekehrt. Dabei werden die einzelnen Stufen von Mélanies Radikalisierungsprozess ebenso detailliert nachgezeichnet wie die schrittweisen Erfolge, die Sonia durch die Teilnahme an einem Deradikalisierungsprogramm und die Unterstützung ihrer Eltern erlebt. Während Mélanies Geschichte mit ihrer Ausreise nach Syrien endet – Mention-Schaar verzichtet darauf, ihr nach Syrien zu folgen und über das Schicksal ausgereister Konvertitinnen zu spekulieren –, schließt der Film mit einem hoffnungsvollen Ausblick für Sonia ab.

Sonias Eltern sind froh, dass ihre Tochter nicht nach Syrien gegangen ist und zu einem normalen Leben zurück findet. (© Neue Visionen)

Die unterschiedlichen Erzählstränge von „Der Himmel wird warten“ sind auf elegante Weise zu einer komplexen dramaturgischen Anordnung montiert. Kausale und chronologische Zusammenhänge zwischen den Geschichten der einzelnen Protagonistinnen bleiben lange im Vagen. Auf diese Weise spielt Mention-Schaar mit dem Wissensstand der Zuschauenden und erzählt ihre Geschichte besonders fesselnd. Erst im letzten Drittel des Films wird etwa offenbar, dass es sich bei Sylvies Tochter um Mélanie handelt und Sylvies Geschichte zeitlich nach Mélanies Ausreise angesiedelt ist: Als Sylvie einen im Keller verstauten Cello-Kasten wiederfindet, stürmt sie aufgebracht in ein Zimmer ihrer Wohnung, das filmisch zuvor als Zimmer von Mélanie etabliert worden ist. Auch zwischen den anderen Handlungssträngen kommt es im Laufe des Films zu Berührungspunkten: Gegen Ende des Films begegnen Sylvie und Sonia einander bei dem Beratungsangebot für betroffene Eltern, wo Sylvie Hilfe sucht und Sonia ihre Erfahrungen mit den Erwachsenen teilt.

Immer wieder werden durch die Montage auch Parallelen zwischen den Protagonistinnen gezogen und feine Verbindungen hergestellt. So ist etwa eine Schlüsselsequenz, die einen fundamentalen Wendepunkt im Leben beider Mädchen darstellt, als Parallelmontage umgesetzt. Während sich Mélanie, Niqab tragend, mit einem letzten Stück auf dem Cello vom Musikmachen verabschiedet, das ihr von nun an verboten ist, entdeckt Sonia lange verstaute Malutensilien und damit ihr früheres Ich wieder. An anderer Stelle schafft einer von zahlreichen Match Cuts eine subtile Verbindung zwischen Sylvie und Mélanie: Das ausgelassene Lachen von Mélanie und ihren Freundinnen wird in der nächsten Einstellung zum Lachen einer Mädchengruppe, das Sylvie schmerzvoll an ihre Tochter denken lässt.

Wirklichkeitsnähe und Analytische Einordnung

Eine besondere Stärke des Films liegt darin, die anschauliche Darstellung konkreter Radikalisierungsgeschichten mit einer analytischen Einordnung des Gezeigten zu verbinden. Für letzteres sorgt die real existierende Anthropologin Dounia Bouzar, die sich im Film als Leiterin der Gesprächsrunde gewissermaßen selbst spielt. Als Mitbegründerin eines Zentrums zur Prävention der islamistischen Radikalisierung (Centre de prévention des dérives sectaires liées à l‘Islam / CPDSI) in Paris hat Dounia Bouzar zahlreiche radikalisierte Jugendliche betreut. Sie hat mehrere Bücher zum Thema veröffentlicht, unter anderem den Roman „Ils cherchent le paradis, ils ont trouvé l‘enfer“ (freie Übersetzung: „Sie suchen das Paradies, sie haben die Hölle gefunden“), von dem auch der Film inspiriert ist. Die Sequenzen in der Gesprächsrunde bekommen durch ihre Präsenz einen semi-dokumentarischen Charakter. Verstärkt wird dieser durch die filmische Inszenierung, die sich durch den Einsatz einer wackeligen Handkamera und die diskontinuierliche Montage stark vom Rest des Films abhebt. Wenn Dounia Bouzar den Betroffenen die strategischen Muster der Indoktrination oder den Unterschied zwischen Islam und Islamismus erläutert, unterfüttert sie gleichzeitig für die Zuschauenden die Narration mit dem nötigen Hintergrundwissen.

Ihr Mitwirken am Film trägt auch außerhalb der filmischen Darstellung zur Authentizität des Geschilderten bei: Für die Recherche zu ihrem Film hat die Regisseurin Dounia Bouzar drei Monate lang bei der Arbeit begleitet. Fallstudien aus der Resozialisierungsarbeit bieten daher die Grundlage der fiktiven Radikalisierungsbiografien. Zahlreiche Details sind authentischen Berichten von Eltern und Jugendlichen entlehnt. So bietet „Der Himmel wird warten“ einen informationsreichen und wirklichkeitsnahen Einstieg in die Thematik, der keine Lösungsansätze formuliert, aber zur Reflexion einlädt.

Weitere Inhalte

Sarina Lacaf ist studierte Filmwissenschaftlerin. Als freie Filmvermittlerin und Autorin verfasst sie filmpädagogische Begleitmaterialien und leitet Schulklassenworkshops und Lehrkräftefortbildungen, unter anderem für kinofenster.de, DOK.education München, DOK Leipzig, das Kinderfilmfest im Land Brandenburg und LUCAS – Internationales Festival für junge Filmfans. In verschiedenen Positionen hat sie außerdem für das DOK.fest München, die Kinemathek Hamburg und die Cinémathèque Leipzig gearbeitet.