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Betroffenheit als Voraussetzung | bpb.de

Betroffenheit als Voraussetzung Vier Thesen

Eduard Jan Ditschek

/ 2 Minuten zu lesen

1. These

Menschen mit Lernschwierigkeiten bzw. mit geistiger Behinderung leben oft in einer Parallelwelt. Sie wohnen mit Ihresgleichen in Heimen bzw. in betreuten Wohngemeinschaften und arbeiten in eigens für sie eingerichteten Werkstätten für behinderte Menschen. Zwar genießen die, die nicht unter gesetzlicher Betreuung stehen, alle staatsbürgerlichen Rechte, aber sie wissen oft nicht, was diese Rechte für sie bedeuten oder wie sie durch die Ausübung dieser Rechte ihre eigene Lage beeinflussen könnten.

2. These

Die Menschen, deren Einschränkungen sie auch daran hindern, selbstbewusst und selbstmotiviert Bildung in Anspruch zu nehmen, treffen auf eine Erwachsenenbildung, die bewusst oder unbewusst der Logik des 'Matthäus-Prinzips' huldigt: Wer hat, dem wird gegeben. Statt einer Willkommenskultur herrscht eine 'Komm-Struktur' vor: Wer kommt, der ist willkommen. Aber Eigeninitiative ist gefordert. Die zunehmende Ökonomisierung auch der Weiterbildung bietet allzu oft auch den Einrichtungen der allgemeinen Erwachsenenbildung eine Begründung dafür, nicht auf diejenigen zugehen zu können, die Bildung am dringendsten benötigen. Gerade zu den Veranstaltungen der politischen Erwachsenenbildung kommen aber aus freien Stücken immer weniger Leute. Die Menschen mit Lernschwierigkeiten oder geistiger Behinderung sind also bei weitem nicht die einzigen, die ein Umdenken in Richtung einer eher 'aufsuchenden', methodisch attraktiven politischen Erwachsenenbildung brauchen.

3. These

Neben eher formalen Kriterien der Angebotsgestaltung ist Betroffenheit für die Attraktivität politischer Bildung eine wichtige Kategorie. Menschen sind entweder direkt von politischen Entscheidungen betroffen, sie sehen, dass sie ein Thema betrifft oder sie lassen sich betroffen machen. In allen drei Dimensionen von Betroffenheit kann politische Erwachsenenbildung wirksam sein. Sie kann sich auf ein Thema beziehen, das möglichst viele Menschen betrifft (wie das Thema Wahlen), sie kann Menschen mit Behinderung als Betroffene zu Wort kommen lassen und last but noch least kann sie Menschen ohne Behinderung betroffen machen, indem sie auf diskriminierende Strukturen und Verhaltensweisen gegenüber Menschen mit Behinderung hinweist.

4. These

Walter Benjamins Feststellung, dass "die beste Tendenz falsch ist, wenn sie die Haltung nicht vormacht, in der man ihr nachzukommen hat", gilt auch für die politische Erwachsenenbildung. Die Lehrenden müssen selbst betroffen sein oder sich zumindest betroffen fühlen und sie müssen bei den Teilnehmenden Betroffenheit erzeugen können. Die Teilnehmenden wiederum müssen bereit und in der Lage sein, ihre Betroffenheit in Handlung, zumindest aber in Haltung umzusetzen. Ob und wie das für Menschen mit geistiger Behinderung möglich ist, hängt davon ab, in welchem Maße soziale Teilhabe im Alltag gewährleistet ist und demokratische Partizipation gelebt werden kann. Ohne flankierende Maßnahmen des Empowerments und ohne Einbindung in umfassende Demokratisierungsstrategien vor allem in den Werkstätten für behinderte Menschen bleibt politische Bildung für Menschen mit Lernschwierigkeiten bzw. mit geistiger Behinderung theoretisch und damit wirkungslos

Fussnoten

Dr., geb. am 21. Dezember 1949, ist Volkshochschuldirektor a.D. Er arbeitete von 1981 bis 2010 in der Berliner Erwachsenenbildung, zuletzt als Leiter der Volkshochschule Berlin Mitte; Mitbegründer des Berliner Aktionsbündnisses Erwachsenenbildung inklusiv (ERW-IN) Homepage: Externer Link: http://www.erw-in.de und Mitarbeit in der Gesellschaft Erwachsenenbildung und Behinderung Homepage: Externer Link: http://www.geseb.de.