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Das Leitprinzip der Selbstbestimmung

Dorothee Meyer Bettina Lindmeier

/ 5 Minuten zu lesen

Der Begriff der Selbstbestimmung ist im politischen Kontext wesentlich mit Artikel 2 des Grundgesetzes verknüpft, der das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit garantiert. Öffentlich diskutiert werden in diesem Zusammenhang beispielsweise das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung, das Recht auf körperliche Unversehrtheit, letzteres vor allem im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt, und neuerdings das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, also das Recht, darüber zu bestimmen, ob und wie die eigenen Daten verwendet oder weitergegeben werden.

In Deutschland wurde der Einfluss des Prinzips der Selbstbestimmung auf die pädagogische und insbesondere die sonderpädagogische Fachdiskussion maßgeblich durch einen Kongress der Bundesvereinigung Lebenshilfe e. V. zu diesem Thema gestärkt, der 1994 in Duisburg stattfand (vgl. BVLH 1996). Die Bundesvereinigung Lebenshilfe ist zugleich eine Selbsthilfevereinigung, ein Eltern-, Fach- und Trägerverband für Menschen mit insbesondere geistiger Behinderung und ihre Familien und damit auch eine von Betroffenen initiierte Vereinigung (vgl. Lindmeier / Lindmeier 2012: 157).

Zum ersten Mal aufgegriffen von einer politischen Bewegung von Menschen mit Behinderung wurde das Prinzip der Selbstbestimmung bereits Jahrzehnte zuvor in der internationalen Independent-Living-Bewegung, die in den 1960er-Jahren in den USA ihren Anfang nahm. Menschen mit Körperbehinderung erstritten die Erlaubnis, trotz umfangreicher Beeinträchtigungen auf dem Campus einer Universität zu leben und zu studieren. 1972 wurde im kalifornischen Berkeley das erste Zentrum für ein selbstbestimmtes Leben behinderter Menschen (Center for Independent Living) gegründet, zu dessen Leistungen das Peer Counseling gehörte, d. h. die Beratung von behinderten Menschen durch behinderte Menschen als Expertinnen und Experten in eigener Sache. (…)

In der Bundesrepublik Deutschland formierte sich eine politisch motivierte Bewegung körperbehinderter Menschen im Verlauf der 1970er-Jahre; sie fand 1981 in Dortmund einen ersten Höhepunkt im »Krüppeltribunal«. Das Krüppeltribunal war eine Protestaktion gegen das »Internationale Jahr der Behinderten« in Westdeutschland, das weitgehend unter Ausschluss behinderter Menschen stattfand. Angeklagt waren Menschenrechtsverletzungen in Heimen, Werkstätten für Behinderte und Psychiatrien sowie Missstände im öffentlichen Personennahverkehr und mangelnde Barrierefreiheit. Selbsthilfegruppen und einzelne behinderte Aktivistinnen und Aktivisten wurden durch diese und nachfolgende Aktionen erstmals als Handelnde wahrgenommen, die keiner Vertretung durch Wohlfahrtsverbände bedurften und diese als bevormundend ablehnten. 1986 wurde das erste Zentrum für Selbstbestimmtes Leben in Bremen gegründet. Heute gibt es in den meisten Bundesländern Zentren für Selbstbestimmtes Leben. (…).

Selbstbestimmt leben impliziert »die Kontrolle über das eigene Leben […]. Dies umfasst die Regelung der eigenen Angelegenheiten, die Teilnahme am täglichen Leben in der Gemeinde, die Ausübung einer Reihe von sozialen Rollen, das Treffen von Entscheidungen, die zur Selbstbestimmung führen und die Minimierung von physischen und psychischen Abhängigkeiten von Anderen« (Frieden u. a. 1979, zit. n. Miles-Paul 1992: 19 ff.). Ziel der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung war und ist bis heute, dass die »Regiekompetenz« für das eigene Leben und die benötigte Assistenz bei den Assistenznehmerinnen und -nehmern liegen soll(te). Das Vorhandensein von Unterstützungs- bzw. Assistenzbedarf soll(te) also nicht länger dazu führen, dass andere – Leistungsträger, ausführende Personen – bestimmten, welche Unterstützung wie geleistet würde. (vgl. Ottmar Miles-Paul und Uwe Frehse: 1994)

Das Leitprinzip der Selbstbestimmung verändert vor allem das professionelle Arbeitsbündnis und das Beziehungsgefüge zwischen Fachleuten und Menschen in marginalisierten Lebenslagen (vgl. Rock 2001). Als neue Rolle der Fachkräfte werden Assistenz und Begleitung anstelle von »befürsorgunger« (Wortschöpfung aus Bevormundung und Fürsorge) Betreuung gefordert. Das Peer Counseling, die Beratung durch gleich Betroffene, die in den Zentren für Selbstbestimmtes Leben erfolgt, unterstützt Menschen mit Behinderung in diesem Prozess (vgl. Mürner / Sierck 2012). (…)

Ihre Unterstützung durch Assistenz im Sinne eines selbstbestimmten Lebens können behinderte Menschen selbst organisieren, indem sie selbst als Arbeitgeber fungieren,
d. h. ihre Assistenzkräfte beschäftigen, sie einstellen, einweisen und die »Regiekompetenz« ausüben. Auch hier leisten die Zentren für Selbstbestimmtes Leben Hilfestellung, indem sie zu rechtlichen und praktischen Fragen beraten, informieren und Fortbildungen anbieten (vgl. Mobile – Selbstbestimmt leben Behinderter e. V. 2001). Es ist trotzdem noch immer ein kleinerer Teil der Menschen mit einer körperlichen Beeinträchtigung und hohem Assistenzbedarf, der diese Persönliche Assistenz nach dem Arbeitgebermodell organisiert.

Selbstbestimmung ist auch bei schwerer und mehrfacher Behinderung möglich, denn auch bei extremer Einschränkung der Handlungskompetenz ist Entscheidungs- oder Regiekompetenz möglich. Die Wünsche und Bedürfnisse schwer und mehrfach behinderter Menschen können sich auch in leiblichen Ausdrucksformen artikulieren (Laut- und Geräuschproduktion, Bewegungsdrang, Selbst- oder Fremdaggression, Ausscheidung usw.). Diese Ausdrucksformen als Akte der Selbstbestimmung zu er-kennen, erfordert ein Umdenken hinsichtlich unserer Auffassung von Behinderung. In diesem Fall besteht eine Aufgabe der Assistenz darin, diese Äußerungen zu interpretieren und schwer und mehrfach behinderten Menschen dadurch Handlungsmöglichkeiten anzubieten, auch wenn die Regiekompetenz von ihnen nicht ohne Weiteres wahrgenommen werden kann. Zielsetzung ist auch hier die Auflösung von Machtstrukturen, um den Alltag nicht länger für, sondern mit behinderten Menschen zu gestalten, indem ihre Wünsche und Bedürfnisse zum Orientierungspunkt des (pädagogischen) Handelns werden.

In der Arbeit mit Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung wird Selbstbestimmung international unter fünf Gesichtspunkten diskutiert: (…)

  1. »Selbstbestimmung ist ein Bündel von Fähigkeiten und Fertigkeiten bzw. Kompetenzen, die gelernt werden können – und gelehrt werden müssen; (…)

  2. Selbstbestimmung ist ein innerer Antrieb zu autonomem, selbstgesteuertem und selbstbewusstem Verhalten; (…)

  3. Selbstbestimmung ist eine Form menschlicher Selbstgestaltung, die sich nur im Rahmen kommunikativer und sozialer Beziehungen vollzieht. Intentionale Kommunikation kann als eine grundlegende Form von Selbstbestimmung angesehen werden, entsprechend großer Wert muss auf die Kommunikationsangebote (Signale) nicht sprechender Menschen gelegt werden. Zudem ist das Leben aller Menschen durch gegenseitige Abhängigkeit, durch Interdependenz zwischen sich nahestehenden Menschen, gekennzeichnet. Die soziale Komponente der Selbstbestimmung besteht daher in der Unterstützung von Beziehungen.

  4. Selbstbestimmung ist ein politisches Recht, ein Bürgerrecht, das jedem Menschen unabhängig von Art und Ausprägung seiner Behinderung zusteht.

  5. Selbstbestimmung impliziert eine Aufforderung zur Veränderung des Systems der Hilfen für Menschen mit geistiger Behinderung« (Lindmeier /Lindmeier 2012: 160).


Fundstellenangaben:

  • BVLH – Bundesvereinigung Lebenshilfe für geistig Behinderte e. V. (Hrsg.) (1996): Selbstbestimmung. Kongreßbeiträge. Marburg. Lindmeier, Bettina / Lindmeier, Christian (2012): Pädagogik bei Behinderung und Benachteiligung. Stuttgart.

  • Miles-Paul, Ottmar (1992): ›Wir sind nicht mehr aufzuhalten!‹ Beratung von Behinderten durch Behinderte. Vergleich zwischen den USA und der Bundesrepublik. München. Online verfügbar unter: Externer Link: http://bidok.uibk.ac.at/library/miles_paul-peer_support.html (Zugriff: 13.05.2020).

  • Miles-Paul, Ottmar / Frehse, Uwe (1994): Persönliche Assistenz: Ein Schlüssel zum selbstbestimmten Leben Behinderter. In: Gemeinsam leben, Jg. 2, H. 1. S. 12 bis 16. Mobile – Selbstbestimmt leben Behinderter e. V. (2001): Selbstbestimmt Leben mit persönlicher Assistenz. Bd. A: Ein Schulungskonzept für Assistenznehmer. Neu-Ulm.

  • Mürner, Christian / Sierck, Udo (2012): Behinderung. Chronik eines Jahrhunderts. Weinheim / Basel.

  • Rock, Kerstin (2001): Sonderpädagogische Professionalität unter der Leitidee der Selbstbestimmung. Bad Heilbrunn.

Der Artikel ist eine gekürzte Fassung des Aufsatzes Lindmeier, B./Meyer, D. Empowerment, Selbstbestimmung, Teilhabe ‒ Politische Begriffe und ihre Bedeutung für die inklusive politische Bildung (2020). In: Externer Link: Meyer, D./Hilpert, W./Lindmeier, B. (Hrsg.): Grundlagen und Praxis inklusiver politischer Bildung. Bonn. S. 38 - 56.
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Fussnoten