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Deutsche Einheit | bpb.de

Deutsche Einheit

Wichard Woyke

Staatliche Einheit

Als die Mauer am 09.11.1989 fiel und darüber hinaus der real existierende Sozialismus implodierte, war klar, dass die Interner Link: DDR auf Dauer nicht überleben würde. Doch dass der Zusammenbruch so schnell erfolgte und bereits ein Jahr später die dt. staatliche Vereinigung vollzogen war, hatten auch die größten Optimisten wohl nicht angenommen. Die umfangreiche Wanderung von DDR-Bürgern in den Westen im Winter 1989/90 erforderte eine Antwort der BRD, die sich im Staatsvertrag mit der DDR über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion niederschlug, der zum 01.07.1990 in Kraft trat. Mit diesem Vertrag wurde nicht nur die Deutsche Mark (DM) in der DDR eingeführt, sondern auch die sozialistische Planwirtschaft abgeschafft und durch die Interner Link: Soziale Marktwirtschaft ersetzt. Dadurch setzte bereits ein dramatischer Umstrukturierungsprozess noch in der DDR ein, der auch heute (2019) noch nicht abgeschlossen ist. Der Vertrag zwischen der BRD und der DDR vom 31.08.1990 regelt die staatliche „Herstellung der Einheit Deutschlands“. Faktisch handelte es sich um einen Beitritt der maroden DDR zur BRD, deren Regierung und Bürger diesen Vorgang aber zunächst nicht als eine Möglichkeit für dringend notwendige Reformen nutzten.

Innere Einheit

Die innere Einheit vollzieht sich seit 29 Jahren in den Bereichen Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur und Wissenschaft – Bereiche, die miteinander in Verbindung stehen.

Wirtschaft

Auch wenn in D in den beiden ersten Jahrzehnten nach der Vereinigung Ernüchterung über diese Entwicklung eingekehrt war, gibt es eindrucksvolle Erfolge der dt. Einigung. Zunächst wurde die Freiheit der Deutschen bis an die polnische Grenze ausgedehnt. Vieles von dem, was die Ostdeutschen in der DDR nicht hatten, wurde zu einer Selbstverständlichkeit: umfassende Garantie der persönlichen Freiheitsrechte, reibungslose Einführung des Interner Link: Rechtsstaats, Gewährleistung der inneren Sicherheit, Aufbau funktionierender Verwaltungen sowie moderner Bildungs- und Hochschuleinrichtungen, Etablierung sozialer Sicherungssysteme wie Renten- und Arbeitslosenversicherung, grundlegende Verbesserung der Wohnsituation, Aufhebung der Mangelwirtschaft u. a. m. Werden alle Finanztransfers in den Osten zusammengerechnet – also Wirtschaftsfördertöpfe, Solidarpakt, Länderfinanzausgleich und EU-Fördermittel sowie Transfers über die Sozialsysteme abzüglich selbst erzeugter Steuern und Sozialabgaben – so werden zwischen 1990 und 2014 von verschiedenen Forschungsinstituten netto knapp zwei Billionen Euro bilanziert. Die für den Osten aufgebrachten Sonderleistungen und Hilfen sind aber weit geringer, da die meisten Transfers bundeseinheitlichen Vorgaben folgen. So stehen Finanzausgleich, Ausgaben für Rente, Arbeitsmarkt, Bundeswehr, Hochschulen, Straßen, BAföG und Kindergeld allen Ländern und Gemeinden zu. Damit reduziert sich die reine Osthilfe laut Sachverständigenrat auf jährlich ca. 15 Mrd. €. Im Rahmen des Solidarpakts II sind von 2005 bis 2019 156,1 Mrd. € für die östlichen Länder vorgesehen. Nach wie vor gibt es in den östlichen Ländern keinen sich selbst tragenden Aufschwung, so dass sie weiterhin auf Unterstützung angewiesen sind. Die Finanzierung der dt. Einheit ist mit dem größten Verschuldungsprogramm in der Geschichte der BRD vorgenommen worden. So nahm die Verschuldung der öffentlichen Haushalte von 596 Mrd. € im Jahre 1991 auf 2050 Mrd. € im Jahre 2011 zu. Insgesamt wurde der „Aufbau Ost“ nicht nur viel teurer als erwartet, sondern er dauerte auch wesentlich länger als geplant und hält immer noch an.

Die finanziellen Transfers haben trotz Deindustrialisierung, Massenarbeitslosigkeit, Abwanderung und Geburtenrückgang zu großen Erfolgen im Osten, u. a. zu modernen Verkehrs- und Kommunikationssystemen wie auch zur Modernisierung der Infrastruktur geführt. So wurde das reale Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf zwischen 1991 und 2017 auf fast 74 % des westdt. BIP gesteigert. Fortschritte im Stadt- und Landschaftsbild sind nicht zu übersehen. Dennoch sind die ökonomischen Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland beträchtlich. Das große Problem in Ostdeutschland war – und ist es auch heute noch in einigen Gebieten – die Arbeitslosigkeit. Während sie im Osten im Jahr 1999 noch bei über 17 Prozent lag, betrug sie im Jahr 2017 im Durchschnitt noch 7,6 Prozent – im Vergleich zu 5,3 Prozent in Westdeutschland. Die Wirtschaftsleistung in den neuen Ländern hat deutlich aufgeholt. Der Anteil der Industrie an der Bruttowertschöpfung liegt in Ostdeutschland dabei heute höher als im Durchschnitt der EU. Auch bei der Wirtschaftskraft hat der klein- und mittelständisch geprägte Osten Ds den Durchschnitt der EU schon fast erreicht. Wenngleich der Abstand beim BIP je Einwohner zu den erfolgreichsten westdt. Regionen fortbesteht, ist es einigen ostdt. Regionen wie zum Beispiel Jena und Leipzig bereits gelungen, westdt. Regionen bei der Wirtschaftskraft zu überholen. Trotz vieler positiver Ergebnisse gibt es nach wie vor deutliche Unterschiede zwischen Ost und West, eine Entwicklung, die die Menschen im Osten spüren. Beim Lohnniveau und der Wirtschaftskraft liegt Ostdeutschland weiterhin gegenüber Westdeutschland zurück. Es gibt kein einziges ostdt. Unternehmen, das im Börsenleitindex DAX-30 notiert ist, und nahezu kein Großunternehmen hat seine Zentrale in Ostdeutschland. Viele ostdt. Unternehmen gehören zudem zu westdt. oder ausländischen Konzernen.

Politische Kultur

Hinsichtlich der Interner Link: politischen Kultur haben sich Anpassungen ergeben, wenngleich auch heute noch Unterschiede zwischen Ost und West existieren. Nach 15 Jahren Einheit hatten sich die Vertrauenswerte in Bezug auf die parteienstaatlichen Institutionen zwischen beiden Teilen Ds angeglichen, wenn auch auf niedrigem Niveau. In Bezug auf die Interner Link: politische Partizipation überwiegen inzwischen die Gemeinsamkeiten gegenüber den Unterschieden, allerdings ebenfalls auf einem niedrigen Niveau. Seit 1990 bejahen die Bürger der neuen Länder in ihrer übergroßen Mehrheit die Idee der Interner Link: Demokratie mit ähnlichen Werten wie die Westdeutschen. Im Jahr 2014 liegt die Zustimmung zur Staatsform der Demokratie im Osten bei 82 %, im Westen bei 90 %. Die Differenz zwischen Ost- und Westdeutschen hat sich somit auf 8 Prozentpunkte reduziert. Im Jahr 2014 sieht also nach wie vor eine klare Mehrheit der dt. Bürger die Demokratie allgemein als die beste Staatsform an, nur eine sehr kleine Minderheit präferiert eine andere Staatsform. Ein etwas anderes Bild zeigt sich bezüglich der Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie in D. Diese Einstellung bezieht sich weniger auf die Verfassungsnorm, als vielmehr auf die Verfassungsrealität oder die Praktizierung der Demokratie in D. Zwischen 2014 und 2015 entwickeln sich Ost- und Westdeutschland jedoch unterschiedlich. Während im Westen die Demokratiezufriedenheit weiter ansteigt, sinkt sie im Osten deutlich von 59 % auf 47 % ab. Die Unzufriedenheit mit der Demokratie wird u. a. auf das Ausbleiben eines sich selbst tragenden wirtschaftlichen Aufschwungs in den neuen Bundesländern zurückgeführt. Dazu kommt, dass viele Ostdeutsche das Gefühl haben, dass die Verteilung der gesellschaftlichen Güter nicht gerecht ist und sie nicht den ihnen zustehenden Anteil erhalten. Schließlich erklärt sich die geringere Systemakzeptanz in Ostdeutschland aus dem Empfinden vieler Ostdeutscher, im vereinten D nicht gleichberechtigt zu sein und als Bürger zweiter Klasse behandelt zu werden.

Gesellschaft

Im Gegensatz zu den westlichen Ländern schrumpfte die Bevölkerung in den Ostländern von 1990 bis 2015. So ist die Bevölkerungszahl in den neuen Ländern in den vergangenen 28 Jahren um 11 % (fast 2 Mio. Menschen) zurückgegangen. Die Abwanderung aus den neuen Ländern in den Westen ist mittlerweile deutlich gesunken. Der Zug gen Westen bedrohte die wirtschaftliche Entwicklung unmittelbar. Mit den seit 1991 anhaltenden Wanderungsverlusten geht eine Standortschwächung der östlichen Länder einher, z. B. durch die Verringerung von regionaler Kaufkraft, der Verstärkung des Alterungsprozesses der Bevölkerung sowie dem Verlust überdurchschnittlich qualifizierter und einkommensstarker Personen. Der Aderlass betraf vor allem jüngere Menschen und besser ausgebildete Bevölkerungsgruppen. Die Jungen, Mobilen und Innovativen zogen Richtung Westen. Ihre Tatkraft und Energie fehlen im Osten und mildern das Demographieproblem im Westen.

Unmittelbar nach der Vereinigung sind zahlreiche westdt. Führungskräfte in den Osten abgewandert und haben dort Schlüsselpositionen der Ministerien sowie Richterstellen, Professuren und hohe Verwaltungspositionen besetzt. Eine Elitestudie der Universität Potsdam stellte für 1995 fest, dass es in der Wirtschaft, in der Justiz und beim Militär keine Ostdeutschen in den ausgewiesenen 426 Spitzenpositionen gab. Bei weiteren 474 Spitzenpositionen in der Interner Link: Verwaltung waren es zwölf. Dagegen hatte bei den Medien, Wissenschaftsgremien, Gewerkschaften und im Kulturbetrieb immerhin jeder Zehnte eine ostdt. Biographie. Das bedeutet, dass die aus dem Westen gekommenen Personen diese Positionen in den nächsten Jahren weiterhin dominieren werden.

Politik

Auch in der Politik haben sich ostdt. Politiker in den beiden ersten Jahrzehnten in den Führungspositionen kaum durchsetzen können. Zwar wurde 1998 der Berliner SPD-Politiker Wolfgang Thierse Bundestagspräsident und 2005 wurde die Mecklenburgerin Angela Merkel erste Bundeskanzlerin sowie der Leipziger Oberbürgermeister Tiefensee Bundesverkehrsminister. Von 2012 bis 2017 war der ehemalige Rostocker Bürgerrechtler Joachim Gauck Bundespräsident. Inzwischen gibt es fast nur gebürtige ostdt. Ministerpräsidenten (Schwesig – MV; Woidke – BB; Haseloff – ST; Kretschmer – SN). Aber innerhalb der gesamtdt. Parteien, außer der PDS, konnten Ostpolitiker kaum reüssieren, da sie eindeutig durch westliche Politiker dominiert wurden und werden. Die in der ersten Interner Link: Bundesregierung vertretenen Ost-Minister sind mit Ausnahme von Merkel nicht in den politischen Führungspositionen ihrer Parteien vertreten. Nicht zuletzt hat sich in D ein unterschiedliches Interner Link: Parteiensystem herauskristallisiert. Während im Westen mit Interner Link: CDU/Interner Link: CSU, Interner Link: SPD, Interner Link: FDP und Interner Link: Bündnis 90/Die Grünen das seit Beginn der 80er-Jahre etablierte Parteiensystem fortexistiert, wird in den Ostländern die Politik hauptsächlich von CDU, SPD und PDS – seit 2007 Die Linke – bestimmt. FDP und Bündnis90/Die Grünen spielen hier kaum eine Rolle. Mit der Gründung der Partei Die LinkeDie Linke – einer Verbindung der ostdt. PDS mit der westdt. Wahllalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit (WASG) – im Sommer 2007 gibt es zwar eine gesamtdt. Linkspartei, die sich strukturell aber darin unterscheidet, dass sie in den neuen Ländern Volkspartei ist, während sie in den alten Ländern über den Status einer Splitterpartei nicht hinauskommt. Seit 2013 hat sich mit der Alternative für Deutschland (AfD) eine Anti-Immigrationspartei entwickelt, die in den neuen Ländern inzwischen Volksparteicharakter aufweist, in den westlichen Ländern aber weniger Unterstützung findet.

In den Ostländern ist die elektorale Volatilität sowohl in der Abfolge der Bundestags- als auch zwischen Bundestags- und Landtagswahlen unverändert weit höher als im Westen, was sich in den Schwankungen der insgesamt niedrigeren Interner Link: Wahlbeteiligung wie der Gewinne und Verluste von CDU und SPD niederschlägt. Zudem sind die Stimmenanteile der beiden Volksparteien deutlich geringer; sie blieben im Osten 2002 mit zusammen 68,1 % um über 10 %-Punkte, 2005 bei zusammen nurmehr 55,7 % um 17,9 %-Punkte hinter dem Ergebnis im Westen zurück. Die PDS war bei der Bundestagswahl 2005 mit 25,3 % ebenso erfolgreich wie die CDU. Mit dem Aufkommen der AfD als Reaktion auf die Flüchtlingspolitik der Regierung Merkel seit 2015 hat die AfD bei Landtagswahlen in Ostdeutschland z. T. über 20 % der Wählerstimmen erhalten. Die Gegensätze im Wahlverhalten zwischen Ost und West sind einerseits politisch-konjunkturell verursacht; sie liegen aber andererseits in den fortdauernden Unterschieden in den Sozialstrukturen.

Zukünftige Entwicklung

In der BRD gab es einen tradierten Gegensatz zwischen Nord und Süd, dem sich nun noch der Gegensatz Ost und West hinzugesellt hat. Wenngleich auch die Ostdeutschen primär als Individuen zu sehen sind, so haben 40 Jahre DDR natürlich einen großen Teil der Bevölkerung politisch sozialisiert. So erklären sich auch heute noch Unterschiede in der Interner Link: politischen Kultur zwischen westlichen und östlichen Ländern. Z. B befürwortet jeder zweite Ostdeutsche eine stärkere Kontrolle der Wirtschaft durch die Politik, was neben der politischen Sozialisation in der DDR auch durch die Erfahrungen der Transformationszeit beeinflusst sein dürfte. Auch bei der Einschätzung der Bedeutung der Freiheit differieren die Werte zwischen Westdeutschen und Ostdeutschen deutlich. Gerechtigkeit und soziale Absicherung erfreuen sich in Ostdeutschland deutlich höherer Werte als in Westdeutschland. Nicht zuletzt im Wahlverhalten unterscheiden sich Ostdeutsche von Westdeutschen. Im Osten sind Parteibindungen des Wählers nicht so ausgeprägt, so dass es bei Landtagswahlen durchaus zu Verlusten und Gewinnen von einzelnen Parteien im zweistelligen Prozentpunktebereich kommen kann. Für die nachwachsende Generation, die an die DDR nur noch frühe oder inzwischen keine Kindheitserinnerungen mehr hat, spielt die DDR-Sozialisation keine Rolle mehr. Allerdings dürfte es noch einige Jahrzehnte dauern, bis der mentale Gegensatz zwischen Ost und West sich auf einen normalen landsmannschaftlichen Gegensatz reduziert.

Quelle: Andersen, Uwe/Wichard Woyke (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. 8., aktual. Aufl. Heidelberg: Springer VS 2021. Autor des Artikels: Wichard Woyke

Fussnoten