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Parlamentarische Verfahren/Geschäftsordnung | bpb.de

Parlamentarische Verfahren/Geschäftsordnung

Stefan Marschall

Begriff und Relevanz

Als parlamentarische Verfahren lassen sich alle geregelten Prozeduren bezeichnen, innerhalb derer die Willensbildung und Entscheidungsfindung in Parlamenten ablaufen und die das Handeln der parlamentarischen Akteure strukturieren und reglementieren. Parlamentarische Verfahren können formaler oder informaler Natur sein: Formale Verfahren sind rechtlich fixiert, während informale Verfahren nicht kodifiziert (d. h. nicht in einem schriftlichem Regelwerk niedergelegt) sind, aber deswegen nicht illegitim und allemal nicht illegal sein müssen.

Typischerweise sind Parlamente hochregulierte Organisationen, innerhalb derer Vorgänge weitestgehend nicht dem Zufall oder der Willkür parlamentsinterner oder -externer Akteure überlassen werden. Die hohe Regelungsdichte in parlamentarischen Körperschaften ist insbesondere darin begründet, dass Parlamente mit machtvollen staatlichen Aufgaben betraut und mit weitreichenden Entscheidungskompetenzen versehen sind (Marschall 2018): (1) Parlamente fungieren üblicherweise als „Gesetzgeber“, die maßgeblich die Rechtsordnung mitgestalten können (Legislativfunktion). (2) In parlamentarischen Regierungssystemen wie dem der Bundesrepublik stützt die parlamentarische Mehrheit die Regierung und kann diese ggf. abwählen (Wahl-/Abwahlfunktion). (3) Parlamente haben im Sinne der demokratischen Gewalten(ver)teilung die Aufgabe und Möglichkeit, die Regierung zu kontrollieren und ggf. zu sanktionieren (Kontrollfunktion). (4) Parlamenten kommen wichtige repräsentative und kommunikative Aufgaben als Vermittlungsinstanz zwischen der Gesellschaft und dem staatlichen Entscheidungsbereich zu (Kommunikationsfunktion).

Parlamentarische Verfahren setzen den prozeduralen Rahmen, innerhalb dessen das Parlament diese seine Aufgaben erfüllt. Sie definieren die Spielräume für die parlamentsinternen Akteure und können diese dabei gezielt ausweiten oder einengen. Insofern sind parlamentarische Verfahrensfragen immer auch Macht- und Demokratiefragen: Die prozeduralen Regelungen entscheiden darüber, wer zu welchem Zeitpunkt wie auf welchen parlamentarischen Vorgang Einfluss nehmen kann. Normativ sorgen sie für die Einhaltung zentraler parlamentarischer und demokratischer Prinzipien wie die Herstellung von Transparenz, den Schutz parlamentarischer Minderheiten oder die Durchsetzung des Mehrheitsprinzips.

Im politischen System Deutschlands ist der Bundestag das zentrale Organ gesellschaftlicher Vertretung und demokratischer Entscheidungsfindung auf Bundesebene. Auf der Landes- und der Kommunalebene finden sich ebenfalls parlamentarische Körperschaften mit vergleichbaren Strukturen und Grundfunktionen für die jeweilige politische Ebene. Die Frage, wie alle diese Parlamente ihre Verfahren ausgestalten, hat substanzielle Auswirkungen auf die Demokratie und horizontale wie auch vertikale politische Machtverteilung in Deutschland.

Parlamentsrecht und parlamentarische Verfahren

Die parlamentarischen Verfahren werden im und durch das „Parlamentsrecht“ fixiert (Morlok et al. 2016). Hierbei handelt es sich um verschiedene Normentypen mit jeweils unterschiedlicher Reichweite, Verbindlichkeit und Veränderbarkeit.

Zunächst macht das Verfassungsrecht, kodifiziert im Grundgesetz, Vorgaben für parlamentarische Verfahren. So werden in den Verfassungsartikeln zum Deutschen Bundestag bestimmte prozedurale Prinzipien angesprochen, beispielsweise dass der Bundestag öffentlich zu verhandeln habe oder Entscheidungen mit Mehrheit getroffen werden sollen. Auch erwähnt das Grundgesetz ausdrücklich die Existenz und Aufgaben bestimmter Ausschüsse, z. B. des Ausschusses für Verteidigung. Soll das Parlamentsrecht auf dieser Ebene verändert werden, dann sind die Hürden hierfür hochgelegt. Es bedarf jeweils einer Zwei-Drittel-Mehrheit in Bundestag und Bundesrat, um die in der Verfassung festgelegten Verfahren zu ändern – falls diese nicht ohnehin durch das unantastbare Demokratiegebot des Grundgesetzes geschützt und damit nicht veränderbar sind (s. Art. 79 Abs. 3 GG).

Weiterhin regeln einfache Gesetze Vorgänge im Parlament – zumeist mit einem spezifischen sachlichen Fokus. Zum Beispiel werden die Verfahren parlamentarischer Untersuchungsausschüsse im Bundestag durch ein Untersuchungsausschussgesetz geregelt, das 2001 verabschiedet worden ist. Auch das Abgeordnetengesetz beinhaltet eine Reihe von Regelungen zu parlamentarischen Verfahrensfragen, weiterhin das Wehrbeauftragten- und das Parteiengesetz. Wird Parlamentsrecht über die Gesetzgebung geschaffen, sind ggf. neben dem Bundestag noch die Bundesregierung und der Bundesrat eingebunden.

Eine besonders wichtige Form der Fixierung parlamentarischer Verfahren findet in Form des Geschäftsordnungsrechts statt (Winkelmann et al. 2019). Die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages mit ihren rund 130 Paragraphen, sieben Anlagen und zwei Anhängen regelt die Arbeit des Parlaments in dezidierter und umfänglicher Form und stellt damit eine wichtige, wenn nicht sogar die wichtigste rechtliche Grundlage parlamentarischer Alltagsarbeit dar (s. u.). Die Geschäftsordnung wird autonom vom Deutschen Bundestag beschlossen.

Schließlich gehört zum Parlamentsrecht noch der gesamte Bereich der nicht-schriftlich fixierten Regelungen, zum Beispiel der tradierten Gebräuche. Eine Reihe von Verfahrensregeln basieren auf dem, was „Recht durch Übung“ oder „Gewohnheitsrecht“ genannt werden kann, welches durch eine immer wieder praktizierte und als verbindlich akzeptierte Routine entsteht. Da nicht kodifiziert, kann dieses Recht flexibel geändert oder auch außer Kraft gesetzt werden.

Das Parlamentsrecht liegt somit weitestgehend in den Händen des Bundestages – als Ausdruck der Organisationsautonomie und des Selbstorganisationsrechts des Parlaments. Dieses Prinzip der organisatorischen Selbstständigkeit von Parlamenten wurzelt in den frühparlamentarischen Zeiten und zielt auf den Schutz parlamentarischer Körperschaften vor der Intervention insbesondere seitens der Exekutive ab.

Allerdings gestaltet der Bundestag seine Verfahren nicht gänzlich ohne den Einfluss Dritter – in bestimmten Bereichen treten weitere Akteure wie der Bundesrat hinzu. Darüber hinaus kommt dem Bundesverfassungsgericht eine besondere Rolle zu. Das höchste Gericht hat in seiner Rechtsprechung mit Verweis auf das Grundgesetz immer wieder auch Vorgaben für die rechtliche Ausgestaltung parlamentarischer Kompetenzen und Verfahren gesetzt – in der Regel im Sinne einer Stärkung des Parlaments im politischen System der Bundesrepublik Deutschland.

Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages

Im Artikel 40 des Grundgesetzes heißt es nahezu beiläufig im ersten Absatz, zweiter Satz, dass sich der Bundestag eine Geschäftsordnung gibt. Hiermit regelt die Verfassung zweierlei: zum einen die Pflicht des Bundestages, seine Verfahren in Form einer Geschäftsordnung zu regulieren, zum zweiten die Geschäftsordnungsautonomie, d. h. dass sich das Parlament seine Geschäftsordnung selbst geben kann, ohne dass eine weitere Instanz dabei eingebunden werden darf oder muss.

Auch andere staatliche Organisationen kennen Geschäftsordnungen und selbst nicht-staatliche Organisationen regeln mithilfe solcher Regeltexte ihre inneren Angelegenheiten. Für den Bundestag ist die Geschäftsordnung die maßgebliche Grundlage für die Strukturierung seiner Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse.

Wenngleich die Geschäftsordnung nach „innen“ wirkt, heißt dies nicht, dass sie nicht auch Auswirkungen auf andere, parlamentsexterne Akteure ausübt. Tatsächlich bestimmt die Geschäftsordnung zugleich, ob und inwieweit andere Institutionen, z. B. die Bundesregierung, in parlamentarische Vorgänge eingebunden werden können und müssen.

Nicht nur das Parlament als Verfassungsorgan generell ist „geschäftsordnungsautonom“, sondern jeder einzelne gewählte Bundestag. Das heißt, dass sich jeder Bundestag nach der Wahl bei seiner Konstituierung eine „eigene“ Geschäftsordnung gibt. Die Geschäftsordnung des vorherigen Parlaments gilt somit nicht automatisch für das folgende Parlament. Dennoch ist es übliche Praxis, dass jeder Bundestag in seiner konstituierenden Sitzung die Geschäftsordnung des vorherigen Bundestages erst einmal übernimmt, um eine unmittelbare Grundlage für die anstehende parlamentarische Arbeit zu haben. So erklärt sich eine Pfadabhängigkeit parlamentarischer Verfahren und zudem die Praxis – trotz der rechtlichen Diskontinuität – bis zum Ende der Wahlperiode noch Änderungen an der Geschäftsordnung vorzunehmen. Der erste Deutsche Bundestag hatte eine solche Vorlage nicht unmittelbar, sondern orientierte sich ersatzweise in weiten Teilen an der Geschäftsordnung des Reichstages der Weimarer Republik.

Auch nachdem die Geschäftsordnung zu Beginn der Wahlperiode erst einmal in Kraft gesetzt wurde, unterliegt sie weiterhin dem Willen der parlamentarischen Mehrheit. Zum einen können Teile von ihr in der laufenden parlamentarischen Arbeit durch Entscheidungen des Bundestages jederzeit außer Kraft gesetzt werden. Zum anderen kann sie durch einen Beschluss des Bundestages jederzeit geändert werden. Hierzu reicht grundsätzlich eine parlamentarische Beschlussmehrheit, wobei es sich durchgesetzt hat, dass Änderungen der Geschäftsordnung bestenfalls nur auf der Grundlage eines weitestreichenden Konsenses zwischen den Fraktionen vorgenommen werden.

Bei der Überarbeitung der Geschäftsordnung sowie bei dessen Auslegung kommt der Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ins Spiel. Dieser ist – wie die anderen ständigen Ausschüsse auch – proportional aus den Fraktionen des Deutschen Bundestages zusammengesetzt. Neben dem Geschäftsordnungsausschuss spielen Präsidium und Ältestenrat des Bundestages eine maßgebliche Rolle bei der Auslegung der Geschäftsordnung.

Verfahrensreformen im Deutschen Bundestag

Das Parlamentsrecht und die parlamentarischen Verfahren sind seit der Gründung der Bundesrepublik oft verändert worden – auch im Rahmen der Weiterentwicklung der Verfassung. So ist beispielsweise 1975 der Petitionsausschuss in das Grundgesetz aufgenommen worden. Ebenso wurden die Regelungen zum Wehrbeauftragten erst in Folge der Einrichtung der Bundeswehr in den 1950ern ergänzt. Hierbei handelt es sich um vereinzelte, wenngleich tiefgreifende und robuste Veränderungen des deutschen Parlamentsrechts.

Das Parlamentsrecht in seiner Gesetzes- und Geschäftsordnungsform wie auch in seiner ungeschriebenen Form ist wiederum sehr häufig geändert worden. Insgesamt zeichnet sich eine Reformgeschichte ab, die weniger von großen Sprüngen, sondern vielmehr von inkrementeller Reformtätigkeit geprägt worden ist – nicht zuletzt im Vergleich mit anderen nationalen Parlamenten (Sieberer et al. 2011).

Parlamentarische Verfahrensreformen lassen sich entlang von drei Zielkategorien sortieren (Thaysen 1972): Effizienz, Transparenz und Partizipation. Mit Blick auf die Effizienz lässt sich im Laufe der Reformgeschichte eine Stärkung der innerparlamentarischen Stellung der Fraktionen gegenüber den einzelnen Abgeordneten beobachten: Eine Reihe von ursprünglich Verfahrensrechten individueller Parlamentarier ist zu Rechten von Fraktionen oder fraktionsstarker Zusammenschlüsse von Abgeordneten geworden. Auch Reformen zur Verschlankung von Verfahren im Parlament zielen auf die Effizienz des Bundestages – angesichts einer zunehmenden Arbeitsbelastung insbesondere im Bereich der Gesetzgebung. In Sachen Transparenz sind zahlreiche Bemühungen gestartet worden, parlamentarische Vorgänge vermittelbarer und zugänglicher zu machen, beispielsweise indem man Plenardebatten oder der Regierungsbefragung mehr Attraktivität verleiht. Dabei wird der Bundestag mit den Strukturen einer medialen und online-basierten Öffentlichkeit konfrontiert, die parlamentarische Kommunikation mitunter an die Seite gedrängt hat. Eine Steigerung der Partizipation des Bundestages ist eine besondere Herausforderung angesichts der Europäisierung der deutschen Politik. Hier mussten Verfahren gefunden werden, die eine angemessene Beteiligung des Bundestages an den Angelegenheiten der Europäischen Union gewährleisten, zum Beispiel über die Einrichtung eines Europaausschusses.

Veränderungen der parlamentarischen Verfahren können in einem Zielkonflikt stehen. Mehr Effizienz bedeutet nicht selten weniger Partizipation und weniger Transparenz. Bei einer etwaigen Güterabwägung, insbesondere im Falle einer Bedrohung von Minderheitsrechten, hat das Bundesverfassungsgericht mehrfach eine intervenierende Rolle gespielt.

Perspektiven

Die Reform parlamentarischer Verfahren bleibt eine Daueraufgabe, da sich die gesellschaftlichen, europäischen und internationalen Rahmenbedingungen parlamentarischer Arbeit fortwährend verändern. Innergesellschaftlich ist das Parlament mit zunehmenden Repräsentationsproblemen konfrontiert; eine heterogener werdende Gesellschaft muss im und durch das Parlament gespiegelt und zusammengebracht werden. Von außen konfrontieren Prozesse der Europäisierung und Globalisierung die deutsche Politik und den Bundestag mit einer Verengung von Handlungs- und Verhandlungsspielräumen. Eine Antwort auf die Verflechtung von Politik könnte die stärkere Verflechtung der Parlamente über die unterschiedlichen Ebenen hinweg sein. Die Debatten über eine Entparlamentarisierung der Politik in Deutschland und generell über den Beginn eines post-parlamentarischen Zeitalters machen jedenfalls deutlich, dass der Bundestag eine – auch von anderen Parlamenten – lernende Institution bleiben muss und die Reform parlamentarischer Verfahren weiterhin gezielt zur eigenen Stärkung einsetzen sollte.

Quelle: Andersen, Uwe/Wichard Woyke (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. 8., aktual. Aufl. Heidelberg: Springer VS 2021. Autor des Artikels: Stefan Marschall

Fussnoten