Der Durchbruch des motorisierten Straßenverkehrs
War für die meisten Menschen bis zum Zweiten Weltkrieg die Eisenbahn das Transportmittel der Wahl, so besaßen ab den 1950er Jahren immer mehr Personen ein Auto: der Durchbruch des motorisierten Straßenverkehrs in Deutschland.Die Verkehrsinfrastruktur war nach dem Krieg durch gesprengte Brücken und zerstörte Gleisanlagen zunächst nur sehr eingeschränkt nutzbar. Die arbeitsintensive Rekonstruktion des Schienennetzes sowie der Lokomotiven und Waggons in den Jahren von 1945 bis 1948 schuf die Voraussetzung dafür, dass die Bahn nach der Währungsreform dem Transportbedarf der Wirtschaft und der Transportnachfrage der Bevölkerung gerecht werden konnte. Gegenüber dem Lkw-Verkehr geriet die neugegründete Deutsche Bundesbahn (DB) jedoch in einen Wettbewerbsnachteil. Zum anderen musste die DB die Kosten für die Beseitigung der Kriegsschäden selbst tragen, während das Straßennetz auf Staatskosten instandgesetzt wurde. Zum anderen endeten mit dem Deutschen Reich auch die Institutionen zur Regulierung des Wettbewerbs zwischen Straße und Schiene. Erst ab 1952 konnte die Bundesregierung die Einhaltung der Tarifparität wieder überwachen. Darüber hinaus musste die DB erhebliche Mehraufwendungen für die Wiedereinstellung von 45 000 Flüchtlingen und Entnazifizierten tragen, die nach betriebswirtschaftlichen Kriterien überzählig waren.[1] Dies hatte zur Folge, dass die DB lediglich 1951 auf dem Höhepunkt des Nachkriegsbooms einen Gewinn ausweisen konnte und ab 1952 zunehmend höhere Defizite ausweisen musste. Wegen der zunehmenden Konkurrenz des Lkw beim Transport von Kaufmannsgütern verlor die DB die Möglichkeit, den defizitären Personennahverkehr mit den Gewinnen des Güterverkehrs zu subventionieren.
Der Lkw-Verkehr wuchs unter anderem wegen der großzügigen steuerlichen Abschreibungen für Investitionsgüter, die Industrie und Handel einen finanziellen Anreiz boten, Transporte in eigener Regie durchzuführen. Während die Zahl der Pkw im Bundesgebiet erst 1952 den Stand von 1939 überschritt, gab es bereits Ende 1948 mehr Lkw als vor dem Krieg. Obwohl der Bundestag 1955 eine hohe Abgabe für Gütertransporte im Werkfernverkehr beschloss, ließ sich die wachsende Konkurrenz des Lkw nicht einhegen. Die Transportleistungen des Werkverkehrs gingen nur kurzzeitig und lediglich bei Massengütern zurück, während sich der Siegeszug des Lkw bei Kaufmannsgütern fortsetzte. (siehe Abb 2, Tab 4)
Während sich der Strukturwandel des Verkehrs durch die Motorisierung des Güter und Personenverkehrs bis 1939 erst in Ansätzen gezeigt hatte, hatte sich die Transportleistung des Lkw-Güterverkehrs bis 1955 (25 Milliarden Tonnenkilometer) gegenüber 1938 (6,7 Milliarden Tonnenkilometer) fast vervierfacht.[2] Die Bundesdeutschen wurden durch das unerwartet schnelle Wachstum des Straßenverkehrs im wahrsten Sinne des Wortes überrollt. Mit 12 800 Toten im Straßenverkehr (1955) hatte sich die Zahl der Unfallopfer im Verkehr gegenüber der Vorkriegszeit mehr als verdoppelt. Der Preis des automobilen Fortschritts war im öffentlichen Bewusstsein so hoch gestiegen, dass die Bundesregierung 1957 innerhalb geschlossener Ortschaften die erste allgemeingültige Geschwindigkeitsbegrenzung auf 50 km/h einführen musste. (siehe Tab 4)

Die 1950er Jahre waren das Jahrzehnt der beginnenden Massenmotorisierung. Bis 1960 hatte die bundesdeutsche Gesellschaft den Motorisierungsrückstand gegenüber Großbritannien und Frankreich aufgeholt. Das Jahr 1960 markierte auch in anderer Hinsicht einen Wendepunkt in der Verbreitung des Autos: Zum ersten Mal machten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mehr als 50 Prozent der Pkw-Halter aus.[3] Für den steilen Anstieg des Pkw-Bestandes von 0,4 auf 4,5 Millionen während der 1950er Jahre waren neben den stetig steigenden Realeinkommen die stabilen und zeitweise sogar sinkenden Preise für neue und gebrauchte Autos verantwortlich. Die deutsche Autoindustrie holte die Entwicklung zur fordistischen Massenproduktion in den 1950er Jahren nach. Der weitaus größte deutsche Hersteller Volkswagen konnte seine Stückkosten auch dank der Absatzerfolge auf den ausländischen Märkten senken, auf denen er 50 Prozent seiner gesamten Produktion verkaufte.[4] Dagegen war der Beitrag der Verkehrspolitik zur Förderung des Pkw eher gering. 1955 senkte die Bundesregierung die hohe Kraftfahrzeugsteuer um 20 Prozent, erhöhte aber im Gegenzug die Mineralölsteuer. Da der Ausbau des Autobahnnetzes in den 1950er Jahren zunächst nur langsam anlief, profitierte die Bundesrepublik im starken Maße von den Investitionen des NS-Regimes. (siehe Abb 3, Tab 4)

Während die wirtschaftliche Hochkonjunktur bis Anfang der 1970er Jahre für ein hohes Wachstum der eisenbahnaffinen Grundstoffindustrie sorgte, führten das Ende des steilen Wachstumspfades nach der Ersten Ölpreiskrise (1973 /74) und die Strukturkrise der Eisen- und Stahlindustrie zu einem deutlichen Rückgang des Güterverkehrs auf der Schiene. Auch das zuvor sehr stetige Wachstum des PkwBesitzes verlangsamte sich in den Jahren von 1973 bis 1975 erheblich, was die deutsche Autoindustrie vor erhebliche Anpassungsprobleme stellte. Während die Zweite Ölpreiskrise 1979 und die weltweite konjunkturelle Rezession Anfang der 1980er Jahre für einen vergleichbaren Rückgang des Gütertransports auf der Schiene verantwortlich waren, verlangsamte sich das Wachstum des Straßenverkehrs trotz gestiegener Benzinpreise nicht.
Der Prozess des Strukturwandels im Verkehr war schon vor der Wiedervereinigung im Jahr 1990 weitgehend abgeschlossen. Von den 1960er bis in die 1980er Jahre hatte der Güterverkehr auf der Straße die Bahn als das wichtigste Landverkehrsmittel abgelöst. Obwohl die Bahn ihre Verkehrsleistungen – gemessen in Personenkilometern – im Personenverkehr dank schnellerer und häufigerer Zugverbindungen noch steigern konnte, war sie in ihrer quantitativen Bedeutung hinter dem Pkw weit zurückgefallen. Hierzu trug auch die Stilllegung des Personenverkehrs auf schlecht ausgelasteten Nebenstrecken bei. Da die Statistik nur die Strecken erfasst, die auch für den Güterverkehr stillgelegt wurden, spiegeln die Zahlen den vollen Umfang des "Rückzugs aus der Fläche" nicht in seiner ganzen Dimension wider. (siehe Tab 1)
Durch die Bundesbahnreform von 1993 wurde die DB von ihrer drückenden Altschuldenlast befreit und erhielt ausreichende öffentliche Leistungsvergütungen für den Personennahverkehr. Die Öffnung des Schienenverkehrsmarktes für Konkurrenten im Güterverkehr und die Ausschreibung von Nahverkehrsleistungen trugen zu qualitativen Leistungsverbesserungen bei und schufen Anreize, technische und organisatorische Produktivitätsreserven zu erschließen.
Die Vollendung des offenen und freien europäischen Binnenmarktes bis 1992 sollte den Trend zum Lkw weiter verstärken. Mit dem europäischen Binnenmarkt entfielen neben der quantitativen Beschränkung von Fernverkehrslizenzen auch die Zugangsbarrieren für ausländische Transportunternehmer im grenzüberschreitenden Verkehr und im deutschen Inlandsmarkt. Eine wichtige Rolle spielte auch die logistische Revolution, die durch zeitnahe Güteranlieferung (just in time) die Nachfrage nach Verkehrsleistungen zusätzlich verstärkte.

