Sinkende Partizipationsbereitschaft bei den Passageriten
Wesentlich aussagekräftiger als die formalen Mitgliedszahlen sind Erhebungen über religiöse Praktikten, etwa die Zahl der Gottesdienstbesucher oder der kirchlichen Trauungen.Da die formale Zugehörigkeit noch recht wenig über die Religionsausübung und die individuelle Verbundenheit aussagt, soll im Folgenden der Blick auf religiöse Praktiken gerichtet sein, wie sie im Deutschen Reich, in der Bundesrepublik und später dann im wiedervereinigten Deutschland zu beobachten sind. Das Ausmaß, mit dem Mitglieder der christlichen Kirchen an den religiösen Aktivitäten und Riten teilnahmen, gibt einen Eindruck von dem Engagement und der Partizipationsbereitschaft der Gläubigen bzw. der Gesellschaft: die Taufe der eigenen Kinder; die Teilnahme an Kommunion oder Konfirmation als Voraussetzung für den Empfang der Eucharistie bzw. des Abendmahls; die nicht nur staatliche, sondern auch kirchliche Eheschließung wie auch letztlich das kirchliche Begräbnis – all diese Sakramente und/oder kirchlichen Rituale sind einerseits traditionell verankert wie auch den Gläubigen von ihren Kirchen vorgeschrieben, andererseits bilden sie weit in die Gesellschaft hineinreichende Übergangsriten, die – durchaus unabhängig von der religiösen Bedeutung – kulturell mit Prestige aufgeladen sind. In der Gesamtschau erlauben sie uns Aussagen darüber, wie "dicht" der christliche Glaube und seine Anforderungen in die Lebenswelt und Praxis des Einzelnen eingebunden waren. (siehe Abb 3)

Ein Blick auf die Veränderungen in der kirchlich geprägten Glaubenspraxis, wie sie sich in den Statistiken zeigen, lässt das Ende der 1960er Jahre als Zeitraum massiver Veränderungen und daher unübersehbar als Zäsur erscheinen. Hugh McLeod hat diesen Einschnitt als eine gesamteuropäische "religious crisis" bezeichnet, die in ihrer Bedeutung für die Kirchengeschichte allenfalls zu vergleichen sei mit der Reformation und der Kirchenspaltung des 16. Jahrhunderts.[1] Die vorliegenden Daten zur Entwicklung des religiösen Feldes in Deutschland stützen diese Analysen. Auch die Zahlen zum Heiratsverhalten lassen sich als Beleg für diesen Trend heranziehen. (siehe Abb 4)

Ein wenig anders stellt sich die Lage bei kirchlichen Bestattungen dar. Hier bilden nicht die 1960er Jahre die sonst charakteristische Zäsur; ein nachlassendes Interesse ist erst mit einigem zeitlichen Abstand seit den 1990er Jahren erkennbar. Wurden bis dahin etwa 90 Prozent der in einem Jahr Verstorbenen auch kirchlich bestattet, so sank dieser Anteil auf unter 70 Prozent im Jahr 2002. Auch wenn hier Effekte der deutschen Vereinigung eine Rolle spielen, nimmt die Bindung an kirchliche Institutionen auch hier ab. Gleichwohl scheint für viele Kirchenmitglieder trotz einer geringen eigenen Verbundenheit die kirchliche Beerdigung bis heute ein wichtiges Moment zu sein, nicht auszutreten.
Seit den 1960er Jahren, so lässt sich resümieren, lösen sich viele soziale Praktiken der Kirchen auf, die sich in Auseinandersetzung mit der Moderne seit Beginn des 19. Jahrhunderts entwickelt hatten. Die Auslöser, Gründe und Begleitumstände dafür sind vielfältig und reichen von innerkirchlichen Entwicklungen (Zweites Vatikanisches Konzil, Neuaufbrüche in Seelsorge und Theologie) bis hin zu gesamtgesellschaftlichen Liberalisierungs- und Aufbruchsbewegungen, die unter anderem mit der Chiffre "1968" bezeichnet sind.