BIP: Wirtschaftswachstum, Konjunktur, Krise
In modernen Gesellschaften ist ein mehr oder weniger konstantes Wirtschaftswachstum essentiell. Gemessen wird dieses über die Veränderungsrate des Bruttoinlandsprodukts (BIP).Wirtschaftswachstum, also die langfristige Zunahme der gesamtwirtschaftlichen Produktion, sowohl absolut als auch pro Kopf der Bevölkerung, ist ein Schlüsselphänomen moderner Gesellschaften, die ohne ein solches Wirtschaftswachstum nicht denkbar sind. Der zentrale Indikator für dieses Wachstum ist heute das um Preisveränderungen bereinigte (reale) BIP [1], das in seinem Niveau die Höhe des Bruttoinlandsprodukts und in seinen Wachstumsraten das Ausmaß der relativen Veränderung dieses Produkts von einer Periode zur nächsten zeigt. Dividiert man den BIP-Wert durch die Bevölkerungszahl, erhält man das BIP pro Einwohner, das man sowohl als Produktivitäts- wie auch als Wohlstandsmaß verwenden kann. Als Produktivitätsmaß gibt es an, wie viel jeder Einwohner in Deutschland durchschnittlich produziert. Verwendet man das BIP pro Einwohner als Wohlstandsmaß, dann geht man davon aus, dass die gesamtwirtschaftliche Produktion (zumindest der größte Teil davon) den Einwohnern als Einkommen zufließt.
Die langfristige Zunahme der gesamtwirtschaftlichen Produktion vollzieht sich allerdings nicht stetig und gleichmäßig (was eine konstante Wachstumsrate des BIP bedeuten würde), sie ist vielmehr in einen mehr oder weniger stark ausgeprägten rhythmischen Wechsel von Aufschwung und Abschwung, von Prosperität und Depression eingebettet, den man auch als Konjunktur bezeichnet. Eng verbunden mit dem Begriff Konjunktur ist die Vorstellung der Regelmäßigkeit. Die sich nach einem bestimmten Muster wiederholenden Veränderungen der Gesamtlagen der Volkswirtschaft bezeichnet man deshalb auch als Konjunkturzyklen. Die Forschung hat im Laufe der Zeit Zyklen unterschiedlicher Länge ausgemacht und dafür auch unterschiedliche Erklärungen gegeben.[2] Lange Zeit galten Wachstum und Konjunktur neben dem Strukturwandel als die vorherrschenden Entwicklungsmuster moderner Volkswirtschaften. Krisen und Depressionen wurden als Teil des Konjunkturzyklus und damit als normaler Bestandteil des Wachstumsprozesses aufgefasst. Die Finanz- und Weltwirtschaftskrise von 2007 / 2008 hat hier ein radikales Umdenken ausgelöst. Bei vielen gilt der moderne globale Kapitalismus seither (wieder) als extrem labil und krisengefährdet. Danach stellt die Wirtschaftskrise eine eigenständige Entwicklungsform moderner Volkswirtschaften neben der Konjunktur dar und bedarf deshalb einer eigenen historischen und theoretischen Analyse. Wirtschaftswachstum, Konjunktur und Krise stehen daher im Mittelpunkt der Beschreibung der hier rekonstruierten und in Tabelle 1 dargestellten langen Reihen des BIP.[3] Die Tabelle zeigt das BIP in jeweiligen und konstanten Preisen sowohl absolut als auch pro Kopf der Bevölkerung (alle Angaben in Euro), die Indexwerte der BIP-Reihen sowie die jährlichen Wachstumsraten des BIP in konstanten Preisen von 1850 bis 2012. (siehe Tab 1)


In Abbildung 1 sind die Werte für das reale BIP (obere Grafik) und die Werte für das reale BIP pro Einwohner (untere Grafik) in halblogarithmischem Maßstab[4] zusammen mit einer Trendlinie eingezeichnet, die ein Wachstum mit konstanter Wachstumsrate repräsentiert. Betrachtet man Reihen- und Trendentwicklung, dann zeigen sich sehr deutlich die bekannten Epochen deutscher Wirtschaftsgeschichte. Die Entwicklung beginnt mit der Wachstumsphase des langen 19. Jahrhunderts, die mit dem Ersten Weltkrieg abbricht. Dabei wächst das BIP pro Einwohner jedoch langsamer als das BIP insgesamt, da auch die Bevölkerung Deutschlands stark zunimmt. Dies erkennt man beispielsweise daran, dass das BIP ab etwa 1890 die Trendlinie übersteigt, das BIP pro Einwohner dagegen nicht. In der Kriegs- und Zwischenkriegszeit mit ihrer extremen wirtschaftlichen und politischen Instabilität liegen die BIP-Werte meist weit unterhalb des langfristigen Trends. In der NS-Zeit findet jedoch ein starkes Wachstum statt, in dessen Folge das BIP pro Einwohner die Trendlinie im Jahr 1943 erreicht und das gesamte BIP diese ab dem Jahr 1940 sogar übersteigt. In der unmittelbaren Nachkriegszeit mit dem "Wirtschaftswunder" und dem damit verbundenen Durchbruch zur Konsumgesellschaft nähert sich das BIP dem Trend von "unten" und schwenkt, wenn man es so ausdrücken will, wieder auf den historischen Wachstumspfad ein. Dies kann als Rückkehr zur "Normalität" interpretiert werden, wobei sich auch hier Unterschiede zwischen dem Gesamt-BIP und dem BIP pro Einwohner zeigen. Während das Gesamt-BIP den langfristigen Wachstumspfad etwa 1970 wieder erreicht und diesem bis etwa 2001 folgt, geht das BIP pro Einwohner sogar über den Trend hinaus. Spätestens seit der Wiedervereinigung scheint es jedoch zu diesem zurückzukehren.
In dieses langfristige Wachstum sind kurzfristige Veränderungen des BIP eingebettet, die man, in Abhängigkeit von ihrer Intensität und Dauer, als Rezession, Krise oder auch als Konjunkturschwankungen bezeichnet. Diese kurzfristigen Veränderungen lassen sich mit Hilfe der Wachstumsraten, also den prozentualen Veränderungen der Werte aufeinanderfolgender Jahre, darstellen. (siehe Abb 2)
