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Islamismus im 19. und 20. Jahrhundert Salafiya-Bewegung

Dr. Franz Kogelmann Franz Kogelmann

/ 8 Minuten zu lesen

Die Salafiya-Bewegung gilt als ein Vorläufer der Muslimbruderschaft. Beide Bewegungen übten im 20. Jahrhundert großen Einfluss auf die Entwicklung unterschiedlichster islamistischer Ideologien aus. Darunter sind auch zahlreiche militante Gruppen.

Eine weibliche Unterstützerin der Muslimbruderschaft bei den Parlamentswahlen in Ägypten im November 2005. (© AP)

Anfang des Jahres 2003 wurden knapp drei Dutzend Touristen in der algerischen Sahara entführt. Offizielle Stellen beschuldigten die so genannte Groupe Salafiste pour la prédication et le combat (GSPC bzw. Salafistische Gruppe für Predigt und Kampf) diese Monate andauernde Entführung inszeniert zu haben. Im Mai des gleichen Jahres verübten Selbstmordattentäter Anschläge in Casablanca. Die marokkanischen Behörden machten für die Anschlagsserie eine Gruppe namens Salafiya Jihadiya (Für den Heiligen Krieg kämpfende Salafisten) verantwortlich. Nach der Machtübernahme der Hamas im Gazastreifen im Jahre 2007 spricht die militant islamistische Bewegung der Jihadiya Salafiya Drohungen gegen Andersgläubige aus. Nach einer islamistisch motivierten Anschlagsserie in Algerien im April 2007 tritt die Gruppe der Beschützer des salafistischen Aufrufs (Jihadiya SalafiyaHumat ad-Dacwa as-Salafiya) an die Öffentlichkeit, um sich von diesen Attentaten sowie von den Machenschaften von al-Qaida und GSPC in Algerien zu distanzieren. So wenig diese militant-islamistischen Gruppen in ihren Methoden und häufig auch in ihrer Weltsicht gemeinsam haben, alle tragen den Begriff Salafiya in ihren Namen.

Die islamische Reformbewegung Salafiya

Selbst wenn sich die Anhänger der in Saudi-Arabien staatstragenden religiösen Ideologie des Wahhabismus gelegentlich als Gefolgsleute der rechtschaffenden Altvorderen (as-Salafiyun) bezeichnen, populär wurde der Begriff Salafiya im ausgehenden 19. Jahrhundert als Bezeichnung für eine islamische Reformbewegung von weitreichender Wirkung. Gemeinhin wird Paris als Geburtsort für die Salafiya Bewegung angenommen. Djamal ad-Din al-Afghani (1837/8-1897), rastloser Agitator gegen den europäischen Kolonialismus und für die Sache des Panislamismus, sowie Muhammad Abduh (1849-1905), ägyptischer Intellektueller, Exilant und späterer oberster Mufti von Ägypten, gründeten in der französischen Hauptstadt 1884 als Sprachrohr ihrer Ideen zur Reform des Islam die Zeitschrift al-Urwa al-Wuthqa (Das feste Band). Sie war zwar recht kurzlebig, doch waren in ihr bereits die Eckpunkte der Ideologie der Salafiya-Bewegung skizziert.

Das zentrale Leitthema aller islamischen Reformbemühungen konzentriert sich seither auf die Frage, weshalb die Muslime im Vergleich zum Westen so schwach und rückständig sind. Durch ein Abweichen vom wahren Islam sei diese Misere hervorgerufen worden, so die Antwort. Erst eine Rückbesinnung auf die Zeit der rechtschaffenden Altvorderen (as-Salaf as-Salih) – daher der Name Salafiya – würde die Muslime auf den rechten Weg zurückführen und die muslimische Gemeinschaft würde somit wieder den ihr zustehenden Platz in der Weltgeschichte einnehmen. Wer jedoch in diese Gruppe der rechtschaffenden Altvorderen, abgesehen vom Propheten und seinen unmittelbaren Genossen, fällt, ist umstritten. Erstreckte sich für Muhammad Abduh dieser Personenkreis noch auf die großen islamischen Rechtsgelehrten und Gründer der unterschiedlichen Rechtsschulen im 3. oder 4. Jahrhundert nach islamischer Zeitrechnung, schränkte sein Schüler Raschid Rida (1865-1935) den Kreis der Altvorderen bereits deutlich ein.

Allerdings forderten weder Abduh noch Rida eine originalgetreue Neuauflage der frühislamischen Gemeinschaft in der Gegenwart, sondern die Altvorderen dienten vielmehr als Inspiration zur Lösung zeitgenössischer Probleme sowie zur Erzielung von Fortschritt und sozialer Erneuerung unter Wahrung einer spezifisch muslimischen Identität. Die grundlegenden Quellen des Islam, der Koran und die Überlieferungen des Propheten, die Sunna, sollen rational und im Lichte der zeitgenössischen Erfordernisse neu interpretiert werden. Als Modernisten war ihr Blick nicht rückwärtsgewandt, sondern in die Zukunft gerichtet. Ihre Ziele versuchten die Gründer der Salafiya-Bewegung durch eine Reform des Bildungswesens, meist gegen den Willen des religiösen Establishments und im Kontext des kolonialen Staates, zu erreichen. Untrennbar mit einer muslimischen Identität verbunden ist die Betonung des islamischen Rechts, der Scharia, das die oberste Richtschnur für islamisch korrektes Handeln für den einzelnen Muslim ist. Gleichzeitig werden bestimmte Praktiken des Sufismus, der mystisch inspirierten Spielart des Islam, als unislamische Neuerungen verworfen.

Zahlreiche persönliche Kontakte, aber vor allem die ab 1898 über vier Jahrzehnte erscheinende Zeitschrift al-Manar (Der Leuchtturm) verbreiteten die Ideen der Salafiya-Bewegung in der gesamten muslimischen Welt, die großen Einfluss auf die sich im Laufe der 1930er Jahre entstandenen, gegen die europäischen Kolonialmächte gerichteten nationalistischen Bewegungen hatten. Seit den 1970er Jahren gingen die ursprünglich modernistischen Ansätze der Salafiya Bewegung weitgehend verloren, zu sehr wird die Salafiya seither mit dem Wahhabismus der saudischen Herrscher identifiziert.

Neo-Salafiya: Die Gesellschaft der Muslimbrüder

Zu den wichtigsten durch die Ideologie der Salafiya Bewegung inspirierten islamistischen Bewegungen zählt die von Hasan al-Banna (1906-1949) Ende der 1920er Jahre in Ägypten gegründete Gesellschaft der Muslimbrüder (Jamiyat al-Ikhwan al-Muslimin). Aufgrund der ideologischen Weiterentwicklung wird sie auch als Beispiel der so genannten Neo-Salafiya bezeichnet. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs entwickelte sie sich zu einer streng hierarchisch organisierten primär urbanen Massenbewegung mit einer klar definierten Ideologie. Für die Muslimbrüder ist der Islam ein allumfassendes auf Koran und Sunna beruhendes System, das immer und überall anwendbar sei. Sie versteht sich als politische Organisation, die zahlreiche sozial-karitative und wirtschaftliche Aktivitäten entwickelte. Hier liegt auch ein gravierender Unterschied zu Abduh und Rida, deren Vorstellungen von gesellschaftlicher Veränderung durch eine von oben initiierte Reform des Bildungswesens geleitet waren. Al-Banna hingegen wandte sich durch seinen Aktionismus an die muslimischen Massen und reagierte unmittelbar auf deren materielle, soziale und religiöse Bedürfnisse. Grundlage für ein Wiedererstarken der Muslime sei die Errichtung eines islamischen Systems (nizam islami). Das islamische Recht soll im Lichte zeitgenössischer Erfordernisse neu interpretiert werden und als oberste Richtschnur für ethisch korrektes Handeln nicht nur dem einzelnen Muslim dienen, sondern auch dem Herrscher bzw. dem Staat. Europäische Fremdherrschaft ist somit in jedem Fall inakzeptabel und wird als Bedrohung der Scharia sowie der muslimischen Gemeinschaft betrachtet. Aber auch die Legitimität eines muslimischen Herrschers wird an der Umsetzung des islamischen Rechts gemessen.

Nach einer Phase der Expansion – in Palästina, Syrien, Jordanien und Sudan kam es in den 1940er Jahren zur Gründung von direkten Ablegern der Muslimbrüder –, folgte im Ägypten der 1950er und 1960er Jahre eine Phase staatlicher Verfolgung. Die Gesellschaft wurde verboten, ihre Organisation zerschlagen und ihre Anhänger verfolgt. Die Repressalien des ägyptischen Staates hatten mehrere Konsequenzen. Zahlreiche führende Muslimbrüder waren gezwungen ins Exil zu gehen, was zu einer Weiterverbreitung ihres Gedankengutes führte. Zudem setzte mit Sayyid Qutb (1906-1966) eine ideologische Radikalisierung ein.

Qutb popularisierte einen für nachfolgende islamistische Bewegungen grundlegenden Begriff. Seiner Meinung nach befindet sich die gesamte muslimische Welt im Zustand der Jahiliya, der vorislamischen Barbarei und Ignoranz. Zentral für diesen Zustand ist der Umstand, dass Herrschaft sowie Gesetzgebung der Willkür der Menschen unterliegen und nicht Gott. Selbst wenn der einzelne Muslim sein Leben nach den Vorschriften der Scharia ausrichtet, ist die Gesamtgesellschaft noch lange nicht islamisch. Es sei Pflicht für alle Muslime diese unislamischen Zustände zu beseitigen – auch unter Einsatz von Gewalt. Der Jihad ist für Qutb ein revolutionärer Befreiungskampf. Er ist Glaubenskrieg, Kampf für Gott, und Kampf für den Menschen, deren Errettung aus der Unterdrückung er bewirkt.

Erst nach der Machtübernahme von Anwar as-Sadat im Jahr 1970 hatten die Muslimbrüder in Ägypten wieder die Möglichkeit, in dem von den Machthabern gebilligten Rahmen öffentlich zu agieren. Obwohl sie der Gewalt und den von Qutb entwickelten radikalen Thesen abgeschworen haben und zu den moderaten Islamisten zählen, blieb ihnen ein rechtlich abgesicherter Status bislang aber verwehrt. Trotz dieser prekären Situation waren sie dazu in der Lage, auf die ägyptische Gesellschaft und Politik wieder einen großen Einfluss auszuüben und gelten heutzutage als stärkste Oppositionsgruppe im Lande. Ihre Bemühungen, die Islamisierung der Gesellschaft voranzutreiben, führte zwar zu einer Islamisierung des politischen Diskurses, aber auch zu einer Stärkung des vom Staat kontrollierten und von den Muslimbrüdern abgelehnten religiösen Establishments.

In Syrien beteiligten sich die Muslimbrüder seit den 1960ern aktiv am gewaltsamen Widerstand gegen das herrschende Regime. Ab 1980 stellte das Regime in Damaskus die Mitgliedschaft in der Gesellschaft der Muslimbrüder unter Todesstrafe. Mit dem äußerst brutalen Niederschlagen des Aufstandes der Muslimbrüder in der Stadt Hama war der politische Einfluss der Muslimbrüder in Syrien schließlich weitgehend beendet. In Jordanien wiederum sind Muslimbrüder im Parlament vertreten und immer wieder an der Regierung beteiligt. Mit Unterstützung der von Hasan at-Turabi geführten Muslimbrüder putschte sich 1989 General Umar al-Baschir im Sudan an die Macht. Erstmals hatte sich eine sunnitisch-islamistische Bewegung eines Staates bemächtigt und begann, ihn ihren Vorstellungen entsprechend umzugestalten. In den besetzten Gebieten gewann die sich aus den palästinensischen Muslimbrüdern entwickelte Hamas im Januar 2006 die Parlamentswahlen und nach bürgerkriegsartigen Zuständen 2007 die Macht im Gaza Streifen. (vgl. dazu den Artikel "Hamas" von Peter Philipp in diesem Dossier) Diese Beispiele belegen, dass die Gesellschaft der Muslimbrüder keineswegs eine einheitliche Bewegung ist, sondern vielmehr im Rahmen von Nationalstaaten – unabhängig von der jeweiligen Staatsform – agiert und ihre politischen Strategien entsprechend anpasst. Sowohl die Salafiya-Bewegung als auch die Muslimbrüder – weder die eine noch die andere bildet eine in sich geschlossene und homogene Bewegung – übten im Laufe des 20. Jahrhunderts weltweit einen enormen Einfluss auf die Entwicklung der unterschiedlichsten islamistischen Ideologien aus. Es lässt sich nicht von der Hand weisen, dass sie auch die radikalsten und militantesten Gruppen inspiriert haben. Beide Strömungen sind ursprünglich als Reaktion auf die Unfähigkeit der eigenen Herrschaft und die daraus resultierende westliche Vorherrschaft entstanden – der unverminderte Zulauf zu radikalen Gruppen lässt vermuten, dass sich seither offenbar nur wenig geändert hat.

Literatur

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Internetquelle: Externer Link: www.crisisgroup.org

Fussnoten

Dr. Franz Kogelmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Islamwissenschaft der Universität Bayreuth. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen u.a. Scharia-Debatten und islamisches Recht in Afrika sowie islamische Bewegungen in Ägypten.