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Dschihadismus im Internet

Univ.-Prof. Dr. Rüdiger Lohlker

/ 5 Minuten zu lesen

Radikalisierung via Internet bis hin zur Aufnahme des bewaffneten Kampfes: seit einigen Jahren lassen sich solche Fälle immer wieder beobachten. Für die Verbreitung dschihadistischer Inhalte ist mehr und mehr eine Subkultur verantwortlich, die nicht direkt in die dschihadistischen Organisationen eingebunden ist.

Am Fahrerfenster eines US-amerikanischen Militärbusses ist auf dem Flughafengelaende in Frankfurt am Main nach einer Schiesserei ein Einschussloch zu sehen (Foto vom 02.03.11). Die Bundesanwaltschaft hat Anklage gegen einen 21-jährigen Islamisten wegen des Anschlags auf US-Soldaten am Frankfurter Flughafen erhoben. Dem kosovarisch-serbischen Staatsangehoerigen Arid U. wird zweifacher Mord und dreifacher versuchter Mord vorgeworfen, wie die Bundesanwaltschaft am Donnerstag (07.07.11) in Karlsruhe mitteilte. (© AP)

Bereits in Afghanistan wurde von dschihadistischen Theoretikern wie Abu Mus'ab al-Suri über eine Strategie zur Internetnutzung nachgedacht. Während vor dem 11. September 2001 nur eine geringe Zahl dschihadistischer Internetpräsenzen zu finden war, blühten danach viele auf – in unterschiedlichen Formen.

Doch im Laufe der Zeit hat sich ein Wandel vollzogen: Anfangs verfügten viele dschihadistische Organisationen über eigene Internetpräsenzen. Mittlerweile sorgt eine Subkultur für die Verbreitung dschihadistischer Positionen, die nicht direkt in die Organisationen eingebunden ist.

Vom Computer zum Kampf

Seit einigen Jahren lassen sich immer wieder Fälle beobachten, in denen eine Entwicklung zu verfolgen ist von der Beschäftigung mit dschihadistischen Inhalten im Internet hin zur Aufnahme des bewaffneten Kampfes. Das Muster liefert der 2004 in Großbritannien festgenommene Babar Ahmad, der seit 1997 eine Webseite mit Namen Azzam Publications unterhielt, die als Spendensammlungs- und Rekrutierungsmedium diente. Durch Kreditkartenbetrug und Online-Geldwäsche konnte ein anderer Online-Aktivist, der unter dem Namen "Irhabi 007" (Terrorist 007) auftrat, einige Millionen Dollar sammeln.

Aber der Internet-Aktivismus führt auch direkt zu gewaltsamen Aktionen. 2011 sind mindestens drei Fälle bekannt geworden, bei denen online aktive Dschihadisten beteiligt waren. Es gibt etliche Fälle mehr, in denen gezeigt werden kann, dass das dschihadistische Internet als Rekrutierungsmedium dienen kann.

Internetmedien

Viele Jahre waren die zentralen Medien der dschihadistischen Subkultur diverse Online-Diskussionsforen. Diese Foren waren häufig einem Zyklus von Schließung, Verlagerung auf andere Server und Wiedereröffnung unterworfen. Etliche recht häufig benutzte Foren sind inzwischen offline. Aktuell sind noch drei Foren, die in einer engeren Verbindung zum Kern von al-Qaida stehen, wirklich aktiv. In diesen Foren werden Erklärungen, Texte, Videos, Audiodateien u.ä. publiziert und ausgetauscht. Links führen zu externen Upload-Diensten. Auch technische Fragen, insbesondere der Internetsicherheit, werden häufig angesprochen, oft auf etwas amateurhaften Niveau. Verschiedene Internetinitiativen wie z. B. "Internet Haganah" arbeiten daran, dass solche Foren vom Netz genommen werden.

Foren und andere Internetmedien dienen als eine Art virtueller Organisator, durch den dschihadistische Aktivitäten angeleitet werden. Parallel dazu hat sich eine dschihadistische Internetsubkultur entwickelt, die ihren eigenen Ritualen folgt – neuerdings bevorzugt im Web 2.0. So wurden in spanischsprachigen Drohungen gegen diesjährige Osterprozessionen in Ceuta und Melilla immer auf eine Facebook-Seite verlinkt. Diverse Attentäter wie der von Stockholm im Dezember 2010 waren intensiv über Facebook vernetzt. Als Präsentationsplattform für Videos wird unter anderem YouTube genutzt. Zudem betreiben dschihadistische Gruppen und Personen etliche Blogs; darunter gibt es allerdings auch viele tote Seiten, die seit Jahren nicht mehr aktualisiert werden.

Daneben gibt es eigene Online-Magazine. Das Vorbild lieferten Zeitschriften der saudischen al-Qaida, besonders die "Stimme des Dschihad", die auch Jahre nach der letzten Nummer noch online zu erreichen ist. Ein großes mediales Interesse hat das englischsprachige Magazin "Inspire" erregt, in erster Linie wegen der leichten sprachlichen Zugänglichkeit für Journalisten.

Sprachliche Diversität

Im Internet findet seit einiger Zeit eine Transformation der ethnisch/linguistischen Struktur im Hinblick auf den dschihadistischen Diskurs statt. Waren zu Anfang des Online-Dschihad die arabischsprachigen Internetpräsenzen dominant, gibt es mittlerweile auch sprachlich eine zunehmende Regionalisierung. Es gibt inzwischen eine Vielzahl europäischsprachiger, turksprachiger, somalischer Webseiten und Webpräsenzen in Urdu, Bahasa Indonesia u. a. m. Für den deutschsprachigen Raum war das an den deutschsprachigen Videos und Onlinedokumenten der Globalen Islamischen Medienfront erkennbar. Es gibt etliche weitere deutschsprachige Beispiele. Die besondere Rolle, die das Magazin "Inspire" spielt, ist sicherlich zum Teil Ausdruck der mangelnden sprachlichen Kompetenz unter vielen Dschihadi in Europa und Nordamerika, zum Teil aber auch dafür, dass die dschihadistische Subkultur ein globales Phänomen geworden ist.

QuellentextInfobox

Anwar al-Awlaki († 30.09.2011)

Dschihadistischer Prediger und ehemaliger Imam in den USA. Er galt als einer der ideologischen Köpfe der "Al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel" im Jemen und war im Internet sehr aktiv. Al-Awlaki wendete sich besonders an Muslime in den USA.

Abu Yahya al-Libi

Libyscher Herkunft. Er hat sich in den letzten Jahren zunehmend als ideologisch-theologischer Kopf der Kerngruppe von al-Qaida präsentiert. Er soll in Mauretanien u.s. Islamisches Recht studiert haben. Es gibt eine ganze Reihe von Videos mit seinen Erklärungen.

Abu Mus'ab al-Suri

Syrischer Herkunft. War zuerst in einer extremistischen Abspaltung der syrischen Muslimbrüder aktiv. 1980 musste er fliehen und ging nach Afghanistan, wo er als Trainer in Ausbildungslagern tätig war und gegen die Rote Armee kämpfte. Er ging dann nach Europa, wo er sich hauptsächlich in Spanien und Großbritannien aufhielt, bevor er nach Afghanistan zurückkehrte. Er ist ein produktiver Autor, dessen 1600seitiger "Aufruf zum globalen islamischen Widerstand" besonders bekannt ist.

Propaganda

Ein wesentlicher Teil der dschihadistischen Internetpräsenzen dient der Propaganda. Dies geschieht z.B. mit Videos, in denen Greueltaten gegen Muslime dokumentiert werden, um zum gewaltsamen Kampf zu motivieren. Andere Videos zeigen Operationen von Mörserbeschuss feindlicher Stellungen bis hin zu Selbstmordattentaten und Tötungen von Gefangenen. Die Videotestamente von Selbstmordattentätern, ein im Libanon entstandenes Format, werden häufig verbreitet, auch weiterhin die der Attentäter des 11. September.

Dazu kommen Aufnahmen, die das Leben in Ausbildungslagern und in sicheren Verstecken zeigen, die zum Teil gezielt mit einer Art Lagerfeuerromantik spielen. All diese Videoformate dienen der Mobilisierung von Gefühlen. Die sprachliche Globalisierung des Dschihadismus zeigt sich in einer zunehmenden Untertitelung arabischsprachiger Videos in Urdu, Englisch etc. Unterlegt werden Videos oft mit islamischen a cappella Gesängen, von denen die häufig recht heterogenen Videos zusammengehalten werden.

Auch Audiodateien unterschiedlichsten Inhaltes werden weiterhin online verbreitet. Stärker ideologisch-theologisch ausgerichtet sind Videobotschaften bekannter Sprecher von al-Qaida wie Osama bin Laden, Ayman az-Zawahiri oder Abu Yahya al-Libi. Aber auch Sprecher, deren Muttersprache nicht Arabisch ist, werden für spezielle Adressaten verwendet, so z.B. Adam Yahya, alias "Azzam, der Amerikaner" für ein US-Publikum (jetzt mehr Anwar al-Awlaki) oder auch verschiedene deutsche Sprecher in jüngerer Zeit. All dies ist Ausdruck der Diversifizierung und Globalisierung der dschihadistischen Subkultur.

Neben den nicht zu unterschätzenden Videos sind Texte von großer Bedeutung. Es gibt ein Spektrum, das von Erklärungen zu dschihadistischen Operationen, kurzen politischen Texten, längeren religiösen Texten bis hin zu umfangreichen strategischen Studien mit mehreren hundert Seiten und Gedichten reicht.Die dschihadistische Internetsubkultur zeichnet sich durch eine eigene Bildsprache aus, durch die dschihadistische Internetpräsenzen auf einen Blick zu erkennen sind. Oft wird dabei auf populärkulturelle Elemente zurückgegriffen.

Virtuelles Trainingscamp

Schon recht früh wurde darüber nachgedacht, in welcher Form das Internet als Trainingsmedium dienen kann. Inzwischen sind eine Vielzahl von waffenkundlichen Texten und Videos online. Es finden sich auch Texte, die Fragen der militärischen Taktik behandeln, häufig Übersetzungen von englischsprachigen Originalen. So werden u.a. technische Fragen wie die Nutzung von Modellflugzeugen oder der Gebrauch von unsichtbarer Tinte besprochen. Der Bau von Bomben verschiedenster Art ist Gegenstand zahlreicher Videos und illustrierter Texte. Das Niveau der chemischen, biologischen und IT-bezogenen Publikationen ist allerdings oft nicht sehr hoch. Von einem effektiv geführten elektronischen Dschihad kann daher momentan nicht gesprochen werden.

Verbreitung

Dschihadistische Inhalte werden mit den üblichen Mitteln des Internets verbreitet: Individuelle Nutzer posten, re-posten, uploaden einen im Internet publizierten Inhalt je nach technischen Möglichkeiten. Das kann das Posten von Links sein, von Texten oder Bildern auf Facebook-Profilen, das Gründen von Facebook-Gruppen oder individuellen YouTube-Channels, Beteiligung an Foren, seien es dschihadistische oder nicht, Bloggen u. v. a. m. Genutzt werden daneben andere Formen der elektronischen Kommunikationen wie orivate Chat-Rooms, elektronische tote Briefkästen, aber auch E-Mail. Die elektronischen Formen der Kommunikation werden von der Sorge der Dschihadis beherrscht, dass Sicherheit und Anonymität nicht gewahrt werden können.

Probleme

Ein jüngeres dschihadistischer Text beklagt die PR-Probleme der Dschihadisten. Die erste Generation habe dabei versagt, nicht gewaltbereite salafistische Muslime für ihre Sache zu gewinnen. Dschihadisten müssten einfachen Leuten Videos mit Leiden der Muslime zeigen, um sie dazu zu bringen, etwas dagegen zu tun. Salafistische Gläubige sollten nicht durch Streitigkeiten abgeschreckt werden. Auch seien unnötige Grausamkeiten zu vermeiden – wie Videos von Köpfungen von Gefangenen. Generell wird eine Kriegsführung angemahnt, die ethischer sein soll als die der Feinde der Dschihadisten. Zudem werden das mangelnde religiöse Wissen der Dschihadisten beklagt, das sie zum leichten Opfer nicht dschihadistischer Argumentation mache. Es gibt also einige Probleme mit Online- und Offline-Strategien im dschihadistischen Lager.

Literatur

Lohlker (2009), Rüdiger, Dschihadismus. Materialien, Wien: facultas/wuv

Lohlker (2011), Rüdiger (Hg.), Studying Jihadism, Göttingen: Vienna University Press (i.Dr.)

Prucha (2010), Nico, Die Stimme des Dschihad, Hamburg: Kovacs

http://www.jihadica.com

http://www.online-jihad.com

http://www.internet-haganah.com

Geb. am 7. Juli 1959, ist seit September 2003 Universitätsprofessor für Orientalistik an der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien und leitet das Projekt Dschihadismus Online. Es untersucht Onlinepräsenzen der extremistischen transnationalen Strömung des Dschihadismus dahingehend, welche Überzeugungsstrategien auf theologischer, visueller und sprachlicher Ebene angewendet werden, um Anhänger zu motivieren und zu rekrutieren. Externer Link: http://www.univie.ac.at/jihadism/