Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

"Dortmund ist unsere Stadt" | Rechtsextremismus | bpb.de

Rechtsextremismus Was ist Rechtsextremismus? Rassismus Was ist eigentlich Rassismus? Rassen? Gibt's doch gar nicht! Warum ist es so schwer, von Rassismus zu sprechen? Alltagsrassismus Rassentheorien und Rassismus in Asien im 19. und 20. Jahrhundert Infografik Rassismus Verschwörungstheorien Jüdische Weltverschwörung, UFOs und das NSU-Phantom Die Reichsideologie Die Protokolle der Weisen von Zion Debatte: Extremismustheorie Der Extremismusbegriff Kritische Anmerkungen zum Extremismuskonzept Weiterführende Literatur Ideologie Rechtsextreme Einstellungen Zur Entwicklung des Rechtsextremismus in Deutschland Was denkt die NPD? Rechtsextremismus: die internationale Debatte Intellektueller Rechtsextremismus Muslimfeindlichkeit Islamfeindlichkeit, Islamophobie, Islamkritik Interview Hafez Muslimfeindlichkeit als rechtsextremes Einfallstor Virtuelle Kreuzritter Konkurrenz der Leidtragenden Quellentext: Islamfeindlichkeit und Antisemitismus ähneln einander Antisemitismus Antisemitismus im Rechtsextremismus Antisemitismus heute Interview mit Marina Chernivsky Antisemitismuskritische Bildungsarbeit Die AfD und der Antisemitismus Verbreitung des Antisemitismus in Deutschland Ungezählte Opfer Wie organisieren sich Rechtsextreme? Internationale Netzwerke Die Eurasierbewegung und die Neue Rechte Die APF: Europas rechtsextremer Rand Rechtsextreme US-Szene Wie Russland den rechten Rand in Europa inspiriert Globalisierte Anti-Globalisten Die Identitären Neonazis in Russland Hammerskins Kampfsport, Runen, Rassenhass Rechtsextremistische Parteien in Europa Rechtsextremismus in Russland (Miss-)Erfolge der „Identitären“ NPD Mehr als 50 Jahre rechtsextrem Das Parteiprogramm der NPD Frauen in der NPD Radikal besorgte Bürger Wer wählt eigentlich rechtsextrem? NPD-Taktiken Das Potenzial der NPD NPD-Verbot und Parteienfinanzierung Autonome Nationalisten Turnschuhe statt Springerstiefel "Dortmund ist unsere Stadt" Aussteigerinterview Webtalk: Autonome Nationalisten Rechtsextreme Parteien in Europa Rechtsextreme Akteure in Deutschland Rechtsextreme Szenen und Medien Rechtsextremismus in der Einwanderungsgesellschaft Interview mit Eberhard Seibel Heimatliebe, Nationalstolz und Rassismus Graue Wölfe Nationalismus und Autoritarismus auf Türkisch Antisemitismus bei Muslimen Russlanddeutsche GMF bei Polnischstämmigen Debatte: "Deutschenfeindlichkeit" Jugendkulturen Runen gestern, heute, morgen Jugendkulturen im Wandel Codes der rechtsextremen Szene Interview mit Christoph Schulze Tipps für Jugendeinrichtungen Burschenschaften Kameradschaften Neonazis hinter weißen Masken Kameradschaften im Visier Einführung Jugendkultur Kampfsport Was liest der rechte Rand? Geschichte der rechtsextremen Presse Gegenöffentlichkeit von rechtsaußen Der rechte Rand: Verlage Der rechte Rand: Publikationen Audio-Slideshow Männer Männliche Überlegenheitsvorstellungen Homosexualität Rechtsextreme Männerbilder Soldatische Männlichkeit Burschenschafter Audio-Slideshow Musik Die neonazistische Musik-Szene Neue Töne von Rechtsaußen Rechtsrock für's Vaterland Rechtsrock: Millionen mit Hass Verklausulierte Volksverhetzung Interview mit David Begrich Elf rechte Bands im Überblick Frauen Auf die sanfte Tour Feminismus von rechts Rechte Aktivistinnen Frauen in der NPD Rechtsradikale Frauen Rechtsextrem orientierte Frauen und Mädchen Frauen im rechtsextremen Spektrum Aussteigerinnen Nazis im Netz Roots Germania Rechtsextremismus im Internet Das braune Netz Neonazis im Web 2.0 Zocken am rechten Rand TikTok und Rechtsextremismus Das Internet als rechtsextreme Erfolgsgeschichte? Rechtsextremismus und Presse Interview mit Ulrich Wolf Der NSU und die Medienberichterstattung Umgang mit Leserkommentaren Ein kurzer Ratgeber für Journalisten Krimi gegen Rechts Tonangebende rechtsextreme Printmedien Wenn Neonazis Kinder kriegen Die nächste Generation Hass Umgang mit Kindern von Neonazis Eine Mutter und ihre Kinder steigen aus "Mein Kampf" "Wir wollen den Zünder ausbauen" Helfen Gesetze gegen "Mein Kampf"? Gemeinfrei: "Mein Kampf" Hitlers "Mein Kampf" – ein unterschätztes Buch Rechtsextreme Kampagnen-Themen "Gender" und "Genderwahn" Ökologie Grüne Braune Wie grün waren die Nazis? Interview mit Elisabeth Siebert Debatte: Kommunale Flüchtlingspolitik Nach Köln Flüchtlingsunterkünfte Interview mit Oliver Malchow Was kommunale Flüchtlingspolitik leisten kann – und muss Deutsche Asylpolitik, europäischer Kontext Wer erhält welches Asyl? "Ich habe nichts gegen Flüchtlinge, aber …" – Ein Faktencheck Anstoß in der Kreisklasse Handlungsspielraum der Kommunen Meinung: Die Probleme waren schon vor den Flüchtlingen da Meinung: Kommunale Flüchtlingspolitik aus der Sicht des Bundes Meinung: Probleme und Lösungswege in der kommunalen Flüchtlingspolitik Meinung: Flüchtlingsarbeit in den Kommunen – Eine Herausforderung für Politik und Gesellschaft TwitterChat: Kommunale Flüchtlingspolitik Fußball Judenhass im Fußball Film: Rechtsextremismus und Diskriminierung in deutschen Fußballstadien Interaktiver Webtalk: Über den rechten Flügel – Neonazis und Fußball Fußball und Rechtsextremismus Interaktive Grafik: Rechtsextreme Vorfälle in Fußballstadien Angriff von rechtsaußen Rechtsextreme BVB-Fans Audio-Interview: Martin Endemann über Rassismus im deutschen Fußball Audio: Ronny Blaschke über rechte Fangesänge im Stadion Vereine und Verbände Grauzonen Die "Neue Rechte" Interview mit Maren Brandenburger Der rechte Rand des politischen Systems der Bundesrepublik Die völkische Bewegung Die Junge Freiheit Das Institut für Staatspolitik Völkische Jugendbünde Die "Neue Rechte" in der Bundesrepublik Querdenken und Verschwörungserzählungen in Zeiten der Pandemie Rechtsextreme Gewalt Rechtsextreme Gewalt Angriff auf die Lokalpolitik Rechtsterrorismus Der Einzeltäter im Terrorismus Der Weg zum NSU-Urteil NSU-Verfahren Storify des Chats zu #3JahreNSUprozess Der Anschlag auf Henriette Reker Video: Die migrantische Community und der NSU Der NSU-Untersuchungsausschuss Protokolle NSU-Ausschuss Chat: NSU-Untersuchungsausschuss Interaktive Grafik: Die Taten des NSU Der NSU Der "Nationalsozialistische Untergrund" (NSU) Die rechtsextreme Szene und der NSU Der Rechtsterrorismus im Verborgenen Chronik des Rechtsterrorismus Rechtsterrorismus in Europa PMK – Methoden und Debatten PMK – Statistiken Opfergruppen und Feindbilder Wo Demokraten gefährlich leben Die Geschichte des Orazio Giamblanco Wohnungslose Menschen Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit Was ist Sozialdarwinismus? Wer sind die Opfer? Ausstieg Warum und wie aussteigen? Debatte über echten Ausstieg Interview mit Aussteiger Rochow Pädagogische Arbeitsfelder Netzwerke in Norddeutschland Gewalt gegen Geflüchtete Unvollständige Erinnerung Umgang mit Rechtsextremismus Debatte: Soll man mit Neonazis reden? Toralf Staud: Soll man mit Neonazis reden? Cornelius Weiss: Argumentieren auf allen Ebenen Grit Hanneforth: keine Nazis auf Veranstaltungen Stefan Niggemeier: Ablehnung begründen Andreas Hechler: Entscheidend ist der Kontext Klaus-Peter Hufer: Argumente wirken Simone Rafael: Rassismus widersprechen Initiativen und Zivilgesellschaft Debatte: Was tun bei einem rechtsextremen Aufmarsch? Der rechtsextreme "Kampf um die Straße" Wolfgang Thierse: Wir müssen den öffentlichen Raum gegen die Besetzung durch Rechtsextreme verteidigen Hans-Ernst Böttcher: Man muss nur das Recht anwenden … wollen! Anna Spangenberg: Erfolgreich rechtsextreme Aufmärsche verhindern Herbert Trimbach: Versammlungsfreiheit ist ein Menschenrecht Politische Konzepte Wie sag ich Dass Auschwitz sich nie wiederhole... Denkanstöße aus dem Kanzleramt Bildung, Bildung, Bildung NPD trockenlegen? Wie kann Aussteigern geholfen werden? Interview MVP Forderungen von Projekten an die Politik HDJ-Verbot Strategien im Umgang mit der NPD in Parlamenten Noch mehr Vorschläge Schule Hakenkreuze an der Tafel Interview Reinhard Koch Analyse Albert Scherr Aufsatz Scherr / Schäuble Schülerzeitung Martinshorn Neonazis auf SchülerVZ Studie Uni-Seminar Was können Schülerinnen und Schüler tun? Antidemokratische Positionen und Einstellungen in Schulen Strategien Offener Brief an einen Oberbürgermeister Wie man Hakenkreuze kreativ entschärfen kann Gewalt vermeiden, aber wie? Parolen parieren! Was tun als Opfer rechter Gewalt? Engagement – lohnt das denn? Guter Rat, wenn Nazis stören Rezepte gegen Rechtsextremismus Argumente gegen rechte Vorurteile Vom Hass verabschieden Marke gegen Rechtsextremismus Und Du? Podcasts und Audios Glossar und FAQs Videos und Bilderstrecken Angaben zur Redaktion

"Dortmund ist unsere Stadt"

Toralf Staud Johannes Radke

/ 8 Minuten zu lesen

Die Ruhrgebietsmetropole Dortmund gilt seit Jahren als Hochburg der Autonomen Nationalisten (AN), etliche Kader haben sich dort angesiedelt, ein Stadtviertel sehen sie gar als "National Befreite Zone". Im Sommer 2012 wurde die örtliche AN-Gruppe verboten – doch der Spuk ist noch immer nicht vorbei.

Dortmund ist ein beängstigendes Beispiel dafür, was passiert, wenn Neonazi-Kader gezielt in eine Stadt ziehen, Polizei und Justiz anfangs gemächlich reagieren und die Bürger das Problem lange nicht wahrnehmen. Diese Geschichte ist auch ein Lehrstück darüber, wie schwierig es ist, Neonazis wieder loszuwerden, wenn sie erst ihre Strukturen aufgebaut haben.

Ein Polizeihubschrauber dröhnt über den Dächern, 2.000 Polizisten in Kampfmontur sind im Einsatz, darunter auch eine Reiterstaffel. Es ist der 1. Mai 2013. Dortmund befindet sich im Ausnahmezustand, wie schon so oft in den vergangenen Jahren: Neonazis wollen durch die Ruhrmetropole ziehen. Rund 500 Personen formieren sich an diesem Tag, die meisten tragen schwarze Kapuzenpullover, Sonnenbrillen und dunkle Lederhandschuhe. Dutzende schwarz-weiß-rote Fahnen wehen über ihren Köpfen. "Eure Galgen werden schon gezimmert ..." ist auf der Rückseite eines T-Shirts zu lesen. Es sind die meist jungen Interner Link: "Autonomen Nationalisten" (AN) , die den Neonazi-Aufmarsch dominieren. "Nationaler Sozialismus - jetzt!" und "Hier marschiert der Nationale Widerstand" brüllen sie im Chor. Klassische Neonazi-Skinheads mit Glatze und Bomberjacke sieht man in der Menge kaum.

Die Anwohner kennen dieses Schauspiel schon: Dortmund gilt als Hochburg der Autonomen Nationalisten, in der Szene hat die Stadt Kultstatus. Im Stadtteil Dorstfeld haben sich zahlreiche Kader angesiedelt, sie nennen das Viertel eine "National Befreite Zone". Zwar hat der nordrhein-westfälische Innenminister die AN-Kameradschaft "Nationaler Widerstand Dortmund" (NWDO) 2012 verboten. Aber der Spuk ist damit längst nicht vorbei. In Dortmund zeigt sich auf beängstigende Weise, wie schwierig es ist, die Neonazis wieder loszuwerden, wenn sie erst ihre Strukturen aufgebaut haben.

In der Halbmillionenstadt haben die Neonazis ein Klima der Angst geschaffen

Dortmund-Dorstfeld wirkt wie ein Dorf, obwohl es nur fünf U-Bahn-Stationen vom Zentrum entfernt ist. Im Mittelalter florierte der Flecken, weil er am Übergang einer Handelsstraße über die Emscher lag. Ab 1849 brachte eine Steinkohle-Zeche Arbeit und Wohlstand, aber das ist lange her. Gut 15.000 Menschen wohnen heute in Dorstfeld, das Viertel ist eine etwas trostlose Mischung aus Fachwerkhäusern, Bergbauarchitektur und grauen Wohnblöcken. Bis zum Verbot der AN-Kameradschaft NWDO 2012 sah die Gruppe Dorstfeld als ihr Hoheitsgebiet an. Niemand "Fremdes" hatte hier etwas zu suchen – kein Migrant, kein Obdachloser, kein Punk und kein Vertreter der "Systempresse". In einem dreistöckigen Haus in der Rheinischen Straße 135 hatten Szenekader ein Ladenlokal angemietet, "Nationales Zentrum" nannten sie es. Ihre Kampfansage "Dortmund ist unsere Stadt" ließen sie sich auf T-Shirts drucken, an Laternenpfählen und Stromkästen entlang der engen Straßen markierten die Rechtsextremisten mit Aufklebern ihr Revier. "Nationaler Sozialismus oder Untergang", war darauf zu lesen, daneben "Todesstrafe für Kinderschänder". Jeden Tag rissen Passanten die Aufkleber ab, jeden Tag wurden wieder neue geklebt.

Reviermarkierungen durch Aufkleber sind recht harmlose Machtdemonstrationen. Doch die Rechtsextremen schufen in der Halbmillionenstadt ein Klima der Angst. Bis heute scheint kaum jemand, der sich gegen Rechtsextremismus stark macht, in Dortmund sicher zu sein. Denn die AN-Kameradschaft agierte von Anfang an mit systematischem Terror: Gegner wurden ausgespäht, Fensterscheiben bei Büros von SPD, Grünen und der Linken eingeworfen, nicht-rechte Jugendliche zusammengeschlagen. Die Familie einer Dorstfelder Musiklehrerin, die sich gegen die Neonazis engagierte, wurde so lange terrorisiert, bis sie fortzog: Ihre Anzeigen waren von der Polizei wenig ernst genommen worden. Bei Überfällen auf die alternative Kneipe "Hirsch-Q" in der Innenstadt gab es gar Verletzte, ein junger Mann musste mit mehreren Messerstichen ins Krankenhaus eingeliefert werden. Im Juni 2013 begann der Prozess gegen die Angreifer – fast alle Angeklagten waren Mitglieder der zu diesem Zeitpunkt bereits verbotenen AN-Kameradschaft NWDO.

Autonome Nationalisten (Teil 3)

Toralf Staud über Dortmund

Autonome Nationalisten (Teil 3)

Dorstfeld ist ein Stadtteil von Dortmund und eine Hochburg der Autonomen Nationalisten. Hier zeigt sich, dass Rechtsextremismus nicht nur ein Problem Ostdeutschlands ist.

Die Rechtsextremen hatten mit dem Verbot gerechnet – und sich vorbereitet

Am 23. August 2012 schritt der Staat endlich gegen die Rechtsextremen ein. Am Morgen stürmten Polizisten das "Nationale Zentrum" in der Rheinischen Straße 135, das fast wie eine Festung wirkte: Rollläden verrammelten die Fenster. Von innen waren sie nochmals verbarrikadiert. Neben der Haustür standen Plexiglas-Schilde aus alten Polizeibeständen bereit, außerdem Holzlatten und Pfefferspray-Dosen, groß wie Handfeuerlöscher. In einem Schrank entdeckten die Beamten Sturmhauben, Schlagstöcke und Quarzhandschuhe, wie Hooligans sie gern nutzen. In einem Hinterzimmer lagen, akkurat aufgestapelt, mehr als tausend Wahlkampfplakate der NPD.

Wenige Stunden vor der Razzia hatte NRW-Innenminister Ralf Jäger (SPD) gleich drei gewaltbereite nordrhein-westfälische Neonazigruppen verboten, als größte und gefährlichste den "Nationalen Widerstand Dortmund" (NWDO). "Wir reißen damit große Löcher in das Netzwerk der Neonazis", sagte Jäger. Insgesamt 143 Wohnungen und Vereinsräume in ganz Nordrhein-Westfalen wurden an diesem Tag von mehr als 900 Beamten durchsucht. Was sie fanden, übertraf alle Erwartungen. Scharfe Schusswaffen, Schlagringe, Messer, Teleskopschlagstöcke, Stahlkugel-Zwillen, dazu Hakenkreuzfahnen – und eine Hitler-Büste.

Nach dem Verbot des NWDO hatte die Stadtverwaltung Dortmund im September 2012 erstmals die juristische Möglichkeit, den traditionellen Großaufmarsch der AN Anfang September zu untersagen: Seit 2005 hatten die AN jeweils im September mit einem "Nationalen Antikriegstag" Hitlers Überfall auf Polen gefeiert. Marschierten im ersten Jahr nur 100 Neonazis mit, etablierte sich dieser "Antikriegstag" schnell als fester Termin im Kalender der AN. Aus ganz Deutschland reiste die militante Szene an, jedes Jahr skandierte ein Block schwarz gekleideter Neonazis Parolen wie "Gegen Demokraten helfen nur Granaten" und "Nie wieder Israel". Böller und Flaschen flogen auf Polizisten und Pressevertreter. Viele AN, so berichten Aussteiger, fühlten sich bei solchen Gelegenheiten wie die Nachfolger von Hitlers SA-Straßenkämpfern. Nach dem Verbot der AN-Kameradschaft NWDO sollte damit Schluss sein. Doch die Hoffnung, es werde fortan ruhiger in Dortmund, zerschlug sich schnell.

Tatsächlich nämlich hatten die Führungskader offenbar mit dem Verbot gerechnet - und sich eine Alternative überlegt. Kurz zuvor hatte der Hamburger Christian Worch, seit mehr als zwanzig Jahren ein Stratege der Neonazi-Szene, eine neue Partei "Die Rechte" gegründet. Anders als bei kleinen Neonazigruppierungen liegen die juristischen Hürden für ein Parteienverbot enorm hoch. Bei Worch schlüpften führende NWDO-Mitglieder unter und führten ihre Arbeit bruchlos und vor allem völlig legal fort. Die Dortmunder Neonazis zeigen heute bei ihren Aufmärschen teilweise dieselben Transparente wie vor dem Verbot, lediglich der alte Gruppenname wurde durch "Die Rechte Dortmund" ersetzt.

Lange Zeit gab es in Dortmund eine "Politik des Ignorierens"

Aber wie wurde ausgerechnet Dortmund zur AN-Hochburg? Die gefeierte Ruhrmetropole, die Fußballstadt, der multikulturelle Schmelztiegel mit den Kindern und Enkeln Tausender Gastarbeiter, die in den Fünfziger- und Sechzigerjahren angeworben worden waren? Die NPD konnte hier nie richtig Fuß fassen. Im Jahr 2000 trat sie gar nicht erst zur Landtagswahl an. 2005 schaffte die Partei es nur knapp über ein Prozent. Vielleicht lag es gerade an solchen Wahlergebnissen, dass sich die Stadt nicht vorstellen konnte, ein Problem mit Neonazis zu haben. Vielleicht war man aber auch einfach nur sehr vergesslich. In den Achtzigerjahren nämlich war Dortmund über die Region heraus bekannt für seinen gewalttätigen Rechtsextremismus. Vom Westfalenstadion aus machte die berüchtigte "Borussenfront", angeführt vom späteren FAP-Landeschef Siegfried Borchardt, Spitzname "SS-Siggi", die Nordstadt unsicher. Bis heute ist Borchardt ein auch bei der AN angesehener Kader, für eine Jubiläumsfeier der Borussenfront stellten sie 2011 ihr "Nationales Zentrum" zur Verfügung. Noch nicht einmal die maßlose Gewalt der Dortmunder Rechtsextremen rüttelte die Öffentlichkeit auf: Innerhalb von sechs Jahren wurden fünf Menschen von Neonazis getötet. Im Jahr 2000 erschoss der Neonazi Michael Berger aus seinem Auto heraus drei Polizisten. Die Skinhead-Kameradschaft Dortmund druckte danach zynische Aufkleber: "3:1 für Deutschland". 2005 traf es den Punk Thomas Schulz, ein junger Skinhead tötete ihn nach einem Streit im U-Bahnhof mit einem Stich ins Herz. Auch der NSU mordete in Dortmund: Am 4. April 2006 wurde der Kioskbesitzer Mehmet Kubasik in seinem Geschäft erschossen. Zu dieser Zeit hatten die AN längst begonnen, ihre Strukturen aufzubauen. Allerdings tauchte zunächst keines der Opfer in der offiziellen Interner Link: Statistik über Todesopfer rechter Gewalt auf.

"Lange habe es eine "Politik des Ignorierens" gegeben, sagt der Sozialwissenschaftler Jan Schedler von der Ruhr-Universität Bochum. Lokalmedien versuchten anfangs, gar nicht über die Neonazis zu berichten. Von der Polizei wurde deren Gewalt häufig als "Auseinandersetzung unter rivalisierenden Jugendgruppen" verharmlost. "Man gewinnt den Eindruck", sagt Schedler, "dass die Neonazis vor Ort lange das Gefühl hatten, sie könnten in Dortmund quasi machen, was sie wollen, ohne mit ernsthaften Konsequenzen rechnen zu müssen."

Über Jahre sei eine Art rechtsextreme Erlebniswelt mit vielfältigen Angeboten für solche Jugendliche entstanden, die zugänglich waren für ideologische Beeinflussung: mit Konzerten und Partys, politischen Wohngemeinschaften und klandestinen Plakatiereinsätzen, mit martialischen Aufmärschen und blanken Gewaltaktionen. Das "Nationale Zentrum" der Autonomen Nationalisten in der Rheinischen Straße spielte eine wichtige Rolle, es diente als Büro und Lagerraum, aber auch Geburtstagspartys, Rechtsrockkonzerte und Vortragsabende von Holocaustleugnern fanden dort statt. Aufgewacht seien die Dortmunder erst, so Schedler, als am 1. Mai 2009 plötzlich 300 Neonazis eine Demonstration des Deutschen Gewerkschaftsbundes überfielen. Mit Fahnenstangen, Fäusten und Böllern wurden Teilnehmer und Polizisten attackiert. Die Stadt war geschockt.

Hartmut Anders-Hoepgen, ehemaliger Superintendent der Evangelischen Kirche, allerdings betont, man habe das Problem schon lange vor dem Angriff auf den DGB im Blick gehabt. Tatsächlich richtete die Stadt bereits 2007 eine Koordinierungsstelle gegen Rechtsextremismus ein, die Anders-Hoepgen bis heute leitet. Doch da war es fast schon zu spät. Bis Aktivitäten gegen Rechtsextremismus Wirkung zeigten, brauche es viel Zeit, sagt der 67-Jährige. Der "harte Kern" der Dortmunder Neonazis sei mit einigen Dutzend Leuten eigentlich überschaubar, entscheidend sei jedoch das enorme Mobilisierungspotenzial. "Der Giemsch schickt eine SMS, und ein paar Stunden später sind 200 Neonazis aus den umliegenden Städten da", sagt Anders Hoepgen.

Ein Neonazi-Kader konnte mit Staatsgeldern einen Online-Versand aufbauen

Dennis Giemsch. Egal mit wem man über die Dortmunder Szene spricht, jedes Mal fällt sein Name. Der Multifunktionär ist die unangefochtene Führungsfigur im AN-Spektrum Nordrhein-Westfalens. Schon als Teenager tauchte er bei NPD-Demonstrationen auf. Vor rund zehn Jahren begann er gemeinsam mit Berliner Rechtsextremisten, den neuen Stil der AN unter jungen Rechtsextremen zu etablieren. Mit strategischem Sinn rief Giemsch Autonome Nationalisten aus ganz Deutschland auf, nach Dorstfeld zu kommen, um dort eine Hochburg zu schaffen.

AN-Aussteiger sagen, Giemsch könne planen, organisieren, reden und Leute begeistern. Gerne zitiert er bei Aufmärschen Adolf Hitler, nicht viele in der Szene trauen sich das so offen. Aber der 28-Jährige, der oft im legeren und eigentlich szene-untypischen Wollpullover auftritt, ist auch Geschäftsmann. Er weiß, wie man mit Politik Geld verdient. Über einen eigenen Server versorgte er diverse AN-Gruppen mit Speicherplatz für ihre Webseiten. Bis zum Verbot des NWDO gab es in Giemschs Online-Versand alles, was die braune Kundschaft begehrte: Sturmhauben, Stahlzwillen, Pfefferspray, Rechtsrock-CDs und Propaganda aller Art. Sein Geschäft hatte er mit staatlichen Fördergeldern aufgebaut. Als Antifa-Gruppen dies enthüllten, forderten die Behörden 2009 das Geld zurück. Aber da lief der Laden schon. In der Verbotsverfügung wird der Versand als Teil des NWDO bezeichnet. Inzwischen hat ein Vertrauter von Giemsch das Geschäft übernommen. Auch hier wurde nur der Name des Versandhandels ausgetauscht.

Dass die AN-Kameradschaft NWDO im August 2012 verboten wurde, sei "sicher ein schwerer Schlag für die Szene und ein gutes Signal für die Opfer", sagt Franca Ziborowius von der Opferberatung Back up, die Ende 2011 gegründet wurde. "Aber das Rechtsextremismus-Problem in der Stadt ist damit längst nicht gelöst." Ähnlich formuliert es Anders Hoepgen. Tatsächlich machen Giemsch und seine "Kameraden" unverdrossen weiter. Die Machtlosigkeit der Behörden gegen ihre Strategie, bei der neuen Worch-Partei unterzukriechen, kommentieren sie hämisch. Bei ihrem Aufmarsch am 1. Mai 2013 war in der Menge ein Transparent mit den Worten zu sehen: "Verbote: manche halten, manche nicht."

Weitere Inhalte

Video Dauer
Video

Interaktiver Webtalk: Autonome Nationalisten

Autonome Nationalisten: Sind sie der dynamischste Teil der extremen Rechten? Am 22. August 2013 diskutierten wir live mit den Journalisten Toralf Staud und Andreas Speit, moderiert von der…

Video Dauer
Video

Autonome Nationalisten (Teil 3)

Dorstfeld ist ein Stadtteil von Dortmund und eine Hochburg der Autonomen Nationalisten. Hier zeigt sich, dass Rechtsextremismus nicht nur ein Problem Ostdeutschlands ist.

Rechtsextremismus

Kameradschaften im Visier

Mit dem Konzept der "Kameradschaften" glaubte die rechtsextreme Szene, staatlichen Verboten vorbeugen zu können. Doch nach dem Aufdecken des NSU mehren sich Verbote und Ermittlungen besonders gegen…

Audio Dauer
Aus Politik und Zeitgeschichte

APuZ #18: Rechte Gewalt

Rechte Gewalt ist in Deutschland allgegenwärtig, von Hass und Hetze auf der Straße bis hin zu rassistischen und antisemitischen Morden. Wir blicken in dieser Folge mit Fabian Virchow und Andreas…

Toralf Staud war von 1998 bis 2005 Politikredakteur der ZEIT, heute schreibt er als freier Autor unter anderem über Rechtsextremismus. Zwei seiner Bücher erschienen auch bei der Bundeszentrale für politische Bildung. Er war 2010 und 2013 an den Recherchen von ZEIT und Tagesspiegel zu Todesopfern rechter Gewalt beteiligt. Zuletzt veröffentlichte er bei Kiepenheuer&Witsch: Neue Nazis. Jenseits der NPD – Populisten, Autonome Nationalisten und der Terror von rechts.

ist freier Journalist mit dem Themenschwerpunkt Rechtsextremismus und Jugendkultur. Er betreut für ZEIT-Online seit Juli 2009 den Störungsmelder. Gemeinsam mit Toralf Staud hat er das ZEIT-Portal "Netz gegen Nazis" gestartet und an dem "Buch gegen Nazis" mitgeschrieben.