Antisemitismus
Antisemitismus ist eine Gesellschaftstheorie, die so viel Anreiz bietet, weil sie für alles Schlechte dieser Welt einen Schuldigen benennt. Hat es also gar keinen Sinn, etwas dagegen zu tun? Anetta Kahane meint: nein. Ein Plädoyer für den entschlossenen Kampf gegen Antisemitismus.
Es ist offensichtlich, was so abstoßend ist am Rassismus. Das gleiche gilt für die Verachtung von Frauen, Menschen mit Behinderung, Sinti und Roma. Das Widerliche am Antisemitismus ist noch etwas anderes als der offene, brutale und tödliche Hass auf Juden und das vermeintlich Jüdische. Synonyme für Antisemitismus sind von je her auch alles Üble, Dunkle und Geheime in der Welt. Die Juden stehen für unsichtbare Macht, für die Erklärung des Undeutbaren, ihnen unterstellt man die miesesten Motive. Wie eine ewige Krankheit zieht sich der Antisemitismus durch die Geschichte, weil die Menschen immer jemanden und etwas brauchen, von dem sie sich im Guten unterscheiden und dem sie das Schlechte zuschreiben können.
Krank ist Antisemitismus deshalb, weil alle den Juden unterstellten Eigenschaften aus dem Eigenen kommen, der eigenen Aggression, der eigenen Schwäche, der eigenen Unanständigkeit, der eigenen Phantasie über das Böse. Das alles hat mit den realen jüdischen Menschen absolut nichts zu tun. Egal, wie die sich verhalten, immer wird ihnen die Unterstellung folgen. Antisemitismus ist Begriff, der eine Sicht auf die Welt beschreibt, eine politische und gesellschaftliche Deutung der Verhältnisse, eine Theorie, die leicht erklären soll, was schwer zu beschreiben ist. Antisemitismus mag immer neue Formen finden und doch ist er stets das Alte: die Abwehr der Moderne, der Komplexität, der Offenheit und der Rationalität. Er ist das düstere Abbild menschlicher Enge, Niedrigkeit und Aberglaubens.
Dass Antisemitismus genug Hass erzeugen kann, um Millionen von Menschen industriell zu ermorden hat sich im Deutschland des Nationalsozialismus gezeigt. Doch hat dies nun, etliche Jahrzehnte später dazu geführt, den Antisemitismus als unzivile Barbarei aus der Gesellschaft zu bannen? Hat die Abschlachtung der Millionen eine Art Heilung dieser Krankheit herbeigeführt? Die Antwort ist: nein. Der Antisemitismus hat sich verkrochen. Nur bei jedem 5. Deutschen zeigt er sich unverstellt. Viele andere aber, die weder den Holocaust leugnen, noch offen sagen, die Juden hätten zu viel Macht und wären an allem Schuld, pflegen ihren Antisemitismus nicht trotz, sondern wegen der Verbrechen der Nazis.
Nicht Trauer oder Scham bestimmen ihr Gefühl, sondern dumpfes Abblocken, Wut auf die Opfer und das ständige Bedürfnis den Massenmord an den Juden zu relativieren. Gerade weil dieses Abschlachten so einmalig war, messen die verdrucksten Antisemiten allein daran, was in ihren Augen antisemitisch ist und was nicht. Nur der Holocaust selbst und seine heutigen Befürworter oder Leugner gelten noch als Antisemiten. Diejenigen jedoch, deren Antisemitismus sich hinter den Bildern der Zeit verkriecht, wehren sich mit aller Macht gegen diesen Begriff. Sie tun dies vor allem natürlich aus Furcht, dass er auf sie angewandt werden könnte. Daraus ist ein Kampf geworden, der mehr bedeutet als nur die Diskussion um das Wort.
Gerade in den letzten zwei Jahren ist immer wieder zu beobachten, wie der Antisemitismus durch die Verbannung des Begriffs unsichtbar gemacht werden soll. Es sei kein Antisemitismus, heißt es, wenn der Zionismus und Israel kritisiert würden. Dass sich jedoch in dieser Kritik alle alten Stereotype wieder finden, spielt keine Rolle. Es ist überhaupt in diesem Zusammenhang üblich geworden, statt Jude lieber Zionist zu sagen. Die "zionistische Weltverschwörung" klingt gewiss moderner als die "jüdische" und doch bleibt es Antisemitismus. Der Nahost Konflikt ist inzwischen zur weltweiten Projektionsfläche für all jene geworden, die ohnehin meinen, dass Juden stur und rachsüchtig seien, kleine Kinder schlachten, eine globale Intrige spinnen und die Armen und Unterdrückten auf zynische Weise zum Terror zwingen. Und obwohl die Medien Tag für Tag äußerst kritisch die Politik Israels kommentieren, schwebt über allem die Unterstellung, man dürfe Israel nicht kritisieren – gerade so, als gäbe es doch eine unsichtbare Macht, die dies zu verhindern trachtet. Das aber sind die alten Bilder. Doch nennt man sie heute beim Namen, als das was sie sind – Antisemitismus - schlägt einem eine Welle der Empörung entgegen. Die Analogie zwischen Israel und dem "ewig Jüdischen" entspricht nicht der Realität, sondern projiziert in die nahöstliche Ferne, was sich direkt nicht mehr offen aussprechen lässt.
Inzwischen wird sogar bestritten, dass Anschläge auf jüdische Einrichtungen oder gar Angriffe auf Juden irgendetwas mit Antisemitismus zu tun hätten. Vandalismus wird es genannt, oder Rassismus. Oder es werden Erklärungen, ja Entschuldigungen vorgetragen, nicht selten versehen mit dem Hinweis in Richtung Israel, von diskriminierten Jugendlichen aus Einwandererfamilien oder solchen ohne Arbeit. Dann wird auch häufig der Rassismus als das schlimmere Übel dem Antisemitismus entgegengesetzt. Gerade Menschen, die gegen Rassismus eingestellt sind, beschreiben den Antisemitismus als eine untergeordnete Kategorie; als eine Spielart des Rassismus sozusagen.
Dass jedoch Antisemitismus auch ein grundsätzliches Menschenbild ist, wollen die Kategorisierer nicht hören. Sie wollen nicht wissen, dass Antisemitismus eine ewige Methode ist, sich aller Widersprüchlichkeiten zu entledigen, eine Art Menschen zu dämonisieren und Entwicklungen in der Welt den Juden als Verschwörung anzudichten – kurz: eine Theorie der Welterklärung, die durch alle Zeiten funktioniert hat und deren Funktionieren auch heute nichts im Wege steht. Sie bestreiten einfach, dass es so ist. Antisemitismus sei ein Kampfbegriff, sagen einige und andere meinen, man solle doch lieber Judenfeindschaft sagen, wenn es so was denn gibt, denn schließlich wären die Araber auch Semiten. Sogar ein bekanntes Internetlexikon hat den Begriff einfach gelöscht. Natürlich will niemand Antisemit genannt werden, auch wenn er die Stereotypen gern weiter benutzen möchte.
Besonders in folgenden Zusammenhängen ist der Antisemitismus ausgeprägt und wird gleichzeitig heftig bestritten:
- der Antisemitismus in Ostdeutschland, der sowohl aus dem äußerst weit verbreiteten Rechtsextremismus als auch aus dem postkommunistischen Antizionismus stammt,
- der islamische Antisemitismus vor allem in desintegrierten Einwandererkommunities im Westen, z.B. in Berlin,
- der Antisemitismus im Mainstream, der sich auch in globalisierungskritischen Haltungen und Strömungen findet.