Antisemitismus im Rechtsextremismus
Wer den Antisemitismus verstehen will, muss die Geschichte der Judenfeindschaft kennen, in der das negative Judenbild geprägt wurde. Denn der heutige Antisemitismus greift auf alte Vorurteile zurück und aktualisiert sie.Einleitung
Rechtsextremismus ist der Sammelbegriff für ein ideologisches Weltbild, das verschiedene, eng miteinander verknüpfte Dimensionen besitzt, zu denen die Befürwortung einer rechtsautoritären Diktatur (Führerprinzip), Nationalismus, Ausländerfeindlichkeit, Antisemitismus, Sozialdarwinismus und die Verharmlosung des Nationalsozialismus zählen.[1]Auch wenn man die Fixierung der Forschung auf nationalsozialistische Ideologieelemente, vor allem auf einen biologischen Rassismus mit seinen Überlegenheits- bzw. Minderwertigkeitsvorstellungen, als überholt kritisiert und statt dessen ein ethnopluralistisches Denken als typisch für den modernen europäischen Rechtsextremismus ansieht, der Differenzen kulturalistisch und relativistisch bestimmt,[2] bleibt Antisemitismus zumindest in Deutschland ein für ihn konstitutives Merkmal. Für den Rechtsextremismus stellt die ethnische Homogenität des eigenen Volkes zur Sicherung kultureller, rassischer und nationaler Identität den höchsten Wert dar.Das rechtsextreme Lager sieht drei zentrale Bedrohungen, gegen die es sich zur Wehr setzt.[3]
Erstens: Die nationale Identität wird durch die pluralistische Demokratie und ein westliches Werteverständnis gefährdet, die den Deutschen nicht adäquat und nach 1945 von "Angloamerikanern" und Juden mittels "Umerziehung" oktroyiert worden seien. Gegen diese "geistige Knechtschaft durch das Besatzungsregime" in "Koalition mit der Holocaust-Industrie", die sich unter anderem solcher Mittel wie Globalisierung und EU-Erweiterung bedienen, setzt sich das rechtsextreme Lager unter dem Etikett der "nationalen Selbstbehauptung" zur Wehr.[4] Der geringe Erfolg verlangt nach einer Erklärung, die verschwörungstheoretisch geliefert wird: Mächtige Gruppen im Hintergrund üben Druck auf die Eliten aus, manipulieren die öffentliche Meinung ("Kartellmedien") und entmündigen das Volk durch Konsumversprechen.[5] Zweitens: Zuwanderung und ethnische Minderheiten gelten als Bedrohung der ethnischen Homogenität. Antisemitismus kommt hier in doppelter Weise ins Spiel: Juden werden als "fremdvölkische Minderheit" abgelehnt, und man sieht die Einwanderung der vergangenen Jahrzehnte und die multikulturelle Gesellschaft als ein von "Hintergrundkräften" gesteuertes Vorhaben zur Schwächung der ethnischen Substanz Deutschlands.[6] Juden werden nicht nur als Fremde betrachtet, sondern gelten, wie schon für die Nationalsozialisten, geradezu als "Anti-Volk" und als "unser ewiger Feind", dessen "Händlergeist" und "nomadische Lebensweise" sich mit dem "Deutschtum" nicht vertrage. Drittens: Als Bedrohung wird auch die kritische Aufarbeitung der Geschichte des "Dritten Reiches" gesehen, da sie einem positiven Selbstbild der Deutschen entgegensteht und die NS-Ideologie entwertet, von der sich rechtsextreme Gruppierungen nur partiell verabschiedet haben und mit der sie von außen identifiziert werden. Dabei stellt der Holocaust das größte Problem dar, dem man einerseits durch Verschweigen, Relativieren, Leugnen, andererseits mit antisemitischen Umdeutungen, indem man die Opfer nachträglich zu Schuldigen und die Überlebenden zu Profiteuren des Holocaust-Gedenkens macht, seine historische Bedeutung zu nehmen sucht.
Antisemitismus steht im rechtsextremen Diskurs also in verschiedenen Kontexten und fungiert - anders als Ausländerfeindlichkeit - als Theorie zur Erklärung (fast) aller das nationale Kollektiv schädigenden Phänomene in Gegenwart und Vergangenheit. Antisemitische Annahmen werden einerseits - neuerdings wieder vermehrt - zur Deutung aktueller Erscheinungen (Globalisierung, Irak-Krieg, Terrorismus, Nahostkonflikt) herangezogen, doch haben sie im Rechtsextremismus immer auch eine vergangenheitsbezogene Stoßrichtung, da die Schuld der Deutschen am Holocaust wie auch die Kränkung durch die Niederlage im Zweiten Weltkrieg durch Projektion auf "die Juden" abgewehrt werden müssen.
Insofern bilden antisemitische Erklärungsmuster einen integralen Bestandteil rechtsextremer Geschichtsdeutung. Im Kampf gegen herrschende Geschichtsbilder reagiert die rechtsabweichende, sich als nonkonformistisch begreifende Subkultur auch auf den "Normalismus" der Mehrheitsgesellschaft, in der antisemitische Äußerungen ein zentrales Tabu darstellen.[7] Dies macht die Angriffe auf Juden und die "Vergangenheitsbewältigung" so attraktiv, denn der rechtsextreme Code funktioniert als Negation des Mehrheitsdiskurses, indem er dessen (zum Teil strafbewehrte) Normen durchbricht:[8] Der "verordnete" Philosemitismus wird in einem teilweise rabiaten Antisemitismus negiert und dabei oft ins Lächerliche gezogen.
Antisemitische Positionen werden im gesamten rechtsextremen Spektrum vertreten und haben eine Integrationsfunktion. Dennoch gibt es Unterschiede, sowohl was die Zentralität dieses Ideologieelements als auch was die Offenheit seines Auftretens betrifft.
Rechtsextreme und antisemitische Einstellungen
Betrachtet man die Größe der Einstellungspotenziale in den genannten Dimensionen des Rechtsextremismus, dann rangiert der Antisemitismus (23 %) hinter chauvinistischen (32 %), den Nationalsozialismus verharmlosenden (29 %) und fremdenfeindlichen (26 %) Einstellungen. Er fällt aber höher aus als sozialdarwinistische Überzeugungen (13 %) und die Zustimmung zu einer rechtsautoritären Diktatur (19 %). Dabei gibt es teilweise erhebliche Ost-West-Unterschiede: Insgesamt zeigen Ostdeutsche anderthalb Mal so häufig rechtsextreme Orientierungen wie Westdeutsche, seltener aber antisemitische und den Nationalsozialismus verharmlosende Anschauungen.[9]Was die Ursachen antisemitischer Einstellungen angeht, so weisen empirische Analysen auf ihre Diffusität hin. Die größte Erklärungskraft besitzen Faktoren, die auf der Ebene von Ideologie und Wertorientierungen liegen (rechte politische Orientierung; konservative Wertorientierungen, vor allem Nationalstolz und Autoritarismus; Unzufriedenheit mit der Demokratie).[10]
Situative Einflüsse, wie Probleme des Arbeitsmarktes und Verteilungskonflikte, beeinflussen antisemitische Einstellungen wenig.[11] Allerdings begünstigen Krisen, wie die Erfolgsphasen des Rechtsextremismus in der Bundesrepublik zeigen, Rechtsparteien, die in ihren Publikationen antisemitische und geschichtsrevisionistische Ansichten verbreiten.[12]
Antisemitische Einstellungen führen keineswegs immer zur Wahl einer rechtsextremen Partei, wie die Verteilung der Parteipräferenzen zeigt. Rechtsextreme wählen rechtsextreme und konservative Parteien aber überdurchschnittlich häufig.[13] Wechselt man die Perspektive und betrachtet die Wählerschaft der rechtsextremen Parteien, dann wird deutlich, dass sie ein Sammelbecken für antisemitisch Eingestellte sind. In einer Studie von 1993 stimmten die Hälfte der Anhänger (52 %) und der Stammwähler (53 %) sowie über ein Drittel der Protestwähler (39 %) der "Republikaner" einer Liste antijüdischer Stereotypen zu (Gesamtbevölkerung: 22 %).[14] Antisemitismus steuert die Präferenzen für politische Parteien also nur partiell.