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Privatisierung der Sozialversicherung: Negative Verteilungseffekte | Verteilung von Armut + Reichtum | bpb.de

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Privatisierung der Sozialversicherung: Negative Verteilungseffekte

Gerhard Bäcker Ernst Kistler

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Die Forderung, die soziale Sicherung stärker marktwirtschaftlich zu gestalten, Vermögensbildung zu ermöglichen und die Förderung von Privatversicherungen auszubauen hat immer wieder "Konjunktur". Mit dem Argument, die Steuer- und Beitragsbelastungen zu begrenzen, sind Insbesondere in den "neoliberal" geprägten Jahren um die Jahrtausendwende viele Schritte in die Richtung einer (Teil)Privatisierung gegangen worden.

Baustelle für neue Eigenheime in Leipzig. Die Möglichkeit zur individuellen Vorsorge hängt ab von der Position der Menschen im Erwerbsleben und in der Einkommenshierarchie. Ein großer Teil der Bevölkerung ist jedoch von der Vermögensbildung weitgehend ausgeschlossen. (© picture-alliance/dpa, Zentralbild | Volkmar Heinz)

Wenn die Wechselfälle des Lebens zu Einkommensrisiken führen, die die Existenzsicherung gefährden und zugleich der Rückgriff auf Hilfen im Familienverband nicht möglich oder gewünscht ist, dann bietet es sich an, durch Sparen beizeiten vorzusorgen. Durch das Zurücklegen eines Teils des laufenden Einkommens und den Aufbau eines Geld-, Produktiv- und/oder Grundvermögens ist es möglich, im Risikofall über eine Reserve zu verfügen, die aufgelöst und zur Bestreitung des Lebensunterhalts eingesetzt werden kann. Zudem entsteht aus den Erträgnissen des Vermögens ein Einkommen, das die Menschen an den Zuwächsen der Wirtschaft beteiligt und unabhängig vom Arbeitseinsatz fließt. Lassen sich also über Vorsorgesparen und Vermögensbildung die Einkommensrisiken bewältigen? Die Analyse zeigt, dass dieser Weg auf enge Grenzen stößt und die staatliche Sozialpolitik ergänzen, aber nicht ersetzen kann. Dieses Ergebnis gründet auf mehreren Faktoren:

  • Zwar ist jedem Menschen bekannt, dass im Leben eine Reihe von Wechselfällen eintreten wird. Aber unbekannt ist, wann, wie häufig, wie lange und in welcher Höhe die Risiken eintreffen. Im ungünstigen Fall treten die Unterbrechung oder gar der Verlust des Erwerbseinkommens bereits auf, ehe überhaupt mit der Vermögensbildung begonnen worden ist. Und sind Reserven vorhanden, dann reichen die Beträge in der Regel nur zur Überbrückung kurzer Phasen aus.

  • Vermögensbildung vollzieht sich in unterschiedlichen Anlageformen (so Sparpläne, Kauf von Aktien und festverzinslichen Anleihen, Beteiligung an Investmentfonds). Immer ist es das Ziel, an den Erfolgen auf den Kapitalmärkten beteiligt zu werden und Renditen zu erzielen. Je höher die mögliche Rendite, umso höher allerdings auch die Risiken. Wie die Erfahrungen zeigen, unterliegt der internationale Kapitalmarkt ausgeprägten Schwankungen; Phasen steigender Kurse werden durch Phasen sinkender Kurse abgelöst. Unkalkulierbar bleibt auf jeden Fall, wie sich die reale Verzinsung entwickelt und wie hoch der Kapitalwert ist, wenn die Bestände aufgelöst, also die Papiere verkauft werden müssen. Im Extrem kann es bei risikoreichen Anlagen zu einem völligen Verlust des Vermögens kommen.

  • Wenn die Menschen durch Sparen Rücklagen bilden, dann geschieht dies nicht nur, um Vorsorge vor sozialen Risiken zu treffen. Sparen ist der übliche Weg, um größere Anschaffungen und Ausgaben tätigen zu können. Dem Sparen steht also immer wieder das "Entsparen" gegenüber. In der Realität konkurrieren dabei unterschiedliche Verwendungszwecke.

  • Der Aufbau eines nennenswerten Vermögens (das also diesen Namen verdient) setzt voraus, dass frühzeitig, d.h. spätestens mit Beginn der Berufstätigkeit regelmäßig Beträge vom laufenden Einkommen abgezweigt werden. Sparen bedeutet also Konsumverzicht. Dazu fehlt es aber oft an Einsicht und Bereitschaft. Zukünftige Bedarfe, zumal für weit entfernt liegende Phasen wie das Alter oder für den Fall von Pflegebedürftigkeit, werden gegenüber gegenwärtigen Bedarfen unterschätzt oder minder gewichtet. Bei Freiwilligkeit der Vorsorge kann also nur mit einer begrenzten Vorsorgebereitschaft gerechnet werden.

  • Das Problem der subjektiven Bereitschaft zur individuellen Vorsorge fällt zusammen mit dem Problem der objektiven Fähigkeit, überhaupt regelmäßig zu sparen. Diese Fähigkeit hängt ab von der Position der Menschen im Erwerbsleben und in der Einkommenshierarchie sowie von den privaten Lebensumständen. Je höher das Erwerbseinkommen, je höher (im Lebenslauf) die berufliche Position, je geringer die Belastungen durch Aufwendungen für Kinder – desto größer ist die Vermögensbildungsfähigkeit. Auch Erbschaften bzw. Schenkungen konzentrieren sich auf das Segment der oberen Einkommen. Die vorliegenden Befunde über die Vermögensverteilung in Deutschland belegen diesen Zusammenhang (vgl. ##). Im Umkehrschluss heißt dies, dass ein großer Teil der Bevölkerung von der Vermögensbildung weitgehend ausgeschlossen ist. Hier handelt es sich insbesondere um jüngere Menschen, Niedrigeinkommensbezieher, Arbeitslose, Menschen mit einer Behinderung, Eltern mit mehreren Kindern, Alleinerziehende und Migranten, wobei sich die Gruppen teilweise überschneiden.

  • Die fehlende Sparfähigkeit eines großen Teils der Bevölkerung äußert sich in der hohen Verschuldungsquote privater Haushalte. In einer solchen Situation führt ein sozialpolitisch nicht abgesicherter Einkommensausfall zur Unfähigkeit, den Zins- und Tilgungsverpflichtungen nachkommen zu können. Es kommt zur Situation der Überschuldung.

Das Problem des im Einzelfall nicht vorhersehbaren Risikoeintritts und des nicht vorher bestimmbaren Bedarfs an Mitteln kann über den Weg einer Versicherung gelöst werden. Aber längst nicht alle Wechselfälle im Lebensverlauf lassen sich über eine Versicherung absichern. Ein Einkommensausfall als solcher oder eine fehlende Erwerbsfähigkeit sind nicht versicherungsfähig. Das gilt auch für besondere Einkommensbedarfe in spezifischen Lebenssituationen, wie z.B. Belastungen durch Kindesunterhalt oder hohe Wohnkosten.

Bei einer Privatversicherung berechnet sich die Höhe der individuellen Prämienleistungen an der Wahrscheinlichkeit des individuellen Risikoeintritts. Die Orientierung der Beiträge am individuellen Risiko hat zur Folge, dass "schlechte Risiken" hohe Prämien, "gute Risiken" dagegen niedrige Prämien zahlen müssen. Zu den "schlechten Risiken" zählen bei einer privaten Krankenversicherung u.a. Personen mit Vorerkrankungen, Versicherte, die erst im höheren Lebensalter einen Vertrag abschließen, Menschen mit Behinderungen. Die risikobezogene Prämienkalkulation richtet sich nicht nach der Zahlungsfähigkeit bzw. nach dem Einkommen. Innerhalb einer jeweiligen Risikoklasse müssen Personen, die kein oder nur ein geringes Einkommen haben, die identischen Prämien zahlen wie Personen mit einem hohen Einkommen. Die Belastungsquote steigt also mit sinkendem Einkommen.

Eine Privatversicherung versichert nur individuelle Risiken, nicht aber Personengemeinschaften bzw. Familien. So muss in der privaten Krankenversicherung bei einer Familie mit mehreren Kindern für jedes Kind ein Versicherungsvertrag mit einer individuellen Prämienberechnung geschlossen werden.

Risiko- und individualorientierte Prämienkalkulation führen im Ergebnis zu einer sozialen Selektion, da sich "schlechte Risiken" und niedriges Einkommen überlagern. Beschäftigte im unteren Einkommenssegment werden deshalb bei einer privaten Versicherung finanziell überfordert – mit der Folge eines fehlenden oder nur unzureichenden Schutzes. Im besonderen Maße benachteiligt sind Personen, die über kein eigenes Einkommen verfügen, sei es wegen Arbeitslosigkeit, Kindererziehung, Ausbildung oder dauerhafter Erwerbsminderung.

Insofern verstärken die genannten Strukturmerkmale einer privaten und privatwirtschaftlichen Absicherung von sozialen Risiken die Einkommensungleichheit in der Gesellschaft.

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Gerhard Bäcker, Prof. Dr., geboren 1947 in Wülfrath ist Senior Professor im Institut Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen. Bis zur Emeritierung Inhaber des Lehrstuhls "Soziologie des Sozialstaates" in der Fakultät für Gesellschaftswissenschaften der Universität Duisburg-Essen. Forschungsschwerpunkte: Theorie und Empirie des Wohlfahrtsstaates in Deutschland und im internationalen Vergleich, Ökonomische Grundlagen und Finanzierung des Sozialstaates, Systeme der sozialen Sicherung, insbesondere Alterssicherung, Arbeitsmarkt und Arbeitsmarktpolitik, Lebenslagen- und Armutsforschung.

Ernst Kistler, Prof. Dr., geboren 1952 in Windach/Ammersee ist Direktor des Internationalen Instituts für Empirische Sozialökonomie, INIFES gGmbH in Stadtbergen bei Augsburg. Forschungsschwerpunkte: Sozial- und Arbeitsmarktberichterstattung, Demografie, Sozialpolitik, Armutsforschung.