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Weltbevölkerung und globale Migrationsverhältnisse | Hintergrund aktuell | bpb.de

Weltbevölkerung und globale Migrationsverhältnisse

Jochen Oltmer

/ 8 Minuten zu lesen

Die Weltbevölkerung wird auch in den kommenden Jahrzehnten weiter ansteigen. Aber mit welcher Dynamik? Und was folgt daraus für die weltweiten Migrationsbewegungen? Zum diesjährigen internationalen Tag der Weltbevölkerung wirft Jochen Oltmer einen Blick in die Zukunft der globalen Migrationsverhältnisse.

Pendler an einem Bahnhof in Mumbai, Indien. (© picture-alliance/AP)

Immer mehr Menschen

Nach Angaben der Interner Link: Vereinten Nationen bevölkerten im Jahr 1960 rund drei Milliarden Menschen die Erde. Die Weltbevölkerung erreichte 1974 die Marke von vier Milliarden und 1987 von fünf Milliarden. Ende des 20. Jahrhunderts umfasste sie schließlich sechs Milliarden, im Jahr 2017 betrug sie rund 7,6 Milliarden. Legt man ein mittleres Szenario zugrunde, wird sie nach UN-Berechnungen 2030 einen Umfang von 8,5 Milliarden erreichen. 2050 dürfte sie wohl bei 9,8 Milliarden liegen und 2100 bei 11,2 Milliarden. Die Entwicklung Weltbevölkerung kennzeichnen gegenwärtig und in den kommenden Jahrzehnten zwei Trends, die gegensätzlicher nicht sein könnten: Im (relativ) reichen Norden der Welt wird die Bevölkerung wegen der niedrigen Geburtenrate stagnieren. Außerdem wird die Bevölkerung immer älter werden, weil der Anteil junger Menschen abnimmt und die Lebenserwartung weiter ansteigt. Im (relativ) armen Süden hingegen nimmt der Umfang der Bevölkerung erheblich zu, und der Anteil der jungen Menschen wächst.

Der weitere Anstieg der Weltbevölkerung wird dementsprechend auch in der Zukunft beinahe ausschließlich durch das Wachstum in den Ländern mit einer ärmeren und armen Bevölkerung hervorgerufen. In diesen Ländern lebten 2017 rund sechs Milliarden Menschen, 2050 wohl rund 8,4 Milliarden. Die Bevölkerung der 47 am wenigsten entwickelten Staaten der Welt, von denen 33 in Afrika liegen, wird sich dabei von derzeit 1 Milliarde auf 1,9 Milliarden im Jahr 2050 verdoppeln und bis 2100 auf 3,2 Milliarden ansteigen.

Die Weltbevölkerung wächst, aber langsamer

Das Tempo des Bevölkerungswachstums verlangsamt sich allerdings: Hintergrund ist die fortschreitende weltweite Angleichung der Geburtenraten. 2010–2015 brachten Frauen weltweit durchschnittlich 2,5 Kinder zur Welt. Dieser Wert wird den Vorausberechnungen der UN zufolge nach einem mittleren Szenario 2025–2030 auf 2,4 und bis 2095–2100 auf 2,0 deutlich absinken. In den am wenigsten entwickelten Ländern weltweit lauten diese Zahlen folgendermaßen: 2010–15: 4,3, 2025–30: 3,5 und 2095–2100: 2,1 – damit wäre zum Ende des Jahrhunderts die durchschnittliche Kinderzahl pro Frau, die in den weltweit am wenigsten entwickelten Ländern leben, erheblich auf das globale Durchschnittsniveau zurückgegangen. Die beiden bevölkerungsreichsten Staaten der Erde werden sich laut diesem Szenario unterschiedlich entwickeln: Voraussichtlich im Jahr 2024 dürften in Interner Link: Indien mehr Menschen leben als in Interner Link: China. Die chinesische Bevölkerung soll zu diesem Zeitpunkt nicht mehr wachsenvielmehr ab 2030 sogar sinken. Dies ist eine Folge der seit Anfang der 1980er-Jahre durchgesetzten Ein-Kind-Politik (die 2015 offiziell beendet wurde). Die Bevölkerung Indiens wird hingegen erst frühestens ab 2050 in eine Stagnationsphase eintreten.

Immer mehr Migrantinnen und Migranten?

2015 gab es nach Angaben der UN weltweit 244 Millionen Menschen, die seit mehr als einem Jahr in einem Staat lebten, in dem sie nicht geboren worden waren. Das entsprach einem Anteil von 3,3 Prozent der Weltbevölkerung. Diese Zahl gibt allerdings keine Auskunft über die Dynamik der Interner Link: weltweiten Migration, weil sie nur den Umfang der Aufenthalte in anderen Staaten dokumentiert, nicht aber das Hin und Her der grenzüberschreitenden Bewegungen. Vielfach wird behauptet, das Niveau der globalen Migrationen sei in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten vor dem Hintergrund einer beschleunigten Globalisierung deutlich angestiegen – und werde zukünftig weiter ansteigen. Diese Annahme lässt sich nicht bestätigen. Wie das "Vienna Institute of Demography" in einer aufwändigen Studie ermittelte, welche die Zu- und Abwanderungen für 196 Staaten weltweit je einzeln erschlossen hat, können für die vergangenen mehr als fünf Jahrzehnte keine erheblichen Veränderungen ausgemacht werden: Der Anteil der Migranten an der Weltbevölkerung lag innerhalb von Fünf-Jahres-Perioden seit 1960 recht stabil bei je 0,6 Prozent. Das heißt in absoluten Zahlen beispielsweise für die Jahre von 2005 bis 2010: 41,5 Millionen grenzüberschreitende Migrationen bei einer Weltbevölkerung von rund 7 Milliarden. Nur im Zeitraum von 1990 bis 1995 erreichte der Anteil der Migranten mit 0,75 Prozent einen leicht höheren Wert, der vor allem mit den migratorischen Folgen der Öffnung des "Interner Link: Eisernen Vorhangs" und den weitreichenden Transformationen durch den Interner Link: Zusammenbruch der Sowjetunion sowie anderer politischer Systeme vor allem im östlichen Europa erklärt werden kann.

Auffällig sind an diesen Daten nicht nur das relativ niedrige Niveau der zwischenstaatlichen Migration und die ausgeprägte Stabilität über Jahrzehnte. Darüber hinaus zeigt sich auch, dass der größte Teil der Bewegungen innerhalb von Weltregionen wie Westafrika, Südamerika oder Ostasien stattfindet. Migration, welche die Grenzen von Kontinenten überschreitet, fällt dagegen kaum ins Gewicht. Selbst ein Staat wie die Bundesrepublik Interner Link: Deutschland, der seit 2010 relativ starke Zu- und Abwanderungen erlebt, verzeichnete weit überwiegend Bewegungen aus Europa: Mindestens drei Viertel aller Zuwanderer der frühen 2010er Jahre kamen aus anderen europäischen Staaten, eine Ausnahme bildete allerdings das Interner Link: Jahr 2015 wegen des deutlichen Anstiegs der Zuwanderung von Schutzsuchenden insbesondere aus dem Nahen und Mittleren Interner Link: Osten.

Entgegen verbreiteter Vorstellungen: Süd-Nord-Migration auf niedrigem Niveau

Festhalten lässt sich auch, dass der Umfang der Zuwanderungen aus dem ärmeren Süden der Welt in den reicheren Norden in den vergangenen Jahrzehnten relativ gering war und voraussichtlich in den kommenden Jahren nicht signifikant ansteigen wird – eine Feststellung, die den Vorstellungen über die vermeintliche Bedrohung "westlicher" Gesellschaften durch Massenzuwanderungen aus anderen Weltregionen widerspricht. Im Jahr 2014 erreichten beispielsweise nur rund 75.000 Zuwanderer aus afrikanischen Staaten die Bundesrepublik Deutschland, 27.000 wanderten zugleich nach Afrika ab.

Verantwortlich für das relativ niedrige Niveau globaler Süd-Nord-Migration sind vornehmlich drei Aspekte: Armut, die lokale Bindung von Ressourcen und restriktive Migrationspolitiken. Finanzielle Mittel bilden eine wesentliche Voraussetzung für die Entwicklung eines individuellen Migrationsprojekts: Reisekosten fallen an, irregulär Einreisende müssen in der Regel Schlepper teuer bezahlen. Zudem können Migranten nach der Ankunft in einem Zielland meist nicht sofort eine bezahlte Tätigkeit aufnehmen. Anfangsinvestitionen sind nötig, Sparkapital wird verbraucht, Geld muss geliehen werden. Für einen Großteil der Bewohner der Welt ist die Umsetzung eines solchen Migrationsprojekts über größere und große Distanzen illusorisch. Zahlreiche Studien belegen: Armut schränkt die Bewegungsfähigkeit massiv ein. Auch deshalb verfügt ein Großteil der Zuwandernden, die in den vergangenen Jahren Europa aus Afrika kommend erreichten, über einen relativ guten finanziellen Hintergrund und über eine gute Ausbildung oder einen vergleichsweise hohen Bildungsstand. Darüber hinaus sind die Ressourcen vieler Menschen lokal gebunden, sodass die Möglichkeiten und Perspektiven einer (zumal dauerhaften) Abwanderung eher gering sind: Das gilt für Bodenbesitz, der sich ebenso nicht über Distanzen transferieren lässt wie bestimmte berufliche Qualifikationen oder Bildungsabschlüsse, die nur im Herkunftsland anerkannt sind. Eine Migration würde dann zu einer De-Qualifizierung führen. Hinzu treten soziale Bindungen vor Ort: Sind die verwandtschaftlich-bekanntschaftlichen Netzwerke eines Menschen vornehmlich lokal verankert, ist eine Migration unwahrscheinlich. Das bedeutet umgekehrt: Vor dem Hintergrund einer relativ geringen globalen Süd-Nord-Migration in der jüngeren Vergangenheit ist die Zahl der Pioniermigranten sowie der Umfang verwandtschaftlich-bekanntschaftlichen Netzwerke, die Kontinente überschreiten, und damit das verlässliche Wissen über die Chancen im reichen globalen Norden im größten Teil der ärmeren Bevölkerung der Welt recht gering. Auch diese Faktoren halten die Zahl der Süd-Nord-Migranten auf einem niedrigen Niveau.

Gesucht: Fachkräfte und Hochqualifizierte

Relativ offen sind die Grenzen im globalen Norden im Wesentlichen nur für Fachkräfte beziehungsweise für Hochqualifizierte, die meist ebenfalls aus dem globalen Norden kommen. Die auch in der Bundesrepublik Deutschland laufenden Diskussionen um die Zukunft der alternden Gesellschaften des reichen Nordens verdeutlichen, dass sich an einer solchen Orientierung auf qualifizierte und hochqualifizierte Zuwanderer wohl in den kommenden Jahren und Jahrzehnten wenig ändern wird: Weder die für eine alternde Gesellschaft angenommenen Herausforderungen einer sinkenden wirtschaftlichen Produktivität und ökonomischen Innovationsfähigkeit noch die Rekrutierung von Interner Link: Pflegekräften oder ärztlichem Personal für eine Bevölkerung, deren Altersdurchschnitt kontinuierlich steigt und in der altersbedingte Erkrankungen unaufhaltsam zunehmen werden, lassen sich durch die Zuwanderung Nicht- oder Geringqualifizierter kompensieren.

Die ökonomisch führenden Staaten der Welt haben migrationspolitische Muster durchgesetzt, die auf eine strikte Kontrolle von Zuwanderung zielen: Das sind zum einen die restriktiven Visa- und Einreisebestimmungen gegenüber potenziellen Zuwanderern, die nicht aufgrund von hoher Qualifikation oder Besitz als begehrte Träger von ("Human"-)Kapital gelten. Zum andern sind es auch Verträge mit Herkunftsländern, die vor allem darauf ausgerichtet sind, die Rückkehr jener Zuwanderer zu garantieren, die aus ökonomischen Gründen für zeitweilig erforderlich erachtet werden.

Ausblick: Auch zukünftig suchen Menschen Chancen andernorts

Ein solcher Befund widerspricht nicht der Beobachtung, dass Migration weiterhin für Individuen, Familien und Kollektive ein Mittel der Reaktion auf wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Veränderungen und der Wahrnehmung von Chancen ist. Restriktive Regelungen können Wanderungen nicht gänzlich verhindern. Ökonomisch prosperierende Regionen ziehen weiterhin Menschen an und Zuwanderer tragen, wie zahlreiche Studien belegen, zu ihrer Prosperität bei. Auch die ökonomische Bedeutung von Migration für die Herkunftsländer im globalen Süden ist weiterhin hoch. 2016 lagen die Geldüberweisungen, die Migranten an ihre Verwandten allein in den "Entwicklungsländern" schickten, nach Schätzungen der Weltbank bei mindestens 430 Milliarden US-Dollar. Die Beträge übertrafen damit den Umfang der staatlichen Zahlungen im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit um fast das Dreifache. Geldüberweisungen von Migranten können ein hohes Gewicht für Herkunftsfamilien und -regionen haben. Sie eröffnen Bildungschancen und sorgen für die Verbesserung der Gesundheitsversorgung. Allerdings können sie auch neue Ungleichheiten mit sich bringen, die Inflation befördern oder zu einer Fixierung auf Erwerbsmöglichkeiten andernorts führen, die Potenziale vor Ort vernachlässigt.

Migration verspricht auch in Zukunft ein Thema intensiver gesellschaftlicher Debatten und politischer Gestaltungsperspektiven zu bleiben. Das beweist das intensive Interesse an Stellungnahmen über mögliche migratorische Effekte in Bezug auf den Klimawandel oder den Mangel an Fachkräften innerhalb zunehmend komplexerer und international eng vernetzter ›Wissensgesellschaften‹. Gegenwart und Zukunft Deutschlands, Europas und der Welt lassen sich mithin nur unter Berücksichtigung des Wandels der Migrationsverhältnisse zureichend beschreiben.

Dieser Text ist Teil des Kurzdossiers Interner Link: "Globale Migration in der Zukunft".

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Dr. phil. habil., geb. 1965, ist Apl. Professor für Neueste Geschichte und Vorstand des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück.


Der Autor dankt Vera Hanewinkel, Kristina Jäger und Martha Quis für intensive Recherchen sowie viele Hinweise und Anregungen. E-Mail: E-Mail Link: joltmer@uni-osnabrueck.de