Mindestlöhne: Hintergründe und Positionen
Die abnehmende Tarifbindung, tarifvertragliche Vereinbarungen auf niedrigem Niveau, die Zahl von Vollzeitarbeitnehmern, die ergänzend auf Arbeitslosengeld II angewiesen sind, sowie entsprechende Regelungen weltweit und in der Mehrzahl der europäischen Länder haben auch in Deutschland zu einer politischen und wissenschaftlichen Diskussion um die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns geführt. Alle im Bundestag vertretenen Parteien treten unterdessen für Mindestlohnregulierungen ein. Unterschiedliche Positionen gibt es hinsichtlich der Gestaltung und der Höhe. Im Koalitionsvertrag haben sich CDU/CSU und SPD auf Schritte hin zu einem flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn geeinigt.
Was ist ein gesetzlicher Mindestlohn?
Ein gesetzlicher Mindestlohn definiert die Untergrenze der Bezahlung für abhängig Beschäftigte. Diese Untergrenze darf kein Arbeitgeber unterschreiten. Eine Mindestlohnregelung kann sich sowohl auf einen Stundensatz als auch auf einen Monatslohn bei Vollzeitbeschäftigung beziehen. Deutschland gehört innerhalb der EU zu einer Minderheit von Ländern, die noch keinen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn haben. Gleichwohl gibt es bereits Mindestlohnregelungen in einigen Branchen. Der Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD sieht allerdings vor, zum 1. Januar 2015 einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn einzuführen. Allerdings soll es bis Ende 2016 Ausnahmeregelungen (alle Tarifverträge mit Stundenentgelten unter 8,50 Euro gelten solange weiter) geben. Ab 1. Januar 2017 soll das bundesweit gesetzliche Mindestlohnniveau uneingeschränkt gelten. Laut Koalitionsvertrag ist konkret folgender Ablauf geplant:”
Einführung einer allgemeinen gesetzlichen Mindestlohnregelung laut Koalitionsvertrag der CDU/CSU/SPD
Tarifliche Abweichungen sind unter den folgenden Bedingungen möglich:
- Abweichungen für maximal zwei Jahre bis 31.12.2016 durch Tarifverträge repräsentativer Tarifpartner auf Branchenebene.
- Ab 1.1.2017 gilt das bundesweite gesetzliche Mindestlohnniveau uneingeschränkt.
- Zum Zeitpunkt des Abschlusses der Koalitionsverhandlungen geltende Tarifverträge, in denen spätestens bis zum 31.12.2016 das dann geltende Mindestlohnniveau erreicht wird, gelten fort.
- Für Tarifverträge, bei denen bis 31.12.2016 das Mindestlohnniveau nicht erreicht wird, gilt ab 1.1.2017 das bundesweite gesetzliche Mindestlohnniveau.
- Um fortgeltende oder befristete neu abgeschlossene Tarifverträge, in denen das geltende Mindestlohnniveau bis spätestens zum 1.1.2017 erreicht wird, europarechtlich abzusichern, muss die Aufnahme in das AEntG bis zum Abschluss der Laufzeit erfolgen.


Mindestlöhne: In Europa üblich
Weltweit existiert in 60 Prozent der Länder ein nationaler Mindestlohn. In Europa gibt es in fast allen Ländern einen gesetzlichen Mindestlohn. In der EU haben 21 der 28 Länder gesetzliche Mindestlohnregelungen. Über keine gesetzlichen Mindestlöhne verfügen in der EU Deutschland, Dänemark, Italien, Schweden, Finnland, Österreich und Zypern. Außer Deutschland haben diese Länder jedoch andere, gleichwertige Regelungen oder eine sehr hohe Tarifbindung. Vor allem in den skandinavischen Staaten und in Österreich wird aufgrund des hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrades (über 80 Prozent) fast jeder Arbeitnehmer von tarifvertraglichen Regelungen erfasst.Die Höhe der Mindestlöhne differiert dabei stark. Deutliche Unterschiede gibt es insbesondere zwischen den "alten" und den "neuen" EU-Mitgliedsstaaten. Die höchsten Mindestlöhne haben Luxemburg, Frankreich, Belgien und die Niederlande.


Betrachtet man das Verhältnis des Mindestlohns zum nationalen Lohngefüge, hier als Prozentsatz des Mindestlohns zum nationalen Medianlohn (so genannter "Kaitz-Index") zeigt sich in der Rangfolge der europäischen Länder ein deutlich anderes Bild. Einschränkend muss allerdings hinzugefügt werden, dass die entsprechenden von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) veröffentlichten Daten auf nicht-harmonisierten nationalen Datenquellen basieren und daher lediglich als Näherungswerte angesehen werden können.


Mindestlohn für alle?
In vielen Ländern gibt es für bestimmte Personengruppen Sonderregelungen beim Mindestlohn. Beispielsweise gibt es in Belgien eine Altersstaffelung (ähnliche Altersstaffelungsregelungen gibt es z.B. auch in Irland und den Niederlanden). Der Mindestlohn für 16jährige beträgt 70% und steigt dann mit jedem Lebensjahr um 6 Prozentpunkte an. Mit 21 Jahren sind dann 100 Prozent des Mindestlohns erreicht. In anderen Ländern unterscheidet sich der Mindestlohn für bestimmte Gruppen. So gibt es in Ungarn einen gesonderten Mindestlohn für Arbeitnehmer, die eine Ausbildung abgeschlossen haben. In Großbritannien gilt der Mindestlohn für Häftlinge und Obdachlose nicht, in Tschechien ist der Mindestlohn für behinderte Menschen geringer.Aktuell (Januar 2014) wird auch in Deutschland diskutiert, ob und wenn ja, welche Gruppen von der Mindestlohnregelung ausgenommen werden sollen. Insbesondere die CDU/CSU aber auch die Arbeitgeberverbände möchten für verschiedene Arbeitnehmergruppen Ausnahmeregelungen festlegen. Diskutiert werden Ausnahmeregelungen für geringfügig Beschäftigte (Mini-Jobber), Rentner, Schüler, Studenten, Praktikanten, Langzeitarbeitslose, Saisonkräfte und Hilfsarbeiter. Im Koalitionsvertrag wird aber nur eine Gruppe genannt, für die Sonderregelungen zu prüfen sind: Saisonarbeiter.
Per se nicht unter die Mindestlohnregelung werden in Deutschland Auszubildende fallen, da sie im Sinne eines Berufsbildungsvertrages eine festgeschriebene Ausbildungsvergütung erhalten, sowie Praktikanten, die sich noch in einer schulischen Ausbildung oder in einem Studium befinden. Wenn mit diesen beiden Ausnahmen alle anderen Personengruppen unter die Mindestlohnregelung fallen, wären etwa 5,2 Mio. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer (15% aller; Daten aus dem Jahr 2012) betroffen. Bis zum Jahr 2015 würden aber allein wegen Lohnsteigerungen etwa 700.000 Arbeitnehmer über die Grenze von 8,50 Euro rutschen.
Entwicklung in Deutschland
In Deutschland gibt es einen tariflichen Branchenmindestlohn in verschiedenen Branchen seit 1996. Damals ist das Arbeitnehmerentsendegesetz erlassen worden. Ursprüngliches Ziel des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes war der Wettbewerbsschutz für einheimische Beschäftigte und deren Arbeitgeber, indem es zwingende Arbeitsbedingungen für Arbeitnehmer, die von im Ausland ansässigen Arbeitgebern zur grenzüberschreitenden Erbringung von Dienstleistungen nach Deutschland entsandt werden, per Allgemeinverbindlicherklärung festschrieb. Die Allgemeinverbindlichkeit kann nur im Einvernehmen mit den Spitzenorganisationen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer erklärt werden.Das Entsendegesetz legt fest, dass Tarifverträge eingehalten werden und entsprechend Löhne nach Tarif bezahlt werden. Notwendige Voraussetzung ist, dass es überhaupt einen Tarifvertrag gibt. Nicht in allen Branchen werden Tarifverträge abgeschlossen, die bundesweit gelten, so beispielsweise in der Landwirtschaft oder im Hotel- und Gaststättengewerbe – also gerade in Branchen, in denen eher geringere Löhne gezahlt werden.
Selbst eine Ausweitung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes auf weitere Branchen könnte daher in vielen Branchen mangels eines Tarifvertrags nicht zu einem rechtsverbindlichen Mindestlohn führen.
Mindestlöhne nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz gibt es derzeit (Stand Januar 2014) in 11 Branchen. Die Tabelle zeigt die Wirtschaftsbereiche mit Mindestlöhnen, die Zahl der dort Beschäftigten sowie eine Differenzierung nach West- und Ostdeutschland. Berlin wird in einigen Branchen Ost, in anderen West zugerechnet. Berliner Fachwerker/Maschinisten/Kraftfahrer im Baugewerbe haben einen gesonderten Mindestlohn, der etwas unterhalb des Mindestlohns West liegt. In einigen weiteren Branchen gab es Mindestlohnverordnungen, die unterdessen ausgelaufen sind. Dies betrifft die Wäschereidienstleistungen im Objektkundengeschäft, die Leiharbeit, Sicherheitsdienstleistungen und das Dachdeckerhandwerk.
Am 1. Januar 2014 geltende allgemeinverbindliche tarifliche Mindestlöhne nach Branchen
Branche | Mindestlohn West | Mindestlohn Ost | Anzahl der Beschäftigten |
---|---|---|---|
Abfallwirtschaft | 8,68€ | 8,68€ | 175.000 |
Aus- und Weiterbildung | 13,00€ | 11,65€ | 22.500-26.000 |
Baugewerbe | 11,10€ (Werker, Maschinenwerker) 13,95€ (Fachwerker, Maschinisten, Kraftfahrer) | 10,50€ | 578.000 |
Bergbauspezialarbeiter auf Steinkohlebergwerken | 11,92€ (Werker, Hauer) 13,24€ (Hauer, Facharbeiter mit Spezialkenntnissen) | 11,92€ (Werker, Hauer) 13,24€ (Hauer, Facharbeiter mit Spezialkenntnissen) | 2.500 |
Elektrohandwerk (Montage) | 10,00€ | 9,10€ | 230.000 |
Friseurhandwerk | 7,50€ | 6,50€ | 190.000 |
Gebäudereinigung | 9,31€ (u.a. Innen- und Unterhaltsreinigungs-arbeiten) 12,33€ (u.a. Glas- und Fassadenreinigung) | 7,96€ (u.a. Innen- und Unterhaltsreinigungs-arbeiten) 10,31€ (u.a. Glas- und Fassadenreinigung) | 920.000 |
Gerüstbauerhandwerk | 10,00€ | 10,00€ | 20.000 |
Maler- und Lackiererhandwerk | 9,90€ (ungelernte) 12,15€ (gelernte, Gesellen) | 9,90€ | 138.000 |
Pflegebranche | 9,00€ | 8,00€ | 800.000 |
Steinmetz- und Steinbildhauerhandwerk | 11,00€ | 10,13€ | 13.100 |
Quelle: BMAS
Bundesländer und Mindestlöhne
Bremen hatte als erstes Bundesland ein Landesmindestlohngesetz beschlossen (in Kraft seit 1.9.2012). Das Gesetz legt ein Entgelt von mindestens 8,50 Euro pro Stunde fest.Die Gültigkeit des Gesetzes ist aber begrenzt. Für private Unternehmen gilt der Landesmindestlohn nicht, da einem Bundesland hierfür die Gesetzgebungskompetenz fehlt. Es gilt dagegen für alle Beschäftigten in Betrieben, die öffentliche Aufträge ausführen. Gleiches wird den Mitarbeitern der eigenen Landesunternehmen garantiert. Die Regelung gilt auch für Organisationen und Sozialverbände, die Zuwendungen vom Land Bremen erhalten. Ein fast gleich lautendes Mindestlohngesetz hat mit Wirkung seit dem 10.6.2013 als zweites Bundesland Hamburg beschlossen. Auch hier ist ein Entgelt von mindestens 8,50 Euro festgelegt worden. Für die Vergabe öffentlicher Aufträge haben inzwischen die Mehrheit der Bundesländer Mindestlohnregelungen eingeführt.
Am 1.3.2013 hatten sieben Bundesländer (Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein) einen Gesetzentwurf in den Bundesrat eingebracht, der die Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns vorsah. Mit der Großen Koalition im Bund und ihren gemeinsamen Plänen zur Einführung eines Mindestlohns ist die Bundesratsinitiative nunmehr obsolet.
Pro und Contra
Der Mindestlohn war ein zentrales Thema im letzten Wahlkampf. SPD und Grüne setzten sich für einen gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 ein; die LINKE für einen Mindestlohn von 10 Euro und CDU und FDP für regional differenzierte tarifliche Branchenmindestlöhne.Gegner eines Mindestlohns sehen in ihm eine Regulierung, die zwangsläufig zu Arbeitsplatzverlusten führen müsse, da ein Mindestlohn einfache Arbeit zu teuer mache. Sie befürchten auch drastische Auswirkungen auf Tarifverhandlungen, da über den einmaligen Lohnschub hinaus, ein jährliches Hochsetzen der Lohnuntergrenze die Tarifverhandlungen präjudizieren und so die Löhne in einem breiten Spektrum zusätzlich nach oben treiben könnte. Insbesondere die Wirtschaftsinstitute sehen einen Mindestlohn überwiegend kritisch. Der ehemalige Präsident des ZEW und bis Februar 2013 Vorsitzender des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung („Wirtschaftsweise“) Wolfgang Franz meint gar: "Über kaum einen anderen Sachverhalt besteht in der Volkswirtschaftslehre so viel Einigkeit wie über die schädlichen Wirkungen von Mindestlöhnen." In der neoklassischen Theorie, der die Mehrheit deutscher Wirtschaftsinstitute folgt, führen Mindestlöhne oberhalb des markträumenden Lohns zu Arbeitslosigkeit. Ein einheitlicher Mindestlohn, der über dem markträumenden Lohn für gering qualifizierte Arbeitskräfte liegt, führt mithin zu Arbeitslosigkeit in dieser Qualifikationsgruppe. Nach der neoklassischen Theorie liegt die bislang schon deutlich höhere Arbeitslosigkeit bei gering Qualifizierten an ihrem im Vergleich zu ihrer Grenzproduktivität zu hohem Lohn. Um Arbeitslosigkeit unter gering Qualifizierten zu verringern, müsste der Lohn entsprechend gesenkt und nicht mit Hilfe eines Mindestlohns noch erhöht werden.
”
Deutsche Bank Research
Ein Mindestlohn würde vor allem die Beschäftigungsperspektiven von Problemgruppen trüben, die schon heute überdurchschnittlich von Arbeitslosigkeit betroffen sind. In strukturschwachen Regionen dürfte ein Mindestlohn von EUR 8,50 den Aufbau neuer Stellen stark behindern und auch zum Abbau bestehender Arbeitsplätze führen. Prinzipiell widerspricht ein Mindestlohn dem zentralen Anliegen der Hartz-Reformen, Problemgruppen über ein Niedriglohnsegment in den Arbeitsmarkt zurückzubringen. Stattdessen dürfte dieses Beschäftigungspotenzial durch Verlagerung ins Ausland (Offshoring) oder Expansion der Schattenwirtschaft verlorengehen. Wenn Gesellschaft und Politik die aus Marktprozessen resultierende Einkommensverteilung korrigieren wollen, sollte dies mittels Steuern und Transferzahlungen geschehen, statt durch Eingriffe in die Tarifautonomie.
Deutsche Bank Research: Standpunkt Deutschland: Mindestlohn von Eur 8,50: Eine falsche Weichenstellung; 1. November 2013.
Der Präsident des Ifo-Instituts Hans-Werner Sinn befürchtet bei einem flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro den Verlust von einer Million Arbeitsplätze. Auch für den Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung wirken Mindestlöhne als Sperrklinken, die vor allem die Beschäftigungschancen von Jugendlichen, Langzeitarbeitslosen und Geringqualifizierten reduzieren.
Im März 2008 gab es einen Aufruf der Chefs der Wirtschaftsinstitute, wonach ein Mindestlohn (in Höhe der damals diskutierten 7,50 Euro) das erfolgreiche System der marktwirtschaftlichen Ordnung in seinen Grundfesten beschädigt. Die Gewerkschaften konterten mit dem Verweis auf (damals) 20 EU-Staaten, die einen gesetzlichen Mindestlohn eingeführt haben, ohne einen Zusammenbruch erlebt zu haben.
”
Petersburger Erklärung
Auch wenn es den Unternehmen gelingt, die höheren Arbeitskosten großenteils auf die Preise zu überwälzen, hätte dies gravierende Auswirkungen, weil die Nachfrage bei steigenden Preisen sinkt. Häufig sind jedoch die Möglichkeiten begrenzt, erhöhte Arbeitskosten auf die Preise zu überwälzen. Dann werden die Unternehmen mit verstärkter Rationalisierung reagieren, also Arbeitskräfte durch Maschinen austauschen, oder mit der Verlagerung von Produktionsstätten, wenn die heimische Nachfrage nach den entsprechenden Gütern und Leistungen auch aus dem Ausland befriedigt werden kann, wo zu niedrigeren Löhnen produziert wird. Haushalte können zudem verteuerte Dienstleistungen durch Waren oder Schwarzarbeit ersetzen. So oder so – der Mindestlohn führt zu erheblichen Beschäftigungsverlusten. Diese Beschäftigungsverluste sind im Westen unseres Landes erheblich. Im Osten werden sie erschütternde Ausmaße annehmen.
(Petersburger Erklärung) Gemeinsamer Aufruf der Präsidenten und Direktoren der Wirtschaftsforschungsinstitute vom 12. März 2008
Volkswirte in anderen Ländern haben hierzu allerdings in der Mehrzahl eine andere Meinung. So forderten im Oktober 2006 650 amerikanische Ökonomen, darunter 5 Nobelpreisträger, eine Erhöhung des Mindestlohnes. Insgesamt nimmt die Zahl der Kritiker von Mindestlöhnen sowohl auf Seiten der Politik als auch seitens der Wissenschaft kontinuierlich ab. Die Befürworter eines Mindestlohnes verweisen auf höhere Anreize zur Arbeitsaufnahme, eine bessere Einkommenssituation in den untersten Lohngruppen und geringere gesellschaftliche Spannungen mit weiterer sozialer Erosion. Unfairer Wettbewerb durch Billiglohnkonkurrenz, insbesondere nach der Dienstleistungsfreiheit in der EU seit 1. Mai 2011, werde zurückgedrängt. Der Expansion der Niedriglohnbeschäftigung soll durch einen Mindestlohn ein wirksamer Riegel vorgeschoben werden. Nach einer PROGNOS-Studie würde ein Mindestlohn von 8,50 Euro über höhere Arbeitsentgelte zu über 7 Milliarden Euro zusätzlichen Staatseinnahmen führen.
Wirkungen
Neoklassische Ökonomen argumentieren, dass ein Mindestlohn, der oberhalb des Gleichgewichtspreises liegt, die Nachfrage nach Arbeit negativ beeinflusst. Unternehmen stellen niemanden ein, der mehr kostet, als er erwirtschaftet. Kritiker der neoklassischen Theorie weisen dagegen darauf hin, dass viele Unternehmen nicht die Löhne zahlen, die der Grenzproduktivität der Beschäftigten entsprechen. Die Beschäftigungswirkungen von Mindestlöhnen sind allerdings nur sehr schwer zu berechnen. Die Effekte eines Mindestlohns sind theoretisch unbestimmt und hängen von Parametern wie der Marktstruktur, Arbeitsmarktinstitutionen und natürlich von der Höhe des Minimallohns ab. Ein allgemeiner Mindestlohn wird deshalb unterschiedliche Wirkungen auf verschiedenen Teilarbeitsmärkten entfalten.Die Ergebnisse von wissenschaftlichen Studien zu Beschäftigungseffekten von Mindestlöhnen sind sehr widersprüchlich. Während einige Untersuchungen zu negativen Beschäftigungseffekten kommen, davon manche nur für bestimmte Gruppen wie Jugendliche, kommen andere Untersuchungen zu neutralen, wiederum andere zu positiven Ergebnissen. Dass die Ergebnisse uneinheitlich sind ist durchaus plausibel, da sowohl die Eingriffsintensität des Mindestlohns als auch der jeweilige Arbeitsmarktkontext erheblich variieren. Teilweise stehen auch nur unzureichende Daten zur Verfügung, in denen wichtige Informationen fehlen. Außerdem ist es grundsätzlich schwierig, die kausalen Effekte des Mindestlohns von anderen Einflüssen zu isolieren.
Da es in Deutschland keinen flächendeckenden Mindestlohn gibt, gibt es hier bislang nur Modellrechnungen. Diese prophezeien teilweise gigantische Beschäftigungsverluste von bis zu 1,1 Mio. Arbeitsplätzen, teilweise auch Beschäftigungsgewinne. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass weder aus theoretischer noch aus empirischer Sicht die Beschäftigungswirkungen von Mindestlöhnen eindeutig sind.
Negative Auswirkungen auf das Beschäftigungsniveau wurden nach Einführung der Mindestlöhne in anderen Ländern in Einzelfällen beobachtet. Jobverluste in den Größenordnungen, wie sie hierzulande die neoklassischen Ökonomen prognostizieren, gab es in keinem der Länder. Lediglich für Frankreich kamen Studien zu deutlichen Arbeitsplatzverlusten.
Amerikanische Studien kommen zum Teil sogar zu positiven Beschäftigungseffekten. So ergab eine viel beachtete Analyse von Prof. Michael Reich zur Beschäftigungsentwicklung der Fastfood-Gastronomie in 636 US-Landkreisen, dass die Beschäftigung in den Countys mit steigenden Mindestlöhnen stärker zunahm als in Nachbarkreisen mit niedrigen Entgelten. Metastudien in den USA lassen insgesamt den Befund zu, dass sich durch Mindestlöhne keine signifikanten negativen oder positiven Beschäftigungseffekte erkennen lassen.
Der Mindestlohn in Großbritannien gehört zu dem wohl am besten untersuchten Realexperiment in der jüngeren Wirtschafts- und Sozialgeschichte. In Großbritannien waren bereits 1909 Mindestlöhne installiert worden, unter der Regierung von Margaret Thatcher aber wieder abgeschafft worden. Die Wiedereinführung des Mindestlohnes war eines der zentralen Wahlversprechen der Labour-Partei. Nach ihrem Wahlsieg im Jahr 1997 wurde eine "Low Pay Commission" (LPC) eingerichtet (bestehend aus neun Mitgliedern, je drei mit gewerkschaftlichem und Unternehmerhintergrund sowie drei Wissenschaftlern), die die Wiedereinführung eines Mindestlohnes vorbereitete, später begleitete und evaluierte. Am 1. April 1999 trat der Mindestlohn in Kraft. Zunächst lag er bei 3 Pfund 60, wurde bis Oktober 2006 schrittweise auf 5 Pfund 35 erhöht und lag Ende 2013 bei 6 Pfund 31(bei niedrigeren Sätzen für Beschäftigte unter 22 Jahren). Zentrales Ergebnis der umfangreichen Studien ist, dass der Mindestlohn ein Erfolg ist. Die Beschäftigung in typischen Niedriglohnbereichen hat zugenommen (Einzelhandel, Gastronomie, Pflegeberufe, Reinigungsgewerbe: nach sieben Jahren plus 400.000 Beschäftigte). In Regionen mit besonders vielen schlecht bezahlten Jobs ist kein Arbeitsplatzabbau erfolgt. Betriebe mit einem hohen Anteil an Niedriglohnjobs gerieten nicht überdurchschnittlich in die Insolvenz. Für keine Beschäftigungsgruppe hat sich die Wahrscheinlichkeit, den Job zu verlieren, erhöht (Jugendliche, Erwachsene, Frauen, Männer).
Im aktuellsten Bericht stellt die Low Pay Commission erneut fest, dass der flächendeckende Mindestlohn seit Einführung im Jahr 2001 keine signifikanten negativen Effekte gehabt habe. In Deutschland wurden im Rahmen groß angelegter Evaluationsstudien die Wirkungen branchenspezifischer Lohnuntergrenzen (in acht Branchen mit unterschiedlichen Mindestlöhnen zwischen 7 und 11,53 Euro) untersucht. Die auf Mikrodaten beruhenden Evaluationsstudien, in denen die Beschäftigungseffekte mithilfe von Kontrollgruppen untersucht werden konnten, kamen alle zu dem übereinstimmenden Ergebnis, dass die Mindestlöhne keine oder kaum Auswirkungen auf die Beschäftigung in den untersuchten Branchen hatten, sich aber Effekte auf die Lohnverteilungen in den verschiedenen Sektoren zeigten. Makroökonomische Wirkungen waren nicht Gegenstand dieser Evaluationen.
Argumente Pro und Contra Mindestlohn
Pro | Contra |
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|
Quelle: Bosch, Gerhard / Weinkopf, Claudia (2006): Gesetzliche Mindestlöhne auch in Deutschland? Hrsg. von der Friedrich-Ebert-Stiftung; Bonn.
Links
Zum Thema Mindestlohn gibt es eine ausführliche Literaturdatenbank, mit über 250 Literaturhinweisen, auf den Seiten des IAB.Der DGB hat eine spezielle Seite für eine Kampagne Pro Mindestlohn eingerichtet.
Gegenpositionen der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände finden sich hier.
International vergleichende Mindestlohndatenbanken finden sich hier: www.ilo.org/travaildatabase/servlet/minimumwages
www.oecd.org/document/63/0,3343,en_2649_33729_38939455_1_1_1_1,00.html
http://epp.eurostat.ec.europa.eu WSI-Mindestlohndatenbank: http://www.boeckler.de/pdf/ta_mindestlohndatenbank.pdf
Literatur
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Boeckler Impuls (2011): Angemessenen Mindestlohn: Orientierungsmarken gibt es schon, Nr. 18 vom 16. November, 4-5; www.boecklerimpuls.de
Bosch, Gerhard (2007): Mindestlohn in Deutschland notwendig - Kein Gegensatz zwischen sozialer Gerechtigkeit und Beschäftigung. In: ZAF 4; S. 421-430.
Bosch, Gerhard / Weinkopf, Claudia (2006): Gesetzliche Mindestlöhne auch in Deutschland? Hrsg. von der Friedrich-Ebert-Stiftung; Bonn.
Bosch, Gerhard / Weinkopf, Claudia (2006): Mindestlöhne in Großbritannien – ein geglücktes Realexperiment. In: WSI-Mitteilungen 3: 125-130.
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WSI-Mindestlohnbericht 2011.
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