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Auswirkungen des Demografischen Wandels auf Wirtschaft und Arbeit

Margaret Heckel

/ 9 Minuten zu lesen

Die Zahl der Menschen im Erwerbsalter wird in Deutschland in absehbarer Zeit deutlich abnehmen. In einzelnen Branchen fehlt es bereits heute an gut ausgebildetem Personal. Gute Chancen also für Arbeitssuchende. Allerdings gilt es, den Wandel zu gestalten.

Wirtschaft und Arbeit (© Martin Brombacher )

Gute Zeiten für junge Leute: Immer mehr Unternehmen suchen händeringend nach Auszubildenden. Universitätsabsolventinnen und -absolventen in gefragten Fächern können heute oft unter vielen Angeboten wählen. Rund 41.000 Lehrstellen blieben im Jahr 2015 unbesetzt – ein neuer Höchststand.

Dass Jugendliche in bestimmten Branchen auf dem Arbeitsmarkt inzwischen sehr gute Aussichten haben, hängt auch mit dem demografischen Wandel zusammen. Seit 1964 der zahlenstärkste Jahrgang in Deutschland auf die Welt gekommen ist, haben sich die Geburten hierzulande fast halbiert. 769.603 Kinder sind 1994 in Deutschland auf die Welt gekommen. Wenn sie gut ausgebildet sind und in diesen Jahren mit ihrem Arbeitsleben beginnen, können sie sich aller Voraussicht nach auf Jahre der Vollbeschäftigung einstellen.

Denn die Zusammensetzung der Gesellschaft in Deutschland wird sich in den nächsten Jahren, vor allem aber ab 2020, stark ändern. Drei Trends prägen diese Entwicklung: Wir leben länger. Wir werden weniger. Und wir werden bunter.

Lebenserwartung steigt jeden Tag um sechs Stunden

Jeden Tag, den wir leben, bekommen wir weitere sechs Stunden Lebenszeit geschenkt. Oder anders ausgedrückt: Jedes Jahr steigt die weitere Lebenserwartung in Deutschland um drei Monate an. Eigentlich hatten viele Expertinnen und Experten erwartet, dass die spektakuläre Verlängerung der Lebenserwartung irgendwann einen quasi natürlichen Endpunkt erreicht. Doch nun zeichnet sich immer stärker ab, dass es auch im 21. Jahrhundert deutliche Zuwächse bei der Lebenserwartung geben wird. Der Leiter des Max-Planck-Institutes für demografische Forschung in Rostock, Professor James Vaupel, geht davon aus, dass jedes zweite seit 2000 in Deutschland geborene Kind hundert Jahre alt werden wird. Für das Jahr 2069 erwarten die Vereinten Nationen, dass in China als erstem Land der Erde eine Million Hundertjährige leben werden.

Dieses Geschenk des längeren, meist auch gesünderen Lebens bedeutet, dass Rentner immer länger leben – und die Jüngeren ihnen auch immer länger Renten zahlen müssen. Da es gleichzeitig immer weniger Erwerbstätige gibt, ist die Belastung für das Rentensystem offensichtlich.

2006 hat die damalige Bundesregierung die schrittweise Einführung der "Rente mit 67" beschlossen. Sie wird im Jahr 2031 vollständig umgesetzt sein. Dann werden mit dem Jahrgang 1964 die ersten Männer und Frauen mit 67 Jahren in Rente gehen. Auch wurden finanzielle Anreize für die Frühverrentung abgebaut. Dadurch haben sich mehr Menschen entschieden, länger zu arbeiten. Dennoch: Das durchschnittliche Renteneintrittsalter lag im Jahr 2015 ohne die Fälle der „neuen Mütterrenten“ bei durchschnittlich 61,9 Jahren für Männer und Frauen. Wer vor 65 in Rente geht, muss finanzielle Einbußen in Kauf nehmen – es sei denn, er oder sie hat 45 Jahre lang in die Rentenkassen einbezahlt. Dann gibt es seit Juli 2014 auch die Möglichkeit, bereits mit 63 Jahren in Rente zu gehen.

Wie viele Ältere nach ihrem 60. Geburtstag noch arbeiten, könnte in Zeiten eines zunehmenden Fachkräftemangels entscheidend für die Wirtschaftskraft von Unternehmen sein. Ein Beratungsunternehmen schätzte den Umsatzverlust für deutsche Unternehmen durch den Personalmangel allein für das Jahr 2014 auf 31 Milliarden Euro. Inzwischen fast ein Viertel der Deutschen in Landkreisen, in denen Vollbeschäftigung herrscht oder nahe ist. Das heißt, dass die Arbeitslosenquote dort unter 4,5 Prozent liegt. Möglicherweise müssen sich Betriebe in Zukunft stärker um Arbeitskräfte bemühen, zum Beispiel unter den Langzeitarbeitslosen.

Dementsprechend weniger Bedeutung wird das Thema Arbeitslosigkeit künftig noch haben: Nur noch jeder Achte, oder ganz genau 13 Prozent der Deutschen, äußerte sich im Jahr 2016 deswegen besorgt, wie ein Marktforschungsinstitut ermittelt hat. Dies war der niedrigste gemessene Wert seit der ersten gesamtdeutschen Umfrage dieser Art im Jahr 1992. Noch vor zehn Jahren waren es mit 80 Prozent mehr als sechsmal so viele, die das Thema Arbeitslosigkeit als besonders beängstigend empfanden.

Menschen sorgen sich zunehmend um ihre Rente

Stattdessen gilt die Sorge der Menschen heute häufig ihrer Altersversorgung. Denn mit den Rentenreformen der vergangenen Jahre haben sich die staatlichen Leistungen verringert, die private Vorsorge ist immer wichtiger geworden. Die Rentenpolitik gilt auch als ein wichtiges Thema für den Bundestagswahlkampf 2017.

Bei der Berufswahl kann es sich lohnen, sich neben der jeweiligen Neigung auch über die Einkommensperspektiven Gedanken zu machen. Zwar gibt es laut Bundesagentur für Arbeit aktuell keinen flächendeckenden Fachkräftemangel, in einzelnen Berufsgruppen und Regionen zeichneten sich jedoch Engpässe ab: 2016 sei für 19 Berufsgruppen ein Fachkräftemangel erkennbar gewesen, so die Arbeitsagentur. Dazu gehören Lokführerinnen und Lokführer, Energietechnikerinnen und Energietechniker und Mechatronikerinnen und Mechatroniker, aber auch Altenpflegerinnen und Altenpfleger oder Software-Entwicklerinnen und Software-Entwickler.

Auf der anderen Seite gibt es immer noch gut 2,6 Millionen Arbeitslose in Deutschland. Könnten sie nicht einfach umgeschult werden, um die Lücken durch den Fachkräftemangel zu füllen? Das klingt einleuchtend, ist aber nicht so einfach. Viele Arbeitslose scheitern an mehrfachen Hürden: Sie haben die Schule nicht abgeschlossen, sind gesundheitlich beeinträchtigt und können oder wollen nicht umziehen. Dennoch haben sie in Zeiten des Fachkräftemangels deutlich mehr Chancen als früher: Die Jobagenturen kümmern sich derzeit mit einer Vielzahl von Programmen um Menschen um die 30, die eine Berufsausbildung nachholen wollen. Und die ersten Unternehmen beginnen damit, Ältere und auch Ungelernte in sogenannten Senior-Azubi-Programmen neu auszubilden. Um es Frauen zu erleichtern, nach der Familienphase wieder ins Arbeitsleben zurückzufinden, gibt es inzwischen eine Reihe staatlicher Hilfen.

Neue Chancen ermöglicht der demografische Wandel auch Migrantinnen und Migranten. Gut ein Fünftel der Bevölkerung hierzulande hat inzwischen ausländische Wurzeln. Zwei von dreien davon leben bereits seit über 20 Jahren in Deutschland. Und die gute Arbeitsmarktlage zieht weitere ausländische Jobsuchende an. War die Netto-Zuwanderung zwischen 2001 und 2009 noch rückläufig, hat sich der Trend inzwischen umgekehrt: Seit 2010 steigen die jährlichen Wanderungssalden kontinuierlich an.

2015 ist der Wanderungssaldo auf den höchsten Wert seit Bestehen der Bundesrepublik gestiegen: auf 1,16 Millionen Personen. 2,13 Millionen Menschen zogen nach Deutschland, knapp 1 Million kehrten dem Land den Rücken. Der Rekordwert liegt nicht nur an der Wirtschaftskrise in Teilen Südeuropas – 45 Prozent der Zugewanderten stammen aus EU-Staaten – sondern auch an den hunderttausenden Menschen, die vor Verfolgung, Kriegen und Krisen in ihren Heimatländern nach Deutschland geflohen sind.

Junger Spanier in der Ausbildung zum KFZ-Mechatroniker in Rheinland-Pfalz (© picture-alliance/dpa)

Es ist nicht vorhersehbar, inwieweit diese Entwicklung hin zu mehr Zuwanderung anhält. Zum einen dürfte es in Südeuropa früher oder später wieder wirtschaftlich aufwärts gehen. Zum anderen ist der Aufenthalt vieler geflüchteter Menschen in der Regel begrenzt. Die Vergangenheit lehrt jedenfalls, dass Wanderungsbewegungen in beide Richtungen verlaufen. "Fast 42 Millionen Zuzügen seit 1950 stehen mehr als 31 Millionen Fortzüge von Deutschen und Ausländern gegenüber", sagt der Wissenschaftler Holger Hinte.

Willkommenskultur für Zuwanderer pflegen

Um die zugewanderten Menschen in Deutschland zu halten und neue anzulocken, wird es sehr wichtig sein, die von Politikerinnen und Politikern oft beschriebene Willkommenskultur zu verwirklichen. Denn auch wenn Zuwanderung den demografischen Wandel nicht aufhalten kann, kann sie dazu beitragen, einen Rückgang der Bevölkerungszahl abzumildern. Wie der Demograf Steffen Kröhnert von der Hochschule Koblenz ausgerechnet hat, wird die Zahl der Menschen zwischen 20 und 65 in den kommenden zwei Dekaden in Deutschland um durchschnittlich 375.000 Personen pro Jahr abnehmen.

Das hört sich drastisch an. Und doch gibt eine Vielzahl von Strategien, um mit dem demografischen Wandel konstruktiv umzugehen. Eine von ihnen betrifft die Lebensarbeitszeit: Bis 2060 wird die Lebenserwartung um weitere fünf Jahre zunehmen. Die Rentenexperten Christoph Müller und Bernd Raffelhüschen schlagen daher vor, das Rentenalter auf 70 Jahre zu erhöhen. Nach ihren Berechnungen könnte der Beitragssatz so auf dem heutigen Niveau bleiben. Die künftigen Rentnerinnen und Rentner seien dann immer noch besser gestellt als ihre Vorfahren im Jahr 1960, denn "der Anstieg der Lebenserwartung im Zeitraum der Jahre 1960 bis 2060 würde nur zur Hälfte (fünf von zehn Jahren) bei der Rentenberechnung berücksichtigt". Ganz anders sehen das die Sozialwissenschaftler Gerhard Bäcker, Ernst Kistler und Heinz Stampf-Finé. Sie schreiben, dass besonders Menschen, die harte körperliche Arbeit verrichteten, trotz höherer Lebenserwartung aus gesundheitlichen Gründen oft nicht länger arbeiten könnten. Ihnen drohten Einbußen bei der Rente.

Renteneintritt flexibilisieren?

Eine andere Möglichkeit wären gleitende Renteneintritte, die sich mit der jeweiligen Lebenserwartung automatisch verändern. Ein solches System empfiehlt die EU-Kommission, Dänemark hat es bereits umgesetzt. Oder aber der Rentenzugang wird flexibilisiert, so dass Teilzeit-Arbeit und Teilzeit-Renten miteinander kombiniert werden. Das gibt es heute schon in den skandinavischen Staaten und führt dort zu einem anderen Blick auf die Rente: Viele Menschen fragen sich, ob sie nicht vielleicht doch noch ein Jahr weiterarbeiten wollen. Indes: Nicht alle werden hier völlig frei entscheiden können. Während einige gerne noch das eine oder andere Jahr zusätzlich arbeiten, werden andere dazu körperlich gar nicht mehr in der Lage sein. Und wieder andere werden in ungeliebten Jobs bleiben müssen, obwohl sie gerne aufhören würden zu arbeiten. Weil die Rente sonst nicht reicht.

Der Direktor des Max-Planck-Institutes für Sozialrecht und Sozialpolitik, Axel Börsch-Supan, favorisiert dennoch das flexible Modell und weist auf die Bedeutung der Arbeit für das soziale Leben hin. In einer europaweiten Studie hat er herausgefunden, dass ein Drittel der Rentnerinnen und Rentner zwei bis drei Jahre nach Rentenbeginn der Arbeit hinterhertrauern. Arbeit bedeute nicht nur Last und Mühe, sondern eben auch Sozialkontakte, Feedback und Zufriedenheit.

Mit Beginn des Jahres 2017 können Rentnerinnen und Rentner ihren Rentenanspruch erhöhen, wenn sie weiter arbeiten und Rentenbeiträge zahlen. Ginge es nach der früheren Bundesfamilienministerin und heutigen Vorsitzenden der Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen Ursula Lehr, bräuchten wir ohnehin dringend ein neues Modell für unser – viel längeres – Arbeitsleben. Sie ist sich sicher, dass wir künftig ein Leben lang lernen werden und sich Phasen der Arbeit und der Freizeit abwechseln müssen.

Das entspricht auch den Wünschen von immer mehr Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, sagt die Personalwissenschaftlerin Jutta Rump. "Die Zukunft liegt in flexiblen Arbeitszeitmodellen, die es den Mitarbeitern ermöglichen, ihre private und ihre berufliche Situation in Balance zu halten", sagte sie der Süddeutschen Zeitung. Auch James Vaupel, der Direktor des Max-Planck-Instituts für Demografie in Rostock empfiehlt eine andere Verteilung der Arbeitszeit: "Viel attraktiver wäre aber ein echte Umverteilung: Es würde ausreichen, wenn alle im Alter von 20 bis 65 nur 25 Stunden pro Woche arbeiteten – vorausgesetzt, Menschen bis 70 Jahre beteiligten sich auch zu einem kleineren Teil.“

Ohne Zweifel wird sich die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen durch den demografischen Wandel in den nächsten Jahren erhöhen: Wo Fachkräfte knapp sind, können sie Forderungen stellen. In einigen Bereichen werden die Arbeitgeber zwar ausweichen können und weiter automatisieren oder die Arbeit ins Ausland auslagern. Doch wo dies nicht möglich ist, haben gesuchte Fachkräfte in den nächsten Jahren und Jahrzehnten gute Karten.

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Margaret Heckel, geb. 1966; Studium der Volkswirtschaft (MA) in Heidelberg und Amherst/USA, Politikchefin der Financial Times Deutschland, Welt und Welt am Sonntag; derzeit: freie Journalistin und Autorin mit dem Schwerpunkt Demografie; Externer Link: www.margaretheckel.de