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Alt und glücklich: Warum wir die demografische Entwicklung nicht fürchten sollten | Demografischer Wandel | bpb.de

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Alt und glücklich: Warum wir die demografische Entwicklung nicht fürchten sollten

Tomma Schröder

/ 5 Minuten zu lesen

Erst spät spricht sich herum: So problematisch, wie der demografische Wandel zu Beginn der öffentlichen Debatte schien, ist er vielleicht gar nicht. Zwar gelten Pflege und medizinische Versorgung als große Herausforderungen, die steigende Lebenserwartung kann aber auch zu mehr Flexibilität im Erwerbsleben führen und birgt Potenzial für Innovationen.

(© Martin Brombacher )

Zwar wird die Alterung unserer Gesellschaft von den niedrigen Geburtenraten mit vorangetrieben. Aber mit der konstant steigenden Lebenserwartung bekommen wir auch das vielleicht kostbarste Geschenk: Lebenszeit. Und zwar rein rechnerisch mit jedem Jahr bis zu drei Monate zusätzlich. Steigt die Lebenserwartung weiter im bisherigen Tempo - und es gibt wenig Gründe, daran zu zweifeln – dann wird jedes zweite Kind, das heute zur Welt kommt, seinen 100. Geburtstag erleben.

Dabei sind es keineswegs nur von Krankheit und Demenz bestimmte Jahre im Seniorenheim, die hinzukommen. Expertinnen und Experten zufolge verschiebt sich der gesamte Alterungsprozess nach hinten, bleibt das Verhältnis von gesunden zu kranken Lebensjahren anteilsmäßig konstant. Ein heute 50-Jähriger ist demnach ungefähr genauso fit wie ein 40-Jähriger im Jahr 1970.

Trotzdem wird der so genannte Altenquotient, der die Belastung der sozialen Sicherungssysteme anzeigt, seit Jahren auf die gleiche Art berechnet: Er vergleicht den Anteil der über 64-Jährigen mit jenem der erwerbsfähigen Bevölkerungsgruppe, also den 20- bis 64-Jährigen. Demnach wäre der demografische Wandel tatsächlich ein Desaster: Waren es 1970 noch 17 Rentnerinnen und Rentner, die auf 100 erwerbsfähige Menschen kamen, stieg diese Zahl 2008 schon auf das Doppelte und wird für 2060 je nach Höhe der Zuwanderung auf 61 bis 65 Rentnerinnen und Rentner geschätzt.

Alt, aber fit

In 15 Jahren wird diesen Berechnungen zufolge vermutlich schon ein Rentner auf zwei Erwerbstätige kommen. Was dabei allerdings außer Acht gelassen wird: Der durchschnittliche 65-Jährige aus dem Jahr 1970 war mental und körperlich wesentlich älter als es der 65-Jährige im Jahr 2030 oder 2060 sein wird. Die vermeintliche Rentnerin aus dem Jahr 2060 kann und will vielleicht noch fünf oder gar zehn Jahre in Teilzeit weiter arbeiten. Vielleicht kümmert sie sich auch um die pflegebedürftige Mutter oder passt auf die Enkelkinder auf, während die Eltern arbeiten gehen. Sind 65-Jährige also wirklich eine Last für die Gesellschaft, wie es der Altenquotient unterstellt? Oder ist es eher eine starre Auffassung vom Alter und Altern, das die steigende Lebenswerwartung zu einer Last macht?

Mehr Teilzeit, mehr Erwerbstätige

Selbst wenn das Rentenalter nicht weiter erhöht werden würde, könnte die Wirtschaftsleistung pro Kopf bis 2025 mit einfachen Mitteln auf dem gleichen Niveau wie 2005 gehalten werden: Im Fachmagazin Science rechneten Demografen schon 2006 vor, dass dafür vor allem wieder mehr ältere Menschen arbeiten müssten. Die durchschnittliche Wochenarbeitszeit der 50- bis 60-Jährigen müsste dafür auf das heutige Niveau der 35- bis 49-Jährigen ansteigen. Das wären 30 Stunden pro Woche - vorausgesetzt, dass alle Menschen der Altersgruppe erwerbstätig wären. Die 60- bis 65-Jährigen müssten noch 20 Stunden wöchentlich arbeiten, um das Niveau von 2005 zu halten.

Fachkräftemangel als Chance für ältere Arbeitnehmer

Dass die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit im höheren Alter in Zukunft steigen wird, ist gerade im Zuge des demografischen Wandels sehr wahrscheinlich: Weil die Nachfrage nach Arbeitskräften deutlich zunehmen wird, werden auch ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie Erwerbslose wieder bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben.

Für die Erwerbsquote wäre eine solche Entwicklung ohnehin gut, aber auch die Unternehmen könnten davon profitieren. Wissenschaftler haben untersucht, inwieweit gemischte Teams aus älteren und jüngeren Arbeitskräften ein höheres Innovationspotenzial haben. Und das häufige Vorurteil, dass ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wesentlich leistungsschwächer sind als ihre jüngeren Kolleginnen und Kollegen, wurde von der Forschung widerlegt.

Auch die Beschäftigungsquote von Frauen dürfte steigen. Unternehmen werden aufgrund des Fachkräftemangels dazu gezwungen sein, Arbeitsbedingungen zu schaffen, die eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie gewährleisten.

Mehr Flexibilität im Erwerbsleben

All die Probleme, die der demografische Wandel für die Sozialsysteme und den Arbeitsmarkt mit sich bringt, bieten also auch eine gute Gelegenheit, die starre Einteilung der Lebensphasen in "Lernen" – "Arbeiten" – "Rente" zu überdenken und die Möglichkeiten, die eine höhere Lebenserwartung schafft, genauer auszuloten. Ist es sinnvoll, die größten beruflichen, familiären und finanziellen Herausforderungen in eine Lebensphase, die sogenannte "Rush Hour des Lebens", zu pressen? Oder wäre es nicht besser, die Lebensphasen flexibler zu gestalten, so dass Auszeiten für die Familie, für die Pflege oder auch für Weiterbildung einfacher in das Arbeitsleben integriert werden können?

Das Elterngeld könnte ein erster Schritt in diese Richtung sein. Es erlaubt Müttern und Vätern, sich der Erziehung zu widmen, ohne in dieser finanziell meist nicht gerade rosigen Zeit komplett auf ein Gehalt verzichten zu müssen. Auch die Pflegereform, die Menschen Lohnersatz zuspricht, wenn diese ihre Angehörigen pflegen, könnte Flexibilität für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und eine Entlastung der Sozialsysteme bringen.

Gesundheitswesen: Ein großer Markt für Innovationen

Pflegeroboter zur Unterstützung in der Pflege Demenzkranker: Die medizinische Betreuung älterer Menschen wird sich künftig verändern. (© picture-alliance/dpa)

Neben dem Arbeitsmarkt gelten vor allem die Pflege und die medizinische Versorgung der älteren Menschen als eine der größten Herausforderungen des demografischen Wandels. Steigende Kosten für Pflegeversicherung, Medikamente und medizinische Behandlungen sind zu erwarten. Andererseits wird oft ignoriert, dass die steigenden Gesundheitskosten nicht nur ein Problem des demografischen Wandels sind, sondern vor allem durch den medizinischen und technologischen Fortschritt verursacht werden. Außerdem bietet der hohe Bedarf an Dienstleistungen im Gesundheitswesen auch ein großes Potenzial für Innovationen. Ebenso ein positiver Nebeneffekt: Seniorenwohnungen, in denen Assistenzsysteme die Medikamenteneinnahme überwachen, Lebensmittel ordern, Termine beim Arzt machen und im Notfall Alarm schlagen, könnten es älteren Menschen ermöglichen, länger selbständig in den eigenen vier Wänden zu leben. Weil Deutschland zu den Ländern gehört, die stark vom Schrumpfen der Bevölkerung betroffen sind, könnten solche Systeme zur wichtigen Exporttechnik werden.

Eine entschleunigte Gesellschaft?

Neben diesen oft diskutierten ökonomischen Auswirkungen gibt es noch ganz andere Folgen des demografischen Wandels, die in der Debatte oft zu kurz kommen: Die höhere Lebenserwartung wird auch das soziale Zusammenleben stark verändern. So hätten Großeltern schon heute in der Regel sehr viel intensivere Beziehungen zu ihren Enkelkindern als früher und bildeten vielfach das Rückgrat der Familie, meint der Schweizer Soziologie-Professor Peter Gross. Wie wird es nun für Kinder und Eltern sein, wenn in einigen Jahrzehnten nicht nur vier Großeltern, sondern auch bis zu acht Urgroßeltern als geduldige Spielpartner, als liebevolle Aushilfe, als wichtige Ratgeberinnen und Familienstütze zur Seite stehen? Vielleicht wird sich unsere Gesellschaft positiv verändern, wenn es Menschen gibt, die über ein Jahrhundert lang Erfahrungen gesammelt haben. Und vielleicht wird die Alterung unserer Gesellschaft unser Leben auch auf angenehme Art und Weise entschleunigen.

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Tomma Schröder, geb. 1980, Studium der Slawistik und deutschen Literaturwissenschaft (M.A.); Volontariat beim Schleswig-Holsteinischen Zeitungsverlag, derzeit freie Wissenschaftsjournalistin, u.a. für das Max-Planck-Institut für demografische Forschung in Rostock.