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Die Versorgungsstrukturen des Gesundheitswesens in Schweden | Gesundheitspolitik | bpb.de

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Die Versorgungsstrukturen des Gesundheitswesens in Schweden

Thomas Gerlinger Renate Reiter

/ 5 Minuten zu lesen

Angestellte des Universitätskrankenhauses in Uppsala (flickr/ Barbro Björnemalm) Lizenz: cc by-nc-sa/2.0/de

Allgemeine gesundheitspolitische Leitlinien

Dem gesundheitspolitischen Anspruch nach orientiert sich die medizinische Versorgung in Schweden an einem angemessenen, bedarfsgerechten Zugang für alle schwedischen Einwohnerinnen und Einwohner, unabhängig von ihrem Einkommen und ihrem Wohnort. Als oberstes Prinzip gilt die Menschenwürde: Sie gilt für alle, und alle Menschen haben in diesem Zusammenhang die gleichen Rechte. Nach dem zweiten Prinzip "Bedarf und Solidarität" hat die Versorgung von Patientinnen und Patienten mit dem größten Bedarf an medizinischer Versorgung Vorrang. Das dritte, den anderen beiden Prinzipien nachgeordnete Prinzip "Kosteneffektivität" besagt, dass bei Wahlmöglichkeiten zwischen Behandlungsoptionen Kosten-Nutzen-Relationen berücksichtigt werden sollen.

Im Jahr 1997 wurde für den Bereich der medizinischen Versorgung eine Prioritätenliste verabschiedet, nach der sich die Wartezeiten für unterschiedliche Behandlungen richten. Oberste Priorität haben die Versorgung bei Lebensgefahr, die palliative Versorgung sowie die Versorgung von Personen mit chronischen Krankheiten und Behinderungen. An zweiter Stelle stehen Prävention und Rehabilitation. Es folgt die Versorgung von Patientinnen und Patienten mit nicht akuten und nicht chronischen Erkrankungen. Die niedrigste Priorität haben Behandlungsanlässe, die nicht auf Krankheiten oder Unfälle zurückgehen.

Die zentrale Rolle der Landtage ("Landsting")

In Schweden sind 20 Landtage und vier Regionen (Skåne und Västra Götaland als Zusammenschlüsse von Landtagen, die Gemeinde Gotland und Halland) für die Gesundheit ihrer Bevölkerung (zwischen 60.000 und 1,9 Millionen Einwohner) einschließlich ihrer medizinischen Versorgung und deren Finanzierung verantwortlich. Die Einrichtungen der medizinischen Versorgung werden überwiegend von ihnen betrieben. Ergänzt werden die Angebote in der Primärversorgung durch private Praxen, die im Rahmen von Verträgen mit den Landtagen in die öffentliche Finanzierung eingebunden sind, sowie durch eine geringere Anzahl von überwiegend kleinen privaten Krankenhäusern. Die Landtage kaufen in wachsendem Umfang Leistungen von privaten Anbietern ein. Im Jahr 2013 lag das Volumen bei circa zwölf Prozent der Nettokosten (ohne zahnmedizinische Versorgung).

Im Vergleich zu Deutschland ist die Arztdichte in Schweden geringer und die Anzahl der Krankenpflegekräfte auf 1.000 Einwohner etwas höher. Besonders auffällig sind die Unterschiede bei der Anzahl der Betten in der Akutversorgung (vgl. Tabelle "Beschäftigte im Gesundheitswesen und Krankenhausbetten im Jahr 2004").

Ambulante Versorgung

Die Landtage sind in mehrere Primärversorgungsgebiete unterteilt, die im Wesentlichen den Grenzen der Kommunen entsprechen. In diesen erfolgt die Primärversorgung durch etwa 800 von den Landtagen betriebenen Primärversorgungszentren als Einrichtungen der Landtage und durch 300 privat betriebene Einrichtungen. Privat betriebene Einrichtungen finden sich insbesondere in großen Städten beziehungsweise städtischen Gebieten. Auf sie entfielen im Jahr 2003 etwa 29 Prozent aller Arztkontakte in der ambulanten Versorgung.

In den Primärversorgungszentren sind Allgemeinärztinnen und -ärzte, Pflegekräfte, Hebammen und Geburtshelfer, Physiotherapeutinnen und -therapeuten sowie Gynäkologinnen und Gynäkologen beschäftigt. Es werden Impfprogramme für Kinder, Schwangerschaftsuntersuchungen, medizinische Untersuchungen, Beratungen und Behandlungen durchgeführt. Für die Versorgung von Kindern und Jugendlichen stehen Kinderärztinnen und -ärzte und Distriktpflegekräfte zur Verfügung.

Im Unterschied zum deutschen Gesundheitssystem findet der Erstkontakt häufig mit einer Distriktpflegekraft statt. Diese Pflegekräfte führen insbesondere bei älteren Patientinnen und Patienten Hausbesuche durch, schätzen die Lage ein, können in bestimmten Fällen Medikamente verordnen und verweisen die Patientinnen und Patienten bei Bedarf an Allgemeinärztinnen und -ärzte oder Krankenhäuser. Dabei stehen sie unter ärztlicher Aufsicht. Die fachärztliche Versorgung erfolgt überwiegend über an der ambulanten Versorgung beteiligte Krankenhausabteilungen. Patientinnen und Patienten haben die Möglichkeit, diese direkt in Anspruch zu nehmen. Im internationalen Vergleich ist die Anzahl der Arztkontakte pro Einwohner und Jahr in Schweden mit 2,8 (2003) gering. Die Hälfte der Arztkontakte in der ambulanten Versorgung entfällt auf Spezialistinnen und Spezialisten in Krankenhauseinrichtungen. Auch vier Jahr später bleibt dieser Wert so niedrig: 2007 gab es in kaum einem OECD-Land so wenige Arztkontakte pro Einwohner wie in Schweden. Die Deutschen konsultieren mehr als doppelt so oft einen Arzt. (Siehe Externer Link: OECD-Bericht von 2009)

Stationäre Versorgung

In Schweden existieren in der stationären Versorgung drei Stufen. Circa 40 von den Landtagen betriebene Distriktkrankenhäuser mit einer durchschnittlichen Größe von 151 Betten (2001) sind in der stationären "Grundversorgung" tätig. Daneben betreiben die Landtage jeweils ein Zentralkrankenhaus mit zusätzlichen Fachabteilungen und durchschnittlich 458 Betten (2001). Sehr komplizierte Fälle oder seltene Erkrankungen werden in Regionalkrankenhäusern versorgt. Jeweils mehrere Landtage sind zu einer von sechs Regionen mit zwischen ein bis zwei Millionen Einwohnern zusammengeschlossen. Ein Landtag betreibt das Regionalkrankenhaus. Die anderen Landtage erstatten die Kosten für die Behandlung ihrer Einwohner.

Insbesondere durch einen Rückgang bei älteren Patientinnen und Patienten hat sich die Anzahl der Krankenhaustage pro Einwohner in den 1990er-Jahren parallel zu einigen Reformen im Pflegebereich (siehe unten) reduziert. Die Landtage sind für die Patientinnen und Patienten verantwortlich, bis die medizinische Behandlung abgeschlossen ist und ein Pflegeplan aufgestellt wurde. Für die weitere Versorgung fällt dann den Kommunen die Verantwortung zu.

Weitere Versorgungsbereiche

Die Landtage sind für die Sicherstellung eines qualitativ hochwertigen zahnmedizinischen Versorgungsangebots zuständig. Zahnmedizinische Leistungen werden in öffentlichen und privaten Einrichtungen erbracht.

Im Jahr 1971 wurde der Vertrieb von Arzneimitteln verstaatlicht und dem staatlichen Unternehmen Apoteket AB (früher Apoteksbolaget AB) übertragen. Die Abgabe von Medikamenten erfolgt in 900 Apotheken und 1.000 vertraglich angebundenen Geschäften. Bei diesen handelt sich insbesondere um Lebensmittelgeschäfte in ländlichen Gebieten.

Versorgungsprobleme

Der Public-Health-Bereich sowie die Versorgung bei Schwangerschaften und von Kindern und Jugendlichen sind in Schweden im internationalen Vergleich relativ gut ausgebaut. Allerdings gilt das schwedische Gesundheitssystem noch immer als krankenhauszentriert. Gegenüber dem Ausbau des Krankenhaussektors unter Einschluss der ambulanten Versorgung durch Spezialistinnen und Spezialisten in Krankenhauseinrichtungen wurde die Primärversorgung lange vernachlässigt. Patientinnen und Patienten nehmen in der ambulanten Versorgung häufig direkt in Krankenhäusern beschäftigte Spezialistinnen und Spezialisten in Anspruch. Ein Problem der schwedischen Gesundheitsversorgung besteht in den zu wenig integrierten Schnittstellen zwischen den verschiedenen Sektoren: Beispiele hierfür sind die Übergänge zwischen Krankenhäusern und Einrichtungen der Primärversorgung sowie der medizinischen Versorgung durch die Landtage und der Versorgung von Pflegebedürftigen beziehungsweise Menschen mit einem Bedarf an sozialen Dienstleistungen durch die Kommunen.

Ein anhaltendes Problem von gesundheitspolitischer Brisanz sind Wartelisten und -zeiten. Seit den 1990er-Jahren haben verschiedene Reformen die Situation immer wieder zumindest vorläufig entspannt, und den Patientinnen und Patienten wurden mehr Rechte und Wahlmöglichkeiten eingeräumt. Die Problematik lässt sich aber insbesondere in Anbetracht der fortgesetzten Bemühungen um eine Begrenzung öffentlicher Ausgaben und der politischen Ablehnung eines wachsenden privaten Finanzierungsanteils kaum grundsätzlich lösen.

Für die Zukunft wird prognostiziert, dass sich aufgrund des demografischen Wandels ein Mangel an qualifizierten Arbeitskräften abzeichnet. Die schwedischen Ausbildungskapazitäten müssten erheblich ausgebaut werden, um dem sich abzeichnenden Versorgungsbedarf gerecht zu werden. Bereits in der Vergangenheit wurde qualifiziertes Personal aus dem Ausland angeworben, um den Mangel an Arbeitskräften auszugleichen.

Quellen / Literatur

Alban, Anita/Chistiansen, Terkel (Hrsg.) (1995): The Nordic Lights: New Initiatives in Health Care Systems. Odense

Glenngård Anna H./Hjalte, Frida/Svensson, Marianne/Anell, Anders/Bankauskaite, Vaida (2005): Health Systems in Transition: Sweden. Copenhagen, WHO Regional Office for Europe on behalf of the European Observatory on Health Systems and Policies

Heidenheimer, Arnold J./Elvander, Nils (Hrsg.) (1980): The Shaping of the Swedish Health System. London

Schwedisches Institut (2007): Das schwedische Gesundheitswesen. Tatsachen über Schweden (Ts 76r)

Schwedisches Institut (2014): Externer Link: Tatsachen | Gesundheitswesen. Stockholm

OECD (2007): Gesundheit auf einen Blick 2007. OECD-Indikatoren. Paris
Externer Link: http://www.oecd-ilibrary.org/social-issues-migration-health/gesundheit-auf-einen-blick-2007_9789264065390-de

Fussnoten

Weitere Inhalte

Prof. Dr. Dr. Thomas Gerlinger ist Professor an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld, AG 1: Gesundheitssysteme, Gesundheitspolitik und Gesundheitssoziologie.

Dr. Renate Reiter, Institut für Politikwissenschaft der FernUniversität in Hagen