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Jüngere Reformen in der Gesundheitspolitik Schwedens | Gesundheitspolitik | bpb.de

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Jüngere Reformen in der Gesundheitspolitik Schwedens

Thomas Gerlinger Renate Reiter

/ 6 Minuten zu lesen

Über weite Strecken lässt sich die Geschichte des schwedischen Gesundheitswesens als eine schrittweise Implementierung eines öffentlichen integrierten Gesundheitswesens beschreiben, in dessen Zentrum die Landtage stehen. Ihnen wurden seit ihrer Einrichtung im Jahr 1862 bis in die jüngere Vergangenheit hinein immer mehr Aufgabenbereiche übertragen. Bis in die frühen 1980er-Jahre war die Gesundheitspolitik primär an der Gewährleistung einer angemessenen, bedarfsbezogenen Versorgung ausgerichtet. In den späten 1980er-Jahren verstärkten sich die Anstrengungen um eine Ausgabenbegrenzung, die zu Beginn der 1990er-Jahre durch das Interesse an einer Effizienzsteigerung ergänzt wurden. Gegen Ende des Jahrzehnts kam es zu strukturellen Veränderungen in der Bereitstellung und Finanzierung der medizinischen Versorgung. Die Bemühungen um eine Ausgabenbegrenzung haben seitdem nicht nachgelassen.

Der Eingang des Krankenhauses in Helsingborg, Region Skåne. (flickr/ Håkan Dahlström) Lizenz: cc by/2.0/de

Von den Anfängen bis zur Einführung eines Systems der sozialen Sicherheit im Krankheitsfall

Nachdem die Landtage bei ihrer Gründung 1862 zunächst nur für die Akutkrankenhäuser zuständig waren, wurden ihre Aufgaben mit dem Krankenhausgesetz von 1928 auf die Sicherstellung der stationären Versorgung erweitert. Der ambulante Sektor, die Versorgung psychisch Kranker und die Langzeitpflege blieben zunächst im Zuständigkeitsbereich der Gemeinden und des Staates beziehungsweise dem privaten Sektor überlassen. In den 1930er-Jahren wurde den Landtagen die medizinische Versorgung bei Schwangerschaft sowie die medizinische und zahnmedizinische Versorgung von Kindern übertragen. Die ambulante Versorgung erfolgte weiterhin überwiegend im privaten Sektor – entweder durch niedergelassene Ärztinnen und Ärzte oder durch Krankenhausärztinnen und -ärzte, die ihre Leistungen in der ambulanten Versorgung privat abrechneten. In dieser Zeit waren weniger als 33 Prozent der Ärztinnen und Ärzte in Krankenhäusern beschäftigt. Dies änderte sich in den folgenden Jahrzehnten, und in den 1980er-Jahren lag dieser Anteil bei 80 Prozent.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die soziale Absicherung im Krankheitsfall erheblich ausgeweitet. Im Jahr 1946 wurde das Nationale Krankenversicherungsgesetz verabschiedet, das allerdings aufgrund mangelnder Ressourcen erst 1955 implementiert wurde. Die Leistungen der Krankenversicherung, die alle in Schweden wohnhaften Personen einschloss, beinhalteten eine anteilsmäßige Kostenerstattung von Ausgaben für Arztbesuche und Verschreibungen sowie ein Krankengeld.

Fortschreitende Integration der ambulanten Versorgung in den Zuständigkeitsbereich der Landtage

In den 1960er-Jahren wurden die Landtage für die medizinische Grundversorgung im ländlichen Raum zuständig, nachdem dieser Aufgabenbereich zuvor dem schwedischen Staat zugeordnet war. Auch die Versorgung psychisch Kranker wurde ihnen übertragen.

Mit der sogenannten Sieben-Kronen-Reform von 1970 wurden die Zuständigkeiten der Landtage in erheblichem Umfang auf die ambulante Versorgung ausgedehnt. Krankenhausärztinnen und -ärzte verloren die Möglichkeit, Leistungen in der ambulanten Versorgung privat abzurechnen. Während Patientinnen und Patienten zuvor die Kosten zunächst selbst zu tragen hatten und 75 Prozent von der Krankenversicherung erstattet bekamen, mussten sie nun nur noch lediglich sieben Schwedische Kronen für einen Arztbesuch an den Landtag entrichten, der von der Krankenkasse die restlichen Kosten erstattet bekam. Krankenhausärztinnen und -ärzte wurden vollständig zu Angestellten des öffentlichen Sektors.

Mit dem Gesundheits- und medizinischen Dienstleistungsgesetz von 1982 (Hälso- och sjukvårdslagen / Health and Medical Service Act) wurde den Landtagen die umfassende Verantwortung für die Gesundheit ihrer Bevölkerung in den Bereichen medizinische Versorgung, Gesundheitsförderung und Prävention zugeordnet. In Fortsetzung der gesundheitspolitischen Ausrichtung der 1960er-Jahre war die Orientierung an "equity", an einer bedarfsorientierten angemessenen Versorgung, zentral.

Mit der DAGMAR-Reform von 1985 wurden die finanziellen Zuständigkeiten für die ambulante Versorgung reorganisiert, und die Landtage erhielten mehr Einfluss auf die im privaten Sektor erbrachten Leistungen. Zuvor erstattete die Krankenversicherung Ausgaben für die Leistungen des öffentlichen und privaten Sektors auf Grundlage einer Gebührenordnung und der Anzahl der Arztbesuche. Diese Überweisungen wurden auf nach sozialen und medizinischen Kriterien gewichtete bevölkerungsbezogene Kopfpauschalen umgestellt, die den Landtagen überwiesen wurden. Die Landtage übernahmen damit die Verantwortung für die Ausgaben in der ambulanten Versorgung und in diesem Zusammenhang insbesondere auch für die Ausgaben der im privaten Sektor erbrachten Leistungen. Damit erhöhten sich ihre Planungsmöglichkeiten sowie ihr Interesse an einer Kontrolle des Leistungsgeschehens in diesem Sektor.

Für einen kurzen Zeitraum, unter dem von einer bürgerlichen Regierungskoalition verabschiedeten Familienarztgesetz von 1993 und dem Gesetz über die Freiheit zur Einrichtung einer privaten Praxis im Jahr 1994, erhielten Ärztinnen und Ärzte die Möglichkeit, sich niederzulassen, und die Landtage waren weitgehend verpflichtet, diese in die öffentlich finanzierten Versorgung einzubeziehen. Nach der Regierungsübernahme durch die sozialdemokratische Partei SAP wurden die Gesetze wieder abgeschafft, und die Landtage erhielten das Recht, über die vertragliche Einbindung privat praktizierender Ärztinnen und Ärzte in die öffentliche Versorgung zu entscheiden. Mit diesem Schritt wurde die ambulante Versorgung gänzlich in die Entscheidungskompetenzen der Landtage integriert. Privat praktizierende Ärztinnen und Ärzte sowie Physiotherapeutinnen und -therapeuten haben seitdem die Möglichkeit, aus öffentlichen Mitteln finanzierte Leistungen auf der Grundlage einer nationalen Gebührenordnung oder besonderer Verträge mit den Landtagen abzurechnen. Die Art der Einbindung privat praktizierender Ärztinnen und Ärzte sowie Physiotherapeutinnen und -therapeuten sowie die Bemühungen um eine Privatisierung von Einrichtungen der stationären Versorgung unterscheiden sich nicht zuletzt aufgrund der jeweiligen politischen Mehrheiten zwischen den Landtagen.

Pflege, Arzneimittel, Zahnmedizin

Mit der Ädel-Reform von 1992 (Care of the Elderly Reform) wurden den Gemeinden die stationäre Langzeitpflege und die Altenpflege überantwortet. Ziel der Reform war die Integration der erforderlichen medizinischen und sozialen Versorgungsangebote auf einer Ebene. Zugleich sollten Anreize für den Ausbau von Pflegeinrichtungen geschaffen werden, um den Krankenhaussektor zu entlasten. Zahlreiche Patientinnen und Patienten belegten Krankenhausbetten ohne einen medizinischen Versorgungsbedarf, weil Kapazitäten in der Pflege fehlten. Mit der Reform mussten die Gemeinden den Landtagen die Kosten für den Krankenhausaufenthalt dieser Personen erstatten. Wenige Jahre später wurden die Gemeinden auch für die Versorgung von Behinderten ("Handikappreformen" 1994) und psychisch Kranken ("Psykiatrireformen" 1995) zuständig. Mit den Reformen wurden circa 20 Prozent der Gesundheitsausgaben der Landtage zu den Gemeinden verlagert. Die Hälfte der Gemeinden hat mit den Landtagen vereinbart, auch die ambulante Pflege von Alten und Behinderten zu übernehmen. Bei der anderen Hälfte sind dafür die Landtage zuständig.

Ein weiterer Reformbereich betraf den Arzneimittelmarkt. Im Jahr 1997 wurde das Kostenerstattungssystem für verschriebene Arzneimittel verändert. Der von Patientinnen und Patienten zu tragende Finanzierungsanteil wurde erhöht. Um soziale Härten zu vermeiden, wurde eine Obergrenze für privat zu tragende Ausgaben für verschriebene Arzneimittel eingeführt. Die Landtage erhielten außerdem das Recht, verschreibungspflichtige Arzneimittel direkt bei Pharmaunternehmen einzukaufen. Im folgenden Jahr wurde den Landtagen die finanzielle Verantwortung für verschreibungspflichtige Medikamente übertragen, die zuvor der Krankenversicherung oblag. Damit erhöhte sich ihr Interesse, auf ein sparsames Verordnungsverhalten hinzuwirken.

Mit einer Reform im Bereich der zahnmedizinischen Versorgung kam es 1999 zur stärksten Veränderung in der gesundheitsbezogenen sozialen Absicherung in den letzten 20 Jahren. Die von den Patientinnen und Patienten zu tragenden Ausgaben erhöhten sich mit der Reform erheblich. Eine prozentuale Erstattung der Preise, die in einer Gebührenordnung festgelegt waren, wurde durch die Einführung von Festbeträgen bei freier Preisgestaltung der Anbieter ersetzt. Im Jahr 2002 wurde diese Reform durch eine Absicherung von hohen Ausgaben für die Gruppe der über 64-Jährigen ergänzt. Insgesamt werden die Ausgaben für die zahnmedizinische Versorgung zu 60 Prozent direkt von den Patientinnen und Patienten getragen.

Wartezeiten, Prioritätenlisten, Patientenrechte

Ein zentraler Problembereich des schwedischen Gesundheitssystems sind mitunter lange Wartezeiten in der medizinischen Versorgung. Im Jahr 1992 wurde für zwölf elektive Interventionen eine nationale Behandlungsgarantie eingeführt. Patientinnen und Patienten erhielten das Recht, nach einer Wartezeit von drei Monaten die Leistungen eines anderen als des vorgesehen Krankenhauses innerhalb oder außerhalb ihres Landtags in Anspruch zu nehmen. Inzwischen wurde die Wartezeitgarantie durch die "0-7-90-90"-Regelung ersetzt: Bei Beschwerden soll es unmittelbar möglich sein, Kontakt zu Einrichtungen der medizinischen Versorgung herzustellen. Einen Allgemeinarzt zu konsultieren, soll bei Bedarf innerhalb von sieben Tagen möglich sein. Der Besuch bei einem Spezialisten soll innerhalb von 90 Tagen stattfinden können. Zwischen der Diagnosestellung und dem Behandlungsbeginn sollen ebenfalls nicht mehr als 90 Tage vergehen.

Im Jahr 1997 wurden bedarfsbezogene Prioritäten für die medizinische Versorgung aufgestellt. Zwei Jahre später wurden die Patientenrechte gestärkt. Patientinnen und Patienten erhielten das Recht, in der ambulanten Versorgung Ärztinnen und Ärzte unabhängig von geografischen Gebietseinheiten frei zu wählen. Seit 2003 haben Patientinnen und Patienten das Recht, für die für sie in ihrem Landtag vorgesehenen Leistungen jede Versorgungseinrichtung in Schweden in Anspruch zu nehmen. Seit dem 1. November 2005 deckt die nationale Gesundheitsversorgungsgarantie (National Health Care Guarantee) alle Leistungen im Planungsbereich der Landtage ab: Ist es in einem Landtag nicht möglich, einer Patientin oder einem Patienten eine vorgesehene Behandlung innerhalb von 90 Tagen nach der entsprechenden Entscheidung anzubieten, ist der Landtag verpflichtet, die Patientin oder den Patienten dabei zu unterstützen, die Behandlung in einem anderen Landtag durchführen lassen zu können und muss für die Reisekosten aufkommen. Laut Schwedischem Institut erhielten 2013 etwa 90 Prozent der Patienten einen Facharzttermin innerhalb dieser Frist und wurden binnen weiterer 90 Tage operiert.

Festgeschrieben wurden außerdem ein Informationsrecht, das Recht auf die freie Entscheidung bei mehreren Behandlungsoptionen sowie das Recht auf eine Zweitmeinung bei komplizierten Behandlungsfällen.

Quellen / Literatur

Alban, Anita/Chistiansen, Terkel (Hrsg.) (1995): The Nordic Lights: New Initiatives in Health Care Systems. Odense

Glenngård Anna H./Hjalte, Frida/Svensson, Marianne/Anell, Anders/Bankauskaite, Vaida (2005): Health Systems in Transition: Sweden. Copenhagen, WHO Regional Office for Europe on behalf of the European Observatory on Health Systems and Policies

Heidenheimer, Arnold J./Elvander, Nils (Hrsg.) (1980): The Shaping of the Swedish Health System. London

Schwedisches Institut (2007): Das schwedische Gesundheitswesen. Tatsachen über Schweden (Ts 76r)

Schwedisches Institut (2014): Externer Link: Tatsachen | Gesundheitswesen. Stockholm

Fussnoten

Weitere Inhalte

Prof. Dr. Dr. Thomas Gerlinger ist Professor an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld, AG 1: Gesundheitssysteme, Gesundheitspolitik und Gesundheitssoziologie.

Dr. Renate Reiter, Institut für Politikwissenschaft der FernUniversität in Hagen