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Versorgungsstrukturen des Gesundheitswesens in den Niederlanden | Gesundheitspolitik | bpb.de

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Versorgungsstrukturen des Gesundheitswesens in den Niederlanden

Thomas Gerlinger

/ 5 Minuten zu lesen

Grundsätzlich lässt sich als ein charakteristisches Merkmal der Gesundheitsversorgung in den Niederlanden festhalten, dass die Leistungen zu einem überwiegenden Teil von gemeinnützigen und privaten Anbietern erbracht werden. Der Staat konzentriert sich überwiegend auf die Steuerung von Versorgungskapazitäten, die Regulierung des Preissystems und die Qualitätskontrolle. Als Leistungserbringer ist er lediglich über den öffentlichen Gesundheitsdienst und nur in Ausnahmefällen auch als Träger von stationären Einrichtungen tätig.

Zahnärztliche Fakultät in Amsterdam (© picture-alliance / ANP XTRA )

Öffentliche Akteure: Public Health

Im Public-Health-Sektor übernehmen staatliche Institutionen wichtige Aufgaben. Die kommunalen und lokalen Gesundheitsämter sind unter anderem für Impfungen zuständig. Die Niederlande verfügen im internationalen Vergleich über ein hohes Immunisierungsniveau hinsichtlich der bedeutenden Infektionskrankheiten. Zudem üben die öffentlichen Gesundheitsdienste in Zusammenarbeit mit einer Reihe von staatlichen Instituten auch Aufsichts- und Kontrollfunktionen bezüglich der Qualität der medizinischen Leistungen, des Gesundheitsschutzes, der Lebensmittelsicherheit oder der Verbreitung von Infektionskrankheiten aus. Eine vergleichsweise große Bedeutung besitzen Maßnahmen der Prävention und Gesundheitsförderung. Auch hier haben kommunale Gesundheitsdienste neben verschiedenen gemeinnützigen Organisationen eine wichtige Aufgabe. Die Schwerpunkte liegen in der Information, Aufklärung und Beratung, in der Familienhilfe und der Gesundheitserziehung. Das Ziel ist, die Bedeutung krankheitsrelevanter Risikofaktoren in der Bevölkerung zu reduzieren. Auch in den Niederlanden ist eine sozial ungleiche Verteilung von Krankheitsrisiken und Gesundheitschancen zuungunsten sozial benachteiligter Bevölkerungsschichten zu beobachten, weshalb in der jüngeren Vergangenheit das Ziel der Reduzierung sozioökonomisch bedingter Unterschiede im Bereich Public Health eine größere Aufmerksamkeit erhalten hat.

Hausärztliche Versorgung: Das "Gatekeeper-System"

Ein hervorstechendes Merkmal der ärztlichen Versorgung in den Niederlanden ist das sogenannte "Gatekeeper-System". Die Funktion des Gatekeepers wird von den Haus- beziehungsweise Familienärztinnen und -ärzten übernommen. Das sind Allgemeinmedizinerinnen und -mediziner, die auf Krankheiten mit geringem Schweregrad sowie auf weitverbreitete und chronische Erkrankungen spezialisiert sind. Die Hausärztin oder der Hausarzt übernimmt einerseits alle wichtigen Funktionen der primären Krankenversorgung, andererseits hat sie/er darüber zu entscheiden, ob sie/er die Patientin oder den Patienten an eine Fachärztin/einen Facharzt beziehungsweise in ein Krankenhaus überweist. Im Gatekeeper-System besitzt die Hausärztin oder der Hausarzt die Schlüsselposition für den weiteren Behandlungsweg. Die Versicherten müssen sich bei einer Hausärztin oder einem Hausarzt registrieren lassen, die/der die erste Anlaufstelle für die medizinische Versorgung darstellt. Ohne Überweisung durch die Hausärztin/den Hausarzt haben die niederländischen Versicherten keinen Zugang zu einer Fachärztin oder einem Facharzt beziehungsweise zu einer Krankenhausbehandlung. Das Ziel des Gatekeeper-Systems besteht darin, unnötige und doppelte Untersuchungen und Behandlungen dadurch zu vermeiden, dass mit der Hausärztin oder dem Hausarzt eine medizinische Expertin/ein medizinischer Experte über die notwendigen Arztkontakte entscheidet. Und tatsächlich decken die Hausärztinnen und -ärzte im Vergleich zum deutschen System der freien Arztwahl einen überdurchschnittlich hohen Anteil aller Arztkontakte ab.

Lange Zeit dominierte die hausärztliche Einzelpraxis das ambulante Versorgungsgeschehen, in der die einzelne Ärztin oder der einzelne Arzt als Selbstständige oder Selbstständiger tätig ist. In der jüngeren Vergangenheit hat sich hier allerdings ein bemerkenswerter Wandel vollzogen. Der Anteil der Allgemeinmedizinerinnen und -mediziner, die in einer Einzelpraxis arbeiten, sank von 1970 bis 2000 von 91 Prozent auf 43 Prozent. Stark zugenommen hat dagegen die Zahl der Gruppenpraxen und der Gesundheitszentren, in denen neben den Allgemeinmedizinerinnen und -medizinern auch Sozialarbeiterinnen und -arbeiter, Physiotherapeutinnen und -therapeuten sowie zuweilen auch Hebammen und Geburtshelfer tätig sind.

Fachärztliche Versorgung

Die Versorgung durch die Hausärztin beziehungsweise den Hausarzt (Primary Care) wird ergänzt durch die akutmedizinische fachärztliche Versorgung im Krankenhaus (Secondary Care). Der niederländische Krankenhaussektor unterscheidet sich von seinem deutschen Pendant dadurch, dass dort nicht nur stationäre, sondern auch ambulante Leistungen erbracht werden. Die Fachärztinnen und -ärzte, die sowohl die ambulanten als auch die stationären Leistungen erbringen, sind keine Angestellten des Krankenhauses, sondern verfügen (formal) über einen Selbstständigenstatus auf Basis von vertraglichen Vereinbarungen mit der jeweiligen Klinik.

In den Niederlanden gibt es etwa 130 Krankenhäuser (ohne psychiatrische Kliniken), bei denen es sich zu über 90 Prozent um Non-Profit-Einrichtungen in privatem Besitz handelt. Die restlichen knapp zehn Prozent sind öffentliche Einrichtungen, vor allem Universitätskliniken. Es existieren circa 100 allgemeine Krankenhäuser, die eine breite Palette medizinischer Leistungen anbieten. Der Rest sind spezialisierte Kliniken, deren Versorgung sich auf ein Fachgebiet, auf einzelne Krankheiten oder bestimmte Patientengruppen beschränkt.

Die Versorgungsdichte im stationären Sektor bemisst sich an der Zahl der Betten pro 1.000 Einwohner. Hier ist in den Niederlanden in den vergangenen Jahren ein Rückgang zu beobachten. Bei den Häusern der Akutversorgung sank die Bettendichte zwischen 1990 und 2010 von 3,8 auf 3,3 Betten je 1.000 Einwohner. Damit ist die Bettendichte in den Niederlanden weniger als halb so hoch wie in Deutschland (6,1 Betten je 1.000 Einwohner im Jahr 2010) (Datenreport 2013).

Versorgungsprobleme

Mit Blick auf die medizinische Versorgung werden in den Niederlanden verschiedene Probleme diskutiert. Im Folgenden werden zwei Problemkomplexe skizziert, die bereits seit Längerem Gegenstand gesundheitspolitischer Debatten sind: Die Schnittstellenproblematik zwischen ambulantem und stationärem Sektor sowie die Wartelisten in der stationären Versorgung.

Das Gatekeeper-System soll dazu beitragen, die Patientinnen und Patienten bedarfsorientiert durch die Versorgungsstrukturen des Gesundheitswesens zu leiten und überflüssige Untersuchungen und Behandlungen zu vermeiden. Daher ist den Hausärztinnen und -ärzten eine Schlüsselposition im System zugewiesen worden. Sie entscheiden auch darüber, ob Patientinnen und Patienten in stationäre Einrichtungen überwiesen und dort von Fachärztinnen und -ärzten weiterbehandelt werden. Allerdings bestehen beim Übergang zwischen ambulantem und stationärem Sektor organisatorische und finanzielle Hürden, die eine effektive Krankenversorgung beeinträchtigen. Dieses Schnittstellenproblem, das wir auch aus dem deutschen Gesundheitswesen kennen, trifft insbesondere Personengruppen, die in langwieriger oder dauerhafter medizinischer Behandlung sind. Die Barrieren zwischen den verschiedenen Versorgungssektoren erschweren insbesondere chronisch kranken Patientinnen und Patienten, die häufig zwischen ambulanter und stationärer Versorgung wechseln, einen reibungslosen Behandlungsablauf. Damit ist nicht nur ein erhöhter organisatorischer Aufwand verbunden, der sektorale Übergang kann sich auch negativ auf Kontinuität und Qualität der Behandlung auswirken. Zeitliche Verzögerungen und schlechte Kommunikation zwischen den behandelnden Berufsgruppen der verschiedenen Einrichtungen gehen letztlich zulasten der betroffenen Patientinnen und Patienten. Aus diesem Grund hat der Nationale Gesundheitsrat (Nationale Raad voor de Volksgezondheid) bereits 1994 das Konzept "Transmural Care" entwickelt. Die "mauernübergreifende" Versorgung soll an den Bedürfnissen der Patientinnen und Patienten orientiert sein, die Kooperation und Koordination zwischen Haus- und Fachärztinnen und -ärzten verbessern sowie Verantwortungsbereiche definieren, die von den verschiedenen Berufsgruppen gemeinsam beziehungsweise separat auszufüllen sind.

Eine Schwierigkeit der stationären Versorgung in den Niederlanden besteht darin, dass eine beträchtliche Zahl von Patientinnen und Patienten auf ihre anstehende Krankenhausbehandlung warten muss. Das Problem der Wartelisten verschärfte sich in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre. Im Oktober 2001 warteten 185.000 Niederländerinnen und Niederländer auf eine Krankenhausbehandlung. Die durchschnittliche Wartezeit lag bei drei Monaten. Ende der 1990er-Jahre setzte die Regierung ein "Wartelistenkomitee" ein, das die Ursachen der zeitlichen Verzögerungen analysieren und Lösungsvorschläge erstellen sollte. Die Analyse deutete auf drei wesentliche Problemkomplexe hin: eine finanzielle Unterausstattung aufseiten der Leistungsanbieter, organisatorische Defizite bei der Leistungserbringung sowie ein Mangel an Fachpersonal (sowohl auf der ärztlichen als auch auf der pflegerischen Seite). In den Folgejahren stellte die Regierung zusätzliche Finanzmittel zur Verfügung, mit denen die Wartezeiten im Krankenhaussektor verringert werden sollten. Die Maßnahmen erhöhten die öffentlichen Gesundheitsausgaben deutlich und führten tatsächlich zu einer Reduzierung der Wartelisten. Ein Bericht an das Gesundheitsministerium aus dem Jahr 2004 stellte fest, dass zwei Drittel der 139.000 Wartenden ihre Behandlung in einem Zeitrahmen von vier bis fünf Wochen erhielten. Nach Auffassung des Ministeriums handelt es sich dabei um einen vertretbaren Zeitraum. Trotz der Verkürzung der Wartezeiten in den vergangenen Jahren bleiben die knappen Kapazitäten im stationären Sektor dennoch ein Konfliktthema in der niederländischen Gesundheitspolitik.

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Prof. Dr. Dr. Thomas Gerlinger ist Professor an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld, AG 1: Gesundheitssysteme, Gesundheitspolitik und Gesundheitssoziologie.