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Jüngere Reformen in der Gesundheitspolitik der Niederlande | Gesundheitspolitik | bpb.de

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Jüngere Reformen in der Gesundheitspolitik der Niederlande

Thomas Gerlinger

/ 6 Minuten zu lesen

Pflegekosten im Universitätskrankenhaus in Leiden. (© picture-alliance / Ton Koene )

Ähnlich wie in der Bundesrepublik Deutschland gibt es in der niederländischen Gesundheitspolitik seit mehreren Jahrzehnten intensive Debatten um notwendige Reformschritte. Mit der Einführung des Allgemeinen Gesetzes über besondere Krankheitskosten (Algemene Wet Bijzondere Ziektekosten – AWBZ) im Jahr 1967 war das dreigliedrige System der Krankenversicherung vervollständigt worden. Im Unterschied zur aktuellen Gesetzeslage war die Säule der Akutversicherungen bis 2005 jedoch noch einmal in zwei unterschiedliche Bereiche aufgeteilt. Für die finanzielle Sicherung der Akutversorgung waren – ähnlich wie in Deutschland – einerseits gesetzliche Versicherungen (Ziektefondswet – ZFW) und andererseits private Versicherungen zuständig.

Die Komplexität des Versicherungssystems und die Dualität von privaten und gesetzlichen Versicherungen, die zu einer hohen und schwer überschaubaren Regelungsdichte geführt hatten, lösten bereits in den 1970er-Jahren Debatten über eine grundlegende Reform des niederländischen Krankenversicherungssystems aus. Aus dem Jahr 1974 stammte der Vorschlag aus einem Strukturbericht an die Regierung, eine einheitliche Volksversicherung für alle Einwohnerinnen und Einwohner der Niederlande zu schaffen ("Hendriks-Plan"). Dieser Vorstoß wurde jedoch vorerst nicht weiter verfolgt.

Die steigenden Ausgaben im Gesundheitswesen und die fehlgeschlagenen staatlichen Steuerungsversuche auf dem Gebiet der Kostendämpfung und der Qualitätssicherung ließen jedoch auch in den Folgejahren die Diskussionen um eine große Gesundheitsreform nicht verstummen. In den 1980er-Jahren nahm die Reformdiskussion eine neue Wendung. Die Regierung beauftragte eine Kommission unter dem Vorsitz des ehemaligen Managers des Elektronikkonzerns Philipps, Wisse Dekker, ein Reformkonzept für das Gesundheitswesen zu entwickeln. Mit dem Dekker-Report von 1987 wurde eine gesundheitspolitische Strategie entwickelt, mit der die Rolle des Staates im Gesundheitswesen reduziert und die Entwicklung der Krankenversicherungen verstärkt dem Wettbewerb überantwortet werden sollte.

Der Dekker-Report benannte drei Kernprobleme des Systems:

  1. die komplexe Finanzierungsstruktur, die durch die Trennung in Akut- und Langzeitversorgung entstanden sei

  2. die Aufteilung in eine öffentliche und eine private Krankenversicherung, die den Finanzierungsträgern zu wenig Anreize zu effizientem Handeln böte und die Privatversicherungen zur Risikoselektion, das heißt zu einer Konzentration auf Versicherte mit geringen Gesundheitsproblemen veranlasste

  3. das Scheitern der staatlichen Steuerung bei dem Versuch, die Kostenentwicklung im Gesundheitswesen zu dämpfen

Die Kommission setzte in ihren Vorschlägen einerseits auf eine Vereinheitlichung des Versicherungsmarktes, mit der unter anderem die Unterschiede zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung abgeschafft werden sollten. Die Intensivierung eines (staatlich regulierten) Wettbewerbs zwischen den Finanzierungsträgern und den medizinischen Leistungserbringern sollte die Wirtschaftlichkeit des Systems erhöhen.

Die Gesundheitsreform 2006

Nachdem in den 1990er-Jahren verschiedene kleinere Schritte in Richtung des Wettbewerbsmodells gegangen worden waren, trat am 1. Januar 2006 eine weitreichende Strukturreform im niederländischen Gesundheitswesen in Kraft. Die Regierungskoalition aus Christdemokraten (CDA), Liberalen (VVD) und Demokraten (D66) hatten umfangreiche Veränderungen im System der Krankenversicherung beschlossen. Mit der Reform wurden mehrere Ziele verfolgt: Die Fragmentierung des Finanzierungssystems sollte reduziert werden. Die Ausgabenentwicklung sollte gebremst werden, indem das System effizienter gestaltet wird. Zudem sollten Qualitätsdefizite behoben und kontinuierliche Qualitätsverbesserungen gefördert werden. Schließlich sollten Innovationen unterstützt und schneller implementiert werden. Das zentrale Steuerungsinstrument, mit dem diese Ziele erreicht werden sollen, ist der Wettbewerb. Sowohl aufseiten der Krankenversicherungen als auch aufseiten der Leistungsanbieter wurden neue Wettbewerbselemente eingeführt, die das Verhalten der Akteure in die gewünschte Richtung lenken sollen. Eine wichtige Stellung in diesem Konzept besitzen die Versicherten, die durch die ihnen eingeräumten Wahlmöglichkeiten effizienten und qualitativ hochwertigen Angebote einen Wettbewerbsvorteil verschaffen sollen.

Im Mittelpunkt der Reform von 2006 stand die zweite Säule der Krankenversicherung, die bis zum Jahr 2005 in einen gesetzlichen und einen privaten Versicherungszweig aufgeteilt war. Die "alte" Krankenversicherung beruhte auf dem Ziekenfondswet (ZFW). Die gesetzliche Krankenversicherung war eine Pflichtversicherung für Beschäftigte, die über ein Einkommen unterhalb einer definierten Schwelle verfügten. Beschäftigte mit einem Einkommen oberhalb der Versicherungspflichtgrenze konnten sich freiwillig bei einer privaten Krankenversicherung einschreiben. Eine freiwillige Versicherung innerhalb des gesetzlichen Systems – wie dies in Deutschland der Fall ist – existierte in den Niederlanden nicht. Die gesetzliche Versicherung finanzierte sich über Beiträge, die sich aus einem Arbeitgeberanteil (5,55 Prozent des Bruttoeinkommens) und einem Arbeitnehmeranteil (1,35 Prozent) zusammensetzten. Hinzu kam ein Pauschalbetrag von 104 Euro pro Jahr, den alle erwachsenen Versicherten unabhängig von ihrer finanziellen Situation zu entrichten hatten (kleine Kopfprämie). Die privaten Versicherungen kannten keinen Kontrahierungszwang, das heißt, sie konnten sich ihre Versicherten anhand des Gesundheitszustandes aussuchen und dadurch ihr versicherungsmathematisches Risiko reduzieren (Risikoselektion).

Mit dem Inkrafttreten des ZVW im Jahr 2006 wurden die Unterschiede zwischen gesetzlicher und privater Versicherungen abgeschafft. Nunmehr handeln alle Versicherungen – auch die ehemals gesetzlichen – auf einer privatrechtlichen Grundlage. Sie sind berechtigt, Profite zu erzielen und Dividenden an Anteilseigner auszuzahlen. Alle Krankenversicherungen der zweiten Säule konkurrieren seitdem im Rahmen einer einheitlichen Wettbewerbsordnung.

Die Regierung weitete zudem den Wettbewerb zwischen den Leistungserbringern aus, um dadurch die Kostenentwicklung zu bremsen und der Qualitätssicherung einen höheren Stellenwert zu verschaffen. Die Nachfragesteuerung durch den Verbraucher wurde gefördert, indem die Wahlmöglichkeiten der Versicherten beziehungsweise Patientinnen und Patienten auf dem Versicherungsmarkt ausgeweitet wurden. Den Versicherungen wurden verstärkt Instrumente in die Hand gegeben, mit denen sie um ihre Kundinnen und Kunden konkurrieren sollen. Neben der Höhe des pauschalen Beitragsbestandteils ist hier vor allem das Angebot verschiedener Tarife (Selbstbehalte etc.) zu nennen, aus denen die Versicherten wählen können.

Auch im Verhältnis der Leistungsanbieter (Ärztinnen, Ärzte, Krankenhäuser) wurde der Wettbewerb als Steuerungsinstrument gestärkt. Voraussetzung hierfür war, dass einzelnen Versicherungen und Leistungsanbietern verstärkt die Möglichkeit eingeräumt wurde, selektive Verträge abzuschließen. Dies bedeutet, dass die Leistungsanbieter um Vertragsabschlüsse mit den Versicherungen konkurrieren. In diesem Wettbewerb spielen einerseits Preise eine wichtige Rolle, andererseits soll der Nachweis besserer Qualität zu einem zentralen Wettbewerbsparameter werden. Zu diesem Zweck soll die Transparenz über das Qualitätsniveau der Anbieter erhöht werden, indem Daten und Rankings über die einzelnen Krankenhäuser öffentlich zugänglich gemacht werden.

Ausbau der Eigenbeteiligung

Mit der Gesundheitsreform von 2006 wurde in die Finanzierung der Krankenversicherung das Instrument der Beitragsrückerstattung eingeführt, durch das das Kostenbewusstsein der Versicherten gestärkt werden sollte. Das "No-Claim-Arrangement" (NCA) bedeutet, dass ein Teil der Versicherungsprämie als im Voraus zu leistende Zuzahlung entrichtet wird. Jede und jeder Versicherte muss seitdem 255 Euro Vorauszahlung leisten, die sie/er nur dann vollständig zurückerhält, wenn sie/er am Jahresende keine medizinischen Leistungen in Anspruch genommen hat. Ausgenommen vom NCA sind Leistungen, die durch die Hausärztin beziehungsweise den Hausarzt oder aufgrund von Schwangerschaft erbracht werden. Hat eine Versicherte oder ein Versicherter weniger als 255 Euro an Kosten verursacht, wird ihr/ihm die Differenz am Jahresende zurückerstattet. Übersteigen die Behandlungskosten 255 Euro, wird keine Rückerstattung geleistet.

Mit der Einführung dieses Versicherungselements sollten die Versicherten dazu angehalten werden, die Entscheidung über eine Inanspruchnahme medizinischer Leistungen gründlich abzuwägen, um auf diese Weise unnötige Arztkontakte zu vermeiden und die Ausgaben des Gesundheitswesens zu reduzieren. Die Einführung des NCA war politisch jedoch hochgradig umstritten. Nicht nur die politische Linke, sondern auch die Ärzteschaft, die Versicherungen und die Patientenorganisationen lehnten die Maßnahme als unsolidarisch, medizinisch zweifelhaft und verwaltungstechnisch aufwendig ab. Erste Evaluationen des NCA nach seiner Einführung zeigen, dass alte Menschen, chronisch Kranke sowie Empfängerinnen und Empfänger von Sozialleistungen die höchsten Zuzahlungen leisten. Gleichzeitig hat sich der beabsichtigte Einsparungseffekt nicht im erhofften Maß realisieren lassen.

Die Parlamentswahlen im November 2006 verschoben die politischen Kräfteverhältnisse. Die christlich-liberale Regierung, die das NCA beschlossen hatte, verlor ihre Mehrheit. Die Sozialdemokraten wurden an der Regierung Balkenende beteiligt. Die neue Regierung beschloss die Abschaffung des NCA zum Januar 2008, hält jedoch am Gedanken der stärkeren Eigenbeteiligung der Patientinnen und Patienten fest. Das NCA wird ersetzt durch einen verbindlichen Selbstbehalt für alle Versicherten in Höhe von 350 Euro (2013) pro Jahr (Sociale Verzekeringsbank 2013), das heißt, bis zu diesem Betrag muss die Patientin oder der Patient die erstmals anfallenden Behandlungskosten selbst tragen. Für Personen, die eine chronische Erkrankung oder eine Behinderung aufweisen, die die Inanspruchnahme medizinischer Leistungen unvermeidlich machen, wird eine finanzielle Kompensation durch den Staat eingeführt.

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Prof. Dr. Dr. Thomas Gerlinger ist Professor an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld, AG 1: Gesundheitssysteme, Gesundheitspolitik und Gesundheitssoziologie.