Das Bundeswahlrecht im Meinungsstreit: Überhangmandate und Grundmandatsklausel
Die in den Wahlkreisen gewonnenen Parlamentssitze bleiben einer Partei auch dann, wenn ihnen nach den eigentlich maßgeblichen Zweitstimmen weniger Mandate zustünden. Überhangmandate führten daher schon zu Gerichtsverfahren. Karl-Rudolf Korte beschreibt das Problem anhand von Beispielen aus Bundes- und Landtagswahlen.
Die insgesamt 16 Überhangmandate der Wahl von 1994 bedeuteten einen neuen Rekord. Statt der vorgesehenen 656 Abgeordneten, von denen eine Hälfte über die Erststimmen und die andere Hälfte über die Zweitstimmen vergeben werden, erhielten 672 Kandidatinnen und Kandidaten einen Sitz im Bundestag.
Bis auf die Wahlen von 1961, 2002 und 2005 sowie die erste gesamtdeutsche Bundestagswahl im Jahr 1990 (dabei ergaben sich sechs Überhangmandate) blieb die Zahl immer unter vier. Zwischen 1965 und 1976 gab es sogar kein einziges Überhangmandat.
Bei den fünf gesamtdeutschen Bundestagswahlen 1990, 1994, 1998, 2002 und 2005 gab es mit insgesamt 56 Überhangmandaten über zwei Drittel aller überhaupt in der Geschichte der Bundestagswahlen vergebenen 73 Überhangmandate. Das Bundeswahlgesetz regelt diese Problematik in Paragraf 6, Absatz 5. Erklärt wird darin das Zustandekommen von Überhangmandaten, die nicht mehr in die Berechnung der Zweitstimmen und die daraus folgende, mögliche Zuteilung eines Zusatzmandates (§ 6, Absatz 2 und 3 BWahlG) miteinbezogen werden, sondern einfach nur zusätzlich hinzukommen.
Überhangmandate gibt es auch bei Landtagswahlen. In einigen Ländern werden Überhangmandate durch zusätzliche Mandate entsprechend den Zweitstimmenanteilen für die übrigen Parteien ausgeglichen. Man spricht dann von Ausgleichsmandaten. Solche Ausgleichsmandate gibt es zum Beispiel bei der niedersächsischen Landtagswahl.
Mitentscheidend für das Zustandekommen von Überhangmandaten ist, dass die Bundestagsmandate in jedem Bundesland gesondert berechnet werden. Die 598 Mandate werden nach der Einwohnerzahl auf die 16 Länder verteilt. So erhält Nordrhein-Westfalen als größtes Bundesland 128 Mandate, Bremen als kleinstes vier Mandate. Baden-Württemberg erhält zunächst einmal 74 Mandate (Wahlkreise und damit die Zahl der Direktmandate werden nach Einwohnerrelationen gebildet). Dann wird in jedem Land entsprechend dem Zweitstimmenanteil errechnet, wie viele Abgeordnete jede Partei in den Bundestag entsenden kann.
In Baden-Württemberg waren dies 2005 für die CDU, die landesweit 39,2 % der Zweitstimmen erhalten hatte, 30 Mandate. Die Christdemokraten gewannen jedoch 33 der 37 Direktmandate. Damit hatte die CDU drei Mandate mehr erreicht, als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zugestanden hätte. Da alle Wahlkreisgewinner in den Deutschen Bundestag einzogen, waren drei zusätzliche Mandate notwendig, die das Parlament entsprechend vergrößerten. Das nennt man Überhangmandate.
Die anderen vier Überhangmandate erzielte die CDU 2005 in Sachsen. Da auch die SPD sieben ihrer neun zusätzlichen Mandate in Brandenburg und Sachsen-Anhalt errang, kamen elf von 16 Überhangmandaten aus den ostdeutschen Bundesländern. Auch bei den anderen vier gesamtdeutschen Bundestagswahlen kamen die meisten Überhangmandate aus den neuen Bundesländern. So erzielte die SPD bei der Bundestagswahl 1998 beispielsweise 13 Überhangmandate, davon allein zwölf in Ostdeutschland. Nach wie vor profitieren also vor allem ostdeutsche Kandidatinnen und Kandidaten von dieser Regelung.
Die erhöhte Zahl an Überhangmandaten schien also in erster Linie eine Folge der Wiedervereinigung zu sein. Die Relationen schienen nicht mehr zu stimmen: In den neuen Bundesländern gab es zu viele Wahlkreise mit wenigen Wahlberechtigten. Für ein Direktmandat reichten also weniger Stimmen. Zu diesem Schluss kam auch das Statistische Bundesamt bei der Analyse der Überhangmandate: Vor allem die große Zahl relativ kleiner Wahlkreise in den neuen Bundesländern hätte zu einer Überbewertung der Erststimmen geführt. Die Bundeswahlkommission hatte schon 1992 in einem Memorandum an den Bundestag darauf hingewiesen, dass der Zuschnitt der Wahlkreise in den östlichen Bundesländern "problematisch" sei. Insbesondere stehe die Größe der dortigen Wahlkreise in keinem Verhältnis zu der Zahl der Wahlberechtigten in westlichen Wahlkreisen.
Überhangmandate
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Außer den 13 Überhangmandaten von 1998 in Ostdeutschland kann man theoretisch auch eines der beiden Zusatzmandate in Baden-Württemberg als Folge der "Wende" ansehen: Obwohl die PDS dort nämlich nur 0,65 Prozent der Zweitstimmen erhielt, bekam sie ein Mandat. Hätte die PDS in Berlin nicht vier Direktmandate erzielt und so die Fünfprozenthürde außer Kraft gesetzt, hätte die CDU in Baden-Württemberg nach dem Zweitstimmenanteil ein Mandat mehr erhalten und wäre so nur zu einem Überhangmandat gekommen. Die hohe Zahl an Überhangmandaten hing also wohl auch mit der sogenannten Grundmandatsklausel zusammen, die der PDS im Jahr 1994 den Einzug in den Bundestag ermöglichte.
Ein weiterer Grund für Überhangmandate kann eine niedrige Wahlbeteiligung sein. Sie betrug bei der Bundestagswahl 1990 in Mecklenburg-Vorpommern (zwei Überhangmandate) nur 70,9 und in Sachsen-Anhalt (drei Überhangmandate) nur 72,2 Prozent, während der Bundesdurchschnitt bei 77,8 Prozent lag. Zudem hatten in Thüringen und Sachsen-Anhalt die kleineren Parteien, die in den Bundestag gelangten, besonders hohe Zweitstimmenanteile: die FDP in Thüringen 14,6 Prozent und in Sachsen-Anhalt 19,7 Prozent. In Mecklenburg-Vorpommern kam die PDS auf 14,2 Prozent. Dies verringerte den Zweitstimmenanteil der großen Parteien, CDU und SPD, die mit Ausnahme von zwei Wahlkreisen alle Direktmandate gewinnen konnten. Das bedeutet, dass in Ländern mit schwächeren Zweitstimmenergebnissen und folglich weniger Listenplätzen für die großen Parteien die Chance auf zusätzliche Mandate steigt.
Das Statistische Bundesamt sieht in der massiven Zunahme von Stimmensplitting einen der Hauptgründe für die Zunahme von Überhangmandaten. Immer mehr Wählerinnen und Wähler geben also bei Bundestagswahlen ihre Erst- und ihre Zweitstimme verschiedenen Parteien. Dadurch können die großen Parteien ein Übergewicht an Erststimmen erhalten. Je größer die Diskrepanz zwischen der Anzahl der erreichten Direktmandate und dem Zweitstimmenanteil ist, desto höher ist die Zahl der Überhangmandate. Stimmensplitting gibt es inzwischen auch bei der Wählerschaft von Bündnis 90/Die Grünen; sie wählen mit der Erststimme den vermeintlich aussichtsreicheren SPD-Kandidaten.
Von den 73 Überhangmandaten seit der Bundestagswahl von 1949 erhielt die CDU mit 38 Mandaten die meisten. Die SPD hatte 34-mal (davon 13-mal alleine bei der Wahl 1998), die Deutsche Partei (DP) nur ein Mal diesen Vorteil. Mit Ausnahme der DP profitieren also nur die großen Parteien von den Überhangmandaten. Dies hängt damit zusammen, dass die Direktmandate fast ausschließlich an die Unionsparteien und die SPD gehen. So konnten 1990 jeweils nur die FDP und ein PDS-Kandidat, 1994 und 1998 vier und 2002 zwei PDS-Kandidaten je einen Wahlkreis gewinnen. Bei der Wahl 2002 erreichten die Grünen in Berlin erstmals seit ihrem Bestehen ein Direktmandat. Die Partei Die Linke.PDS konnte bei der Bundestagswahl 2005 drei Wahlkreise direkt gewinnen.
Wenn man die bisherigen Überhangmandate nach Ländern aufschlüsselt, fällt auf, dass es mit Ausnahme von Baden-Württemberg nur in kleinen Bundesländern zu Überhangmandaten gekommen ist. Dabei liegt Schleswig-Holstein (knapp 2,8 Millionen Einwohner) mit zehn Überhangmandaten vorne. In Hamburg (1,7 Millionen) gab es drei, im Saarland (1,1 Millionen) zwei. Im kleinsten Bundesland Bremen (680.000), das 1994 nur aus drei Wahlkreisen bestand, wurden insgesamt drei Überhangmandate vergeben. Bei der ersten Bundestagswahl hatte noch das damals eigenständige Baden ein Überhangmandat. In großen Ländern wie Nordrhein-Westfalen oder Bayern gab es im Gegensatz dazu noch nie Überhangmandate.