Die Krux mit den Überhangmandaten
Eine Paradoxie im Wahlrecht führt dazu, dass Wähler ihrer Partei in bestimmten Situationen mit der Zweitstimme schaden können. Wegen des "negativen Stimmgewichtes" hat das Bundesverfassungsgericht Teile des geltenden Wahlrechts für verfassungswidrig erklärt. Doch vor der Bundestagswahl 2009 wurde das Wahlrecht nicht mehr geändert.
Film und Text geben den Stand zur letzten Bundestagswahl 2009 wieder. Ein neuer Beitrag, der das im Februar 2013 vom Bundestag veränderte Wahlgesetz beschreibt ist online zu finden unter: Das neue Wahlrecht und die Krux mit den Überhangmandaten
Die Abgeordneten des Bundestages werden "in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt". So steht es im Artikel 38 Grundgesetz. Doch der Weg, wie aus der verfassungsrechtlichen Norm ein reales Parlament mit in der Regel 598 Abgeordneten wird, ist kompliziert. Aufwendige mathematische Berechnungen sind notwendig, um den Wählerwillen umzusetzen. Bis ins Detail ist das Verfahren im Bundeswahlgesetz geregelt.
Trotzdem birgt das Gesetz bis heute eine Paradoxie. Denn entgegen der Anforderung des Grundgesetzes ist die Bundestagswahl immer dann weder gleich noch unmittelbar, wenn eine Partei Überhangmandate erringt. Also immer dann, wenn sie in einem Bundesland mehr Direktmandate gewinnt, als ihr nach dem Zweitstimmenanteil zustehen.
Schuld daran sind nicht die Überhangmandate an sich, sondern das sogenannte "negative Stimmgewicht". Dieses entsteht, weil Überhangmandate, die in einzelnen Ländern anfallen, nicht zwischen den Bundesländern ausgeglichen werden. Die Folgen sind paradox. Denn somit kann eine Partei, sofern sie in einem Bundesland auf Grund ihrer Stärke bei den Erststimmen Überhangmandate erringt, insgesamt umso mehr Sitze im Bundestag zugeteilt bekommen, je weniger Zweitstimmen sie in dem betreffenden Land erhält. Umgekehrt kann eine Partei bei einem hohen Anteil an Zweitstimmen insgesamt Sitze verlieren, weil sie dann in dem Bundesland keine Überhangmandate mehr zugeteilt bekommt.
Experten kannten diese Paradoxie seit langem. Schon bei der Bundestagswahl 1957 trat sie erstmals in Schleswig-Holstein auf. Seit 1980 lässt sie sich in einzelnen Bundesländern bei jeder Bundestagswahl regelmäßig feststellen. Einer breiteren Öffentlichkeit jedoch wurde die mögliche Wirkung des negativen Stimmgewichts erst bei der Bundestagswahl 2005 vor Augen geführt. Erstmals ließ sich der paradoxe Effekt exakt vorhersagen, weil es im Wahlkreis 160 in Dresden zu einer Nachwahl kam.
Die Abstimmung in dem sächsischen Wahlkreis musste wegen des Todes einer Kandidatin 14 Tage nach dem offiziellen Wahltermin am 18. September nachgeholt werden. Das Bundesergebnis für die Parteien stand an diesem Tag weitgehend fest. Bei der Nachwahl konnte zudem davon ausgegangen werden, dass die CDU diesen für sie sicheren Dresdener Wahlkreis direkt gewinnt. Somit konnten Wahlmathematiker bereits im Vorfeld die möglichen Auswirkungen des negativen Stimmgewichts für alle Wähler nachvollziehbar darlegen. Demnach hätte die CDU einen Sitz im Bundestag verloren, in Sachsen statt vier nur drei Überhangmandate erzielt, wenn sie bei der Nachwahl mehr als 41.225 Zweitstimmen bekommen hätte. Denn anders als das Direktmandat wäre das zusätzliche sächsische Listenmandat mit anderen Landeslisten der CDU verrechnet worden. Es hätte bei der nordrhein-westfälischen CDU zum Verlust eines Listenmandates geführt.
Die Anhänger der Union in Dresden verstanden die Botschaft und etwa jeder dritte verhielt sich taktisch. 57.925 von ihnen wählten mit der Erststimme die CDU, aber nur 38.202 mit der Zweitstimme. So sicherten sie ihrer Partei einen zusätzlichen Sitz im Bundestag.
Selbst für die Richter des Bundesverfassungsgerichts war damit der Einfluss des negativen Stimmgewichts auf die Wähler "offenbar" geworden. Deshalb erklärten sie Teile des geltenden Wahlrechts am 3. Juli 2008 für "verfassungswidrig" und gaben damit mehreren Wahlprüfungsbeschwerden statt. Jeder Wähler müsse "den gleichen Einfluss auf das Wahlergebnis" haben, so schrieben die Karlsruher Richter in ihrem Urteil (BvC 1/07, 2 BvC 7/07). Deshalb verletze das negative Stimmgewicht "die verfassungsrechtlichen Grundsätze der Gleichheit und der Unmittelbarkeit der Wahl". Es führe zu "willkürlichen Ergebnissen" und bewirke, "dass der Wählerwille in sein Gegenteil verkehrt wird".

Zwingend war das nicht. Eine Mehrheit der Bundestagsabgeordneten hätte das Wahlrecht auch noch in dieser Legislaturperiode ändern können. Die SPD drängte darauf. Die Fraktion der Grünen brachte sogar einen eigenen Gesetzentwurf im Bundestag ein. Doch sowohl CDU und CSU als auch die FDP mochten sich nicht unter Zeitdruck setzen lassen und lehnten deshalb eine kurzfristige Änderung des Wahlrechts ab. Womöglich jedoch spielte bei der CDU auch das Kalkül eine Rolle, bei der Bundestagswahl am 27. September mehr als die SPD von Überhangmandaten profitieren zu können.