Wirtschaftliche Ungleichgewichte in der EU
Wirtschaftliche Ungleichgewichte betreffen Preisentwicklung, Beschäftigung, öffentliche Haushalte und Außenhandel. Werden wirtschaftliche Ungleichgewichte in der EU beklagt, so muss man genau hinsehen, um was es sich dabei handelt und in wieweit ein "ungesunder" Zustand vorliegt.
1. Gleichgewicht
Schon der Begriff „wirtschaftliches Ungleichgewicht“ deutet an, dass es hier um etwas Ungesundes geht. Der ökonomische Gleichgewichtsbegriff leitet sich zum einen aus der Buchhaltung ab. Eine Bilanz (vom italienischen bilanciare = im Gleichgewicht halten) oder ein Haushalt ist im Gleichgewicht, wenn die Forderungen die Verbindlichkeiten decken bzw. die Einnahmen die Ausgaben. Zum anderen wird in Analogie zur Physik das Marktgleichgewicht als ein Zustand definiert, in dem die Marktkräfte von Angebot und Nachfrage sich ausgleichen. So herrscht auf dem Arbeitsmarkt Gleichgewicht, wenn Vollbeschäftigung vorliegt. Auf dem Außenwirtschaftsmarkt herrscht Gleichgewicht, wenn die Leistungsbilanz einen Saldo von Null aufweist. Die Warenmärkte sind im Gleichgewicht, wenn weder von Angebots- noch von Nachfrageseite ein Druck auf die Preise ausgeht, diese also stabil sind. Wie in der Physik bedeutet Gleichgewicht nicht notwendigerweise, dass ein System sich in Ruhe befindet: Ein dynamisches oder Wachstumsgleichgewicht liegt vor, wenn die Wachstumskräfte in einem stabilen Verhältnis zu einander stehen und ein kontinuierlicher Wachstumspfad eingehalten wird.
Wie das Beispiel von öffentlichem Haushalt und Wirtschaftswachstum andeutet, hängen die einzelnen Gleichgewichte miteinander zusammen. Die komplexe Mechanik des Gesamtsystems ist Gegenstand der Wirtschaftstheorie, und die ist sich noch keineswegs sicher, diese Mechanik bis in alle Einzelheiten zu verstehen. Die Therapie von Ungleichgewichten kennt deshalb eine herrschende Meinung, aber keinen Konsens über die zu ergreifenden Maßnahmen. Vor allem die Stabilität eines Gleichgewichts ist umstritten. Ein stabiles Gleichgewicht stellt sich wie in der Physik von selbst wieder her, wenn es einmal gestört ist. Das kann man dem Markt überlassen. Ein labiles Gleichgewicht muss durch geeignete Maßnahmen wiederhergestellt und aufrecht erhalten werden. Hier hat die Politik eine Aufgabe.
2. Inflation und Arbeitslosigkeit
Inflation und Arbeitslosigkeit sind die Ungleichgewichte, die der Bürger unmittelbar am eigenen Leibe zu spüren bekommt. Dank der Währungsunion und einer bislang ziemlich erfolgreichen Politik der EZB ist Inflation kein brennendes Problem in Europa, auch wenn die Zielmarke von 2 Prozent bisweilen überschritten wird. Anders verhält es sich mit der Arbeitslosigkeit. Bis zum Wirtschaftseinbruch von 2009, der von der globalen Finanzmarktkrise in den beiden vorangegangenen Jahren ausgelöst wurde, war es gerade gelungen, die Arbeitslosigkeit spürbar abzubauen. 2008 lag die Arbeitslosenquote (in der Definition von Eurostat) in 13 der 27 EU Länder unter 6 Prozent und nur in einem über 10 Prozent, in Spanien mit 11 Prozent. 2011 hatte sich die Situation grundlegend gewandelt: Nur noch 4 Länder hatten eine Arbeitslosigkeit von weniger als 6 Prozent (Deutschland, Niederlande, Österreich und Luxemburg), und in 10 Ländern lag sie über 10 %, am höchsten noch immer in Spanien mit 22 Prozent.Wenn das nicht schon schlimm genug ist, dann ist die Situation bei der Jugendbeschäftigung wirklich dramatisch. Im vierten Quartal 2011 betrug die Jugendarbeitslosigkeit (saisonbereinigt) nur in drei Ländern unter 10 Prozent (Deutschland, Österreich, Niederlande), aber in achtzehn Ländern über 20 Prozent. In fünf dieser achzehn Länder lag sie bei über 30 Prozent, In Portugal, Litauen und der Slowakei lag sie bei ungefähr 35 Prozent und in Griechenland und Spanien knapp unter 50 Prozent. Hierbei handelt es sich nicht nur um ein Rezessionsphänomen, sondern ganz eindeutig um ein strukturelles Problem. In Deutschland übersteigt die Quote der Jugendarbeitslosigkeit die allgemeine Arbeitslosenquote um 40 Prozent. Das ist der niedrigste Wert in Europa; in Italien sind es 250 Prozent. Zwar mögen auch statistische Erfassungsunterschiede bestehen, vor allem aber liegt dort die Eingliederung der jungen Menschen in den Arbeitsmarkt im Argen.
Angesichts der Unsummen, die für Euro-Rettungsschirme bereitgestellt oder garantiert werden, ist es beschämend, wie wenig für den Abbau dieses gesellschaftlich brisanten, europaweiten Arbeitsmarktungleichgewichts getan wird. Der Vorwurf richtet sich allerdings in erster Linie nicht gegen die EU, die im Bereich Arbeitsmarkt und Soziales nur über geringe Kompetenzen verfügt und schon gar nicht über finanzielle Mittel, um hier korrigierend einzugreifen.