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Globalisierungsverlierer entschädigen | Globaler Handel | bpb.de

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Globalisierungsverlierer entschädigen

Jens Südekum

/ 7 Minuten zu lesen

Alle Länder, so die Annahme klassischer Ökonomen, profitieren vom Außenhandel. Dennoch ist die Globalisierung in den vergangenen Jahren von links wie von rechts unter Beschuss geraten. Der Düsseldorfer Ökonom Jens Südekum rät deshalb, die Gewinne der Globalisierung breit zu streuen.

Großmarkt für Stahl in Shenyang (China). In den USA gelten seit Ende März 2018 Einfuhrzölle von 25 Prozent auf Stahl und zehn Prozent auf Aluminium aus China. (© dpa, picture alliance / Mark/EPA FILE)

Seit Mitte der 1980er wächst das weltweite Handelsvolumen deutlich schneller als die Produktion. Dieses Phänomen, die "Hyperglobalisierung", wurde durch viele Motoren angetrieben. Vermutlich am stärksten hat dazu der beispiellose Aufstieg Chinas in der Weltwirtschaft beigetragen. Bis dahin unterhielt China kaum nennenswerte Handelsbeziehungen mit der westlichen Welt. Durch die vom ehemaligen chinesischen Staatschef Deng Xiaoping forcierte Reformpolitik änderte sich dies schlagartig. Getragen durch ein massives Produktivitätswachstum und enorm verbesserte Marktzugangsbedingungen, die sich aus dem Beitritt zur Welthandelsorganisation (WTO) im Jahr 2001 ergaben, wuchs der Anteil Chinas am gesamten Welthandel zwischen 1985 und 2014 in einem historisch einzigartigen Prozess von praktisch null auf über 20 Prozent an.

Gemäß der bahnbrechenden Interner Link: Theorie des klassischen Ökonomen David Ricardo (1772-1823) generiert ein solcher Aufwuchs des Außenhandels Wohlfahrtsgewinne für alle beteiligten Länder. Es profitieren im konkreten Fall also sowohl China als auch entwickelte Industrienationen wie Deutschland oder die USA.

Jens Südekum (Privat) Lizenz: cc by-sa/4.0/deed.de

Der wichtigste Grund hierfür ist, dass Außenhandel internationale Arbeitsteilung erlaubt. Deutschland muss keine Ressourcen in der Produktion von Gütern binden, die China besser und günstiger herstellen kann. Deutschland kann diese Erzeugnisse – zum Beispiel Textilien – importieren und sich in der Produktion auf das konzentrieren, was es besonders gut kann. Diesen sogenannten komparativen Vorteil hat Deutschland typischerweise bei qualitativ hochwertigen und spezialisierten Industrieprodukten, zum Beispiel im Maschinenbau oder der Automobilindustrie.

Spiegelbildlich entsteht in Schwellenländern wie China ein exportgetriebenes Wachstum. Dieses wird zumindest in der Anfangsphase durch den Export einfacher, arbeitsintensiver Güter getragen. Im Gegenzug importiert China technologisch höher entwickelte Investitionsgüter, die heimische Produktionskapazitäten erweitern und dadurch zu Wirtschaftswachstum führen.

Diese Vorhersagen des Ricardo-Modells haben sich in der Realität ziemlich präzise bestätigt. Die chinesische Volkswirtschaft verzeichnete bisweilen Wachstumsraten von über zehn Prozent. Die realen Lebensverhältnisse von Millionen von Menschen haben sich erheblich verbessert. So ist der weltweite Anteil von Menschen in extremer Armut seit Anfang der 1990er Jahre von knapp 40 auf unter zehn Prozent gesunken, das globale Medianeinkommen – also das Einkommen, bei dem es genauso viele Menschen mit einem höheren wie mit einem niedrigeren Einkommen gibt – hat sich verdoppelt. Auch Kindersterblichkeit und Analphabetismus sind stark rückläufig. Ohne Globalisierung wäre diese Verbesserung der durchschnittlichen weltweiten Lebensbedingungen schlichtweg unvorstellbar.

250.000 gehen in Berlin gegen TTIP und CETA auf die Straße

Wie von Ricardo prognostiziert, profitierten auch die reichen Industriestaaten. Die vergangenen Jahre zeigten jedoch, dass die Globalisierung in der westlichen Welt nicht mehr den besten Ruf genießt. Im Oktober 2015 gingen in Berlin laut Angaben der Veranstalter rund 250.000 Menschen gegen die EU-Handelsabkommen mit den USA (TTIP) und Kanada (CETA) sowie für einen "fairen Welthandel" auf die Straße. Auch in den USA erhielt die Globalisierungskritik von links starken Zulauf, angeführt vom demokratischen Senator Bernie Sanders.

Auf der rechten Seite des politischen Spektrums sahen wir parallel das Erstarken populistischer und nationalistischer Strömungen. Die US-Präsidentschaftswahl konnte Donald Trump nur deshalb gewinnen, weil er traditionell demokratische Bundesstaaten wie Michigan und Pennsylvania auf seine Seite zog. Diese Staaten im amerikanischen "Rust Belt" haben in den vergangenen 25 Jahren einen schwerwiegenden wirtschaftlichen Abstieg erlebt, viel schlimmer als etwa das deutsche Ruhrgebiet. Dafür machte Trump die "schlechten Deals" verantwortlich, die seine Vorgänger vor allem mit China eingegangen seien und die zu einer Überflutung durch Importe und, damit korrespondierend, zu Beschäftigungsverlusten geführt hätten.

Im Vereinigten Königreich lief es ähnlich: Wäre nur in London abgestimmt worden, hätte es bei der Brexit-Abstimmung im Juni 2016 eine 60-prozentige Mehrheit für den Verbleib Großbritanniens in der EU gegeben. Aber in den ehemaligen Industriezentren in Nord- und Mittelengland sahen sich viele Wähler von den urbanen Eliten abgehängt und nicht mehr repräsentiert. Der Begriff des "Globalisierungsverlierers" machte die Runde. Und eben jener Begriff ist mittlerweile auch im deutschen Diskurs angekommen, wenn es um die Wahlerfolge der AfD geht.

Zwischen der Globalisierungskritik von links und rechts gibt es offensichtliche weltanschauliche Unterschiede. Aber allein die vielen rhetorischen Parallelen, die es zwischen Trump und Sanders beim Thema Außenhandel gibt, zeigen, dass beide im Kern um dasselbe Problem kreisen: die Verteilungseffekte der Globalisierung.

Außenhandel führt auch zu Strukturwandel

Die Existenz von Globalisierungsverlierern steht nämlich keineswegs im Widerspruch zur Aussage Ricardos, dass alle Länder vom Außenhandel profitieren. Diese Erkenntnis basiert auf dem Theorem von Wolfgang Stolper und dem Nobelpreisträger Paul Samuelson aus dem Jahr 1941.

Danach koexistiert ein aggregierter Wohlfahrtsgewinn mit individuellen Verlusten. Globalisierung erzeugt innerhalb eines Landes Gewinner und Verlierer und der Gesamtzuwachs kommt zustande, weil die Gewinner stärker gewinnen als die Verlierer verlieren.

Einerseits führt Außenhandel zu handfesten Vorteilen für alle, nämlich neue, bessere und günstigere Produkte. Aber Außenhandel führt auch zu Strukturwandel: Länder spezialisieren sich auf die Bereiche, in denen sie besonders gut sind. Deutschland und die USA haben im Weltmaßstab einen komparativen Vorteil bei technologisch hochentwickelten Gütern. Schwellenländer wie China haben ihren komparativen Vorteil hingegen eher in arbeitsintensiven Branchen. Folglich werden diese Branchen – etwa die Textil- oder Spielwarenindustrie – im Zuge des Globalisierungsprozesses in Deutschland schrumpfen, weil wir diese Güter fortan importieren. Hierdurch werden bei uns Arbeitskräfte freigesetzt. Die expandierenden kapitalintensiven Exportunternehmen benötigen aber nicht so viel zusätzliches Personal. Die Folge ist, dass sich die relative Nachfrage nach einfacher Arbeit und damit deren Löhne und Einkommen reduzieren. In Ländern wie Deutschland oder den USA werden Kapitalbesitzer und Hochqualifizierte besonders von der Globalisierung profitieren, während einfache und niedrig qualifizierte Arbeiter tendenziell verlieren. In Schwellenländern wie China und Osteuropa ist es gerade andersherum. Es ist deshalb auch nicht erstaunlich, dass breite Bevölkerungsschichten dort insgesamt weit weniger globalisierungskritisch sind als in der westlichen Welt.

Protektionismus als Antwort?

Die Agenda des Protektionismus und der nationalen Abschottung laufen letztlich auf den Versuch hinaus, die Uhr zurückzudrehen. Globalisierungskritik von rechts scheint beseelt von dem Gedanken, dass die Wiedergeburt von Handelsbarrieren die heimische Industrie in ein goldenes Zeitalter zurückführen könnte – wofür auch der Slogan "Make America Great Again" steht.

Und in der Tat wird es der Verlierergruppe niemand verdenken können, dass sie Kritik an einer Globalisierung übt, die ihr am Ende des Tages nichts oder zumindest weit weniger als anderen gebracht hat. Deutlich sinnvoller als ein protektionistischer Reflex ist hingegen eine gänzlich andere Strategie zur Gestaltung der Globalisierung: eine faire Umverteilung der Zugewinne.

Das Stolper-Samuelson-Theorem bezieht sich auf die Markteinkommen der Akteure. Diese Primärverteilung kann aber wirtschaftspolitisch beeinflusst werden. Das Gesamteinkommen des Landes wächst insgesamt an. Also kann der Staat der Gewinnergruppe einen Teil des Zugewinns wieder entziehen und damit die Verlierer kompensieren.

Was konkret unter einer "Kompensationspolitik" für die Verlierer der Globalisierung zu verstehen ist, wurde lange Zeit kaum diskutiert. Es ist durchaus fraglich, ob mehr klassische Einkommensumverteilung das probate Mittel der Wahl ist. Statt auf monetäre Entschädigungen für erlittene Einkommensverluste zu setzen, könnte die geeignete Antwort eher in einer aktivierenden Arbeitsmarkt- und Strukturpolitik liegen, die neue Perspektiven schafft. Auch die kostet freilich Geld und erfordert einen effektiven Finanzierungsbeitrag der Globalisierungsgewinner. Diesen zu erhalten, wird jedoch schwieriger in einer Welt der mobilen Steuerbasen, die durch zunehmende Einkommensverlagerung in Steueroasen gekennzeichnet ist. Zentral ist außerdem die soziale Durchlässigkeit zwischen den Gruppen. Um im Bild zu bleiben: Es muss individuell möglich bleiben, intra- oder zumindest inter-generationell von der Verlierer- in die Gewinnergruppe zu wechseln. Hierfür scheint Bildungspolitik das entscheidende Mittel zu sein.

Fazit: Für eine funktionierende Globalisierung reicht Freihandelspolitik alleine nicht aus. Sie muss kombiniert werden mit einem breit angelegten Gesellschaftsvertrag, der die Zugewinne aus der Globalisierung breit streut. Die vielleicht wichtigste Erkenntnis der vergangenen Jahre ist, dass sich ein solches "inklusives Wachstum" nicht mehr von selber einstellt.

In arbeitsreichen Schwellenländern mag dies aufgrund der dortigen komparativen Vorteile noch funktionieren. Aber in den hoch entwickelten, kapitalreichen Industriestaaten ist ein aktives wirtschaftspolitisches Eingreifen erforderlich, ganz im Sinne des liberalen Lehrbuchsatzes von der "Kompensation der Globalisierungsverlierer". Die Notwendigkeit dazu besteht schon seit geraumer Zeit. Aber es hat wohl erst der globalen Finanzkrise und der daraufhin einsetzenden Entfesselung des Populismus bedurft, damit die Thematik ganz oben auf die Agenda ankommt.

Bei der Ausgestaltung dieses Programms müssen unterschiedlichste Politikbereiche ineinandergreifen, von der Steuer- und Sozialpolitik, über die Arbeitsmarkt- und Regionalpolitik, bis hin zur Bildungspolitik. In vielen Domänen, etwa beim Kampf gegen Steueroasen, ist zudem internationale Koordination erforderlich, weil einzelne Länder unilateral kaum etwas ausrichten können. Scheitert diese Mammutaufgabe, werden Protektionismus und Populismus vermutlich die Oberhand gewinnen. Mit allen Konsequenzen, die das haben wird.

Der Beitrag ist eine gekürzte und aktualisierte Fassung des in der APuZ 4-5/2018 erschienenen Textes Interner Link: "Globalisierung unter Beschuss. Eine Bestandsaufnahme des Freihandels".

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Jens Südekum ist Universitätsprofessor für internationale Volkswirtschaftslehre am Institut für Wettbewerbsökonomie der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Die Konsequenzen der Globalisierung sind einer seiner Forschungsschwerpunkte.