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Demokratie, Macht und Einflussnahme: theoretische Perspektiven und Kontroversen

Hans-Jürgen Bieling

/ 14 Minuten zu lesen

Welche Rolle sollten Interessengruppen in einer Demokratie spielen? Darüber gibt es in der politikwissenschaftlichen Diskussion durchaus unterschiedliche Auffassungen. Ein Überblick über die demokratietheoretischen Kontroversen zum Thema Lobbying.

Besucher des Reichtstaggebäudes spiegeln sich in der Kuppel über dem Plenarsaal. (© picture-alliance/dpa, dpa-Zentralbild)

In der politikwissenschaftlichen Diskussion besteht an demokratietheoretischen Konzeptionen wahrlich kein Mangel. Die einschlägigen Übersichtsbände präsentieren ein sehr breites, in sich stark differenziertes Angebot konzeptioneller Erwägungen (Schmidt 2010; Massing et al. 2012). Dabei werden zum Teil sehr unterschiedliche Merkmale, Dynamiken, Organisationsformen oder auch Hindernisse in der Realisierung von Demokratie hervorgehoben. Die Konzeptionen variieren zum einen sehr stark, weil sich die demokratische Frage in den jeweiligen historischen und nationalen Kontexten – etwa im antiken Griechenland, im England des bürgerlichen Aufbruchs oder im Zuge der erstarkten Arbeiterbewegung seit Ende des 19. Jahrhunderts – oft sehr verschieden darstellte. Sie unterscheiden sich zum anderen aber auch deswegen, weil seitens der beteiligten Theoretiker/-innne jeweils spezifische Erkenntnisinteressen und normative Positionen eingeflossen sind.

Unter Berücksichtigung dieser beiden Momente soll hier nachgezeichnet werden, wie sich in der Bundesrepublik Deutschland – auch unter dem Einfluss von Konzepten aus den westlichen Nachbarländern – die demokratietheoretische Diskussion entwickelt hat. Die Darstellung muss notgedrungen selektiv sein. Sie konzentriert sich auf einige Kontroversen, die die Strukturen und Formen (zivil-)gesellschaftlicher Macht und deren Einfluss auf politische Entscheidungsprozesse thematisieren: So etwa der Streit zwischen den Verfechtern einer liberalen und sozialen Demokratie, der Disput zwischen neo-pluralistischen, machtelitentheoretischen und (neo-)korporatistischen Politikkonzepten, die gegensätzliche Sicht auf die Legitimationsprobleme oder Formen der Unregierbarkeit im Spätkapitalismus oder zuletzt die provokante These von der Postdemokratie. Die Interpretation der Kontroversen erfolgt dabei aus einer Perspektive, die durch ein weites und dynamisches Verständnis von Demokratie gekennzeichnet ist. Was dies genau bedeutet, soll den demokratietheoretischen Kontroversen zunächst vorangestellt werden.

Dimensionen und Verfahren der Demokratie

Wenn von Demokratie die Rede ist, beziehen sich Politiker/-innen, Journalistinnen und Journalisten und auch Wissenschaftler/-innen auf zum Teil sehr unterschiedliche Sachverhalte. Offenkundig greifen in der konkreten Organisation demokratisch verfasster Gemeinwesen vier Dimensionen ineinander, deren Funktionsweise, Charakter und Relevanz unterschiedlich eingeschätzt werden.

  1. Die erste, grundlegende Dimension besteht in dem Prinzip der Volkssouveränität. Mit diesem wird der Anspruch erhoben, die staatliche Machtausübung an den Volkswillen zu koppeln oder radikaldemokratisch formuliert: die Selbstregierung des Volkes zu realisieren. In komplexen Gesellschaften ist diese Selbstregierung – die Bürger und Bürgerinnen sind zugleich Urheber und Betroffene politischer Entscheidungen – organisatorisch anspruchsvoll; zumal die Gesellschaft nicht homogen, sondern durch konkurrierende Interessenlagen und Identitäten gekennzeichnet ist. Neben direktdemokratischen Entscheidungen wie Volksabstimmungen bedarf es mithin institutionalisierter Verfahren und Akteure – etwa der politischen Parteien und Formen der parlamentarischen Repräsentation –, um diese Selbstregierung zu organisieren. Mit anderen Worten, in modernen Gesellschaften realisiert sich Demokratie stets in Formen einer prozeduralisierten Volkssouveränität.

  2. Als eine wichtige Form der Prozeduralisierung gilt als zweite Dimension das Prinzip der Gewaltenteilung. Dieses Prinzip bezieht sich in föderalen Gebilden wie in Deutschland auch auf die horizontale Gewaltenteilung zwischen den konkurrierenden politischen Handlungsebenen (Zentralstaat, Länder und Kommunen), darüber hinaus aber vor allem auf die funktionale Trennung zwischen der gesetzgebenden (Parlament), der ausführenden (Regierung, Verwaltung und Polizei) und der rechtsprechenden Gewalt (Justizwesen). Das zentrale Anliegen der Gewaltenteilung besteht darin, durch wechselseitige Kontrollen den Missbrauch politischer Macht zu verhindern.

  3. Die dritte Dimension der Demokratie besteht in ihrer – permanenten – zivilgesellschaftlichen Revitalisierung. Unter Zivilgesellschaft ist dabei die Infrastruktur der öffentlichen Kommunikation zu verstehen. Sie umfasst unterschiedliche Arten wie Medien (Bücher, Zeitschriften, Facebook etc.), Universitäten, Forschungs- und Bildungseinrichtungen und Schulen, die politischen Parteien, Verbände, Kirchen und Think Tanks oder soziale Netzwerke und Bewegungen. Die Vitalität und Qualität demokratischer Gemeinwesen ist immer auch davon abhängig, dass die unterschiedlichen Akteure der Zivilgesellschaft – auch jenseits der formal institutionalisierten Wege – das politische System kritisch beobachten und drängende Fragen und Probleme in öffentlichen Diskussionen auf die Agenda setzen (Rödel u.a. 1989).

  4. Eine vierte, oft vernachlässigte Dimension der Demokratie markieren die Formen einer wirtschaftsdemokratischen Partizipation und Kontrolle (Demirovic 2007). Die Konzeptionen der Wirtschaftsdemokratie thematisieren allgemein das Problem, dass die kapitalistische Wirtschaftsordnung eine hierarchisch strukturierte, durch die Eigentümer und das Management kontrollierte Arbeitswelt voraussetzt und eine ungleiche Verteilung von Reichtum und Macht begünstigt. Um die bestehenden Hierarchien und Ungleichheiten abzuschwächen, sind in vielen Gesellschaften entsprechend wohlfahrtsstaatliche Elemente wie die sozialen Sicherungssysteme (Rente, Gesundheit, Arbeitslosigkeit) und öffentliche Dienstleistungen (Bildung, Erziehung, Kommunikation und Transport), Mitspracherechte der Beschäftigten und Formen der Wirtschaftsplanung entwickelt worden.

Die aufgeführten Dimensionen spielen in den demokratietheoretischen Konzeptionen eine sehr unterschiedliche Rolle. Sie werden nicht nur unterschiedlich gewichtet, sondern oft – dies gilt auch für die korrespondierenden Formen des Lobbying – verschieden interpretiert. Kurzum, die demokratietheoretischen Diskussionen sind äußerst vielschichtig. Vereinfacht lassen sich, gleichsam als gegenläufige Pole der Debatte, zwei markante Konzeptionen identifizieren: Auf der einen Seite steht ein eher "dünnes" Verständnis von Demokratie, das einen Modus des Regierens beschreibt, der durch die repräsentative, vor allem aber funktionale Auswahl des politischen Führungspersonals gekennzeichnet ist. Im Kontrast hierzu begreifen auf der anderen Seite normativ anspruchsvolle Konzeptionen Demokratie umfassender als "Lebensform", was darauf hinausläuft, auch die (zivil-)gesellschaftlichen Bedingungen und Möglichkeiten einer politisch selbstbestimmten Lebensführung in den Blick zu nehmen.

Demokratietheoretische Kontroversen

Diese unterschiedlichen Demokratieverständnisse haben sich auch in wichtigen theoretisch-konzeptionellen Kontroversen niedergeschlagen. Einige der Kontroversen, so etwa die zwischen liberaler und sozialer Demokratie, hatten einen sehr starken deutschen Fokus; andere, wie die zwischen den Neo-Pluralisten, kritischen Machtelite-Forscher/-innen und Korporatismustheoretiker/-innen oder auch die zwischen Vertreter/-innen der Legitimationskrise oder Unregierbarkeitskrise, wurden stärker im internationalen, vor allem transatlantischen Raum ausgetragen. Die Diskussionen schlossen auch Fragen eines interessenpolitisch vermittelten Ausgleichs sozialer Machtasymmetrien mit ein. Die Aufmerksamkeit richtete sich dabei zumeist auf die gesellschaftspolitischen Kontextbedingungen und Ergebnisse, weniger – dies gilt partiell allenfalls für die Neopluralismus-Korporatismus-Kontroverse – auf die Verfahren eines legitimen Lobbyings.

Liberale versus soziale Demokratie

Die Konzeption der "sozialen Demokratie" weist zurück auf die staatsrechtstheoretischen Diskussionen in der Weimarer Republik. Damals hatte insbesondere der Staatsrechtler Hermann Heller (1971) argumentiert, dass in einer klassengespaltenen Gesellschaft die Formen der demokratischen Kontrolle und Partizipation prekär bleiben: einerseits, weil ausgeprägte soziale Ungleichheiten häufig dazu führen, dass marginalisierte Gruppen politisch ausgeschlossen werden und ihre bestehenden demokratischen Partizipationsrechte nicht oder nur unzureichend nutzen. Andererseits begünstige die soziale Spaltung der Gesellschaft Prozesse der politischen Destabilisierung, denen oft mit einer Stärkung der Exekutive begegnet wird. Um derartigen Gefahren vorzubeugen, plädierten die Vertreter/-innen der sozialen Demokratie wie Heller dafür, die formalen Strukturen der repräsentativen Demokratie – und des liberalen Rechtsstaates – durch arbeitsrechtliche (gesetzliche und tarifvertragliche Arbeitsschutzbestimmungen), wirtschaftsdemokratische (Mitbestimmung) und sozialstaatliche Institutionen (soziale Sicherungssysteme und öffentliche Dienstleistungen) zu ergänzen. Mehr noch, all diese Elemente sollten dazu beitragen, eine lebendige, durch die aktive Teilhabe und Teilnahme aller Klassen gekennzeichnete, also "soziale" Demokratie zu realisieren.

Wie eine Art Übergangsform von der "demokratischen" zur "sozialistischen" Republik genau aussehen sollte, blieb dabei umstritten (Blau 1980). Heller betrachtete die Stärkung und aktive, partizipatorische Integration der Arbeiterschaft in den Staat z.B. über Gewerkschaften als hinreichend, um die Institutionen des demokratischen Rechtsstaatsgedanken materiell zu stabilisieren und für sozialistische Transformationsperspektiven zu nutzen. Andere, so z.B. Otto Kirchheimer (1964), hatten höhere Ansprüche und sahen die Perspektive der sozialen Demokratie an die Überwindung des Klassenantagonismus, d.h. an die Vergesellschaftung der Produktionsmittel – die Aufhebung des Privateigentums oder umfassende öffentliche Kontrolle des Produktivvermögens – gekoppelt. Wolfgang Abendroth, der die Konzeption der "sozialen Demokratie" nach dem Zweiten Weltkrieg erneut aufgriff, schloss sich analytisch der zweiten Linie von Kirchheimer an, kritisierte ansonsten aber mit Heller das rein formale, auf Institutionen und Verfahren fokussierte Verständnis von Demokratie und forderte einen weiter gefassten Demokratiebegriff:

Zitat

Demokratie bezieht sich im Begriff der demokratischen und sozialen Rechtsstaatlichkeit nicht nur auf die formale politische Rechtsstellung des Staatsbürgers, sondern erstreckt sich auf seine gesamten Lebensverhältnisse und bezieht die soziale Ordnung und die Regelung der materiellen und kulturellen Bedürfnisse des Menschen ein. [...] Wenn ich aber diesen Erwägungen folge, dann hört die Demokratie hier auf, nur politische Verfassung zu sein und wird zur Verfassung der gesamten Gesellschaft, die im Staate als ihrer umfassenden Wirkungseinheit sich selbst bestimmt.

Abendroth 1967: 133

Ein derart weitgefasstes Verständnis von Demokratie wurde von Vertretern einer liberalen oder konservativen Perspektive nicht geteilt. Dies wurde besonders klar erkennbar in der sog. Forsthoff-Abendroth-Kontroverse von 1953. In dieser nahm Ernst Forsthoff (1968) die Position ein, dass der Sozialstaat ungeachtet der Bestimmungen des Art. 20, Abs. 1 ("Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat") keine verfassungsrechtliche Grundlage habe, sondern nur auf der Ebene der einfachen Gesetzgebung angesiedelt ist, also das liberale Rechtsstaatsprinzip nicht verwässere. Im Kontrast hierzu wies Abendroth (1967) darauf hin, dass der Begriff des sozialen Rechtsstaats im Parlamentarischen Rat explizit als Reaktion gegen die diktatorische Rettung des Kapitalismus und Erweiterung der demokratischen Selbstbestimmung in das Grundgesetz aufgenommen worden ist. Im Sinne der Konzeption der sozialen Demokratie wurde entsprechend gefordert, möglichst alle, nicht zuletzt die sozial orientierten Interessengruppen – wie etwa die Wohlfahrtsverbände und Gewerkschaften – in die Prozesse der politischen Kommunikation und Entscheidungsfindung mit einzubeziehen.

(Neo-)Pluralismus versus Machtelite versus Neo-Korporatismus

Die von Forsthoff repräsentierte liberal-rechtsstaatliche Perspektive auf die Grundstrukturen der Demokratie war in der juristischen Debatte lange sehr einflussreich und dominant. In der politikwissenschaftlichen Diskussion wurden in den Nachkriegsjahrzehnten jedoch schon bald deutlich andere Akzente gesetzt. So wurde mit dem schrittweisen Ausbau des Sozialstaats und der gesellschaftlichen Gestaltungsmacht der – gewerkschaftlich und parteipolitisch – organisierten Arbeiterbewegung die wohlfahrtsstaatliche Einbettung und materielle Unterfütterung des Rechtsstaates anerkannt. Mit Blick auf kollektivvertragliche Bestimmungen (z.B. Tarifverträge) und soziale Gruppen oder der Allgemeinheit gewährten sozialen Leistungen trat zudem die liberale Grundannahme autonom handelnder Individuen in den Hintergrund oder wurde konzeptionell revidiert.

Wichtige Impulse kamen dabei aus der – US-amerikanisch geprägten – neo-pluralistischen Theoriediskussion. Diese ging davon aus, dass die westlichen, liberal-demokratischen Systeme kein Machtzentrum haben (Dahl 1961) und politische Konflikte nicht primär zwischen Individuen, sondern konkurrierenden Verbänden und Assoziationen ausgetragen werden, die jeweils unterschiedliche soziale Klassen oder Kollektive repräsentieren (Fraenkel 2011 [1964]). Den intermediären Organisationen wurde in diesem Prozess die zentrale Rolle zugewiesen, die konkurrierenden Gruppeninteressen zu bündeln, politische Interessen zu artikulieren und über einen normativ und rechtlich eingefassten politischen Wettbewerb das Gemeinwohl auszuhandeln. Waren in der Verteidigung der liberalen Demokratie die gesellschaftlichen Machtverhältnisse zunächst kaum problematisiert worden, so änderte sich dies mit der Zeit bis hin zu den späten Schriften von Charles Lindblom (1977), der über die ungleichen finanziellen und politischen Einflussmöglichkeiten unterschiedlicher Interessengruppen hinaus die – im Kapitalismus – strukturell privilegierte Position der Wirtschaftsverbände thematisiert hat.

In der gewachsenen Sensibilität gegenüber gesellschaftlichen Machtasymmetrien reflektiert sich einerseits der von Studierenden und Beschäftigten getragene Protestzyklus seit Ende der 1960er Jahre, andererseits aber auch die wissenschaftliche Kritik, die am neo-pluralistischen Demokratieverständnis geübt wurde. So wirkte z.B. die von C. Wright Mills (1956) entwickelte und von G. William Domhoff (1967) weitergeführte Konzeption der Machtelite nachhaltig fort. Der Beitrag dieser Konzeption bestand vor allem darin, das liberale Selbstverständnis der USA – und im übertragenen Sinne auch der anderen westlichen Gesellschaften – einer kritischen, weniger theoretischen als vor allem empirischen Überprüfung zu unterziehen. Im Ergebnis dieser kritischen Überprüfung wurden spezifische, partiell miteinander verflochtene militärische, wirtschaftliche und politische Zentren und Netzwerke der Macht identifiziert, die die gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen und Richtungsentscheidungen wesentlich kontrollierten. Auch andere Theoretiker (Bachrach/Baratz 1970; Lukes 1974) interessierten sich vermehrt für die Fähigkeit gesellschaftlicher Akteure, strukturelle Macht auszuüben, d.h. die politische Agenda durch Entscheidungsblockaden, "Nicht-Entscheidungen" oder die massive Gestaltung der öffentlichen Debatte nachhaltig zu prägen.

Lenkte die Machtstrukturforschung den Blick auf die gesellschaftsstrukturellen Machtasymmetrien, so richtete sich die Kritik des Neokorporatismus, der vor allem in den westeuropäischen Gesellschaften der 1960er und 1970er Jahre an Einfluss gewann, gegen die Annahme, dass alle Interessengruppen über gleiche politische Einflussmöglichkeiten verfügen. Allgemein ist unter Korporatismus eine geregelte und privilegierte Einbeziehung von Interessengruppen in den politischen Willens- und Entscheidungsprozess zu begreifen. Im Kontrast zum alten Korporatismus im Faschismus, der durch eine staatliche Vereinnahmung und Kontrolle der gesellschaftlichen Assoziationen (Gewerkschaften, Jugendverbände etc.) gekennzeichnet war, versucht das Konzept des Neokorporatismus die politischen Kommunikations- und Tauschgeschäfte unter den Bedingungen der liberalen Demokratie – z.B. freien Wahlen und der Assoziationsfreiheit – zu erfassen. Die Aufmerksamkeit der meisten Forscher galt den Beziehungen zwischen Regierung, Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften, also dem Aushandeln gegenläufiger wirtschafts-, tarif- und sozialpolitischer Positionen hin zu gemeinwohlfördernden Entscheidungen (Schmitter 1974; Lehmbruch/Schmitter 1982). Neokorporatistische Kompromisse wurden im Vergleich zur pluralistischen Konfliktlogik als vorteilhaft eingeschätzt: Wohlfahrtsökonomisch sahen viele in der Konzertierung, also der übereinstimmenden Kooperation der Verbände, insbesondere in Zeiten der Krise, einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung von Wirtschaft und Beschäftigung; und demokratiepolitisch wurde die Einbeziehung relevanter gesellschaftlicher Interessengruppen als eine problemlösende Form der partizipatorischen Demokratie interpretiert. Den neokorporatistischen Kooperationsformen wurden somit demokratisierende Effekte zugesprochen, die zugleich jedoch durch die starke Zentralisierung von Macht und die Privilegierung von "Hauptinteressen" – in vielen Handlungsfeldern waren dies die Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften – eingeschränkt wurden.

Spätkapitalismus: Legitimationsprobleme versus Unregierbarkeit

Diese Kritik weist bereits darauf hin, dass die neokorporatistische Perspektive keineswegs unumstritten war. Im Laufe der 1970er Jahre gelangten einige Beobachter/-innen zu der Einschätzung, dass die inneren Widersprüche des Kapitalismus mittel- und langfristig nicht mehr durch das neo-korporatistische Krisenmanagement und die wohlfahrtsstaatliche Expansion auszubalancieren waren. Die Diskussion war durch zwei sich gegenüberstehende Krisen- und Zeitdiagnosen geprägt: Auf der einen Seite standen neo-marxistische Theoretiker wie Claus Offe (1972) oder Jürgen Habermas (1973), die die spätkapitalistische Gesellschaft durch wachsende Legitimationsprobleme gekennzeichnet sahen. Diese ergaben sich daraus, dass die wohlfahrtsstaatlichen Institutionen zwar die ökonomische Krisendynamik auffangen konnten, hierdurch aber zugleich Folgekrisen in der Gesellschaft (Bevormundung), in der Umwelt (ökologische Krisen) oder dem System der demokratischen Repräsentation (Legitimationskrisen) entstanden. Die Krisendynamik verlagerte sich damit ins politische System. Die Ausweitung politischer Regulierung und Steuerung brachte zusammen mit einer umfassenden gesellschaftlichen Politisierung, so die zentrale Annahme, einen erhöhten soziokulturellen Legitimationsbedarf mit sich. Konkret verlangte die erweiterte politische Regulierung also neue Formen der gesellschaftlichen Rechtfertigung, Sinnstiftung und auch neue und erweiterte demokratische Partizipationsformen, die allerdings nicht im ausreichenden Maße geschaffen wurden.

Auf der anderen Seite erkannten auch konservative Theoretiker eine Überforderung des Staates, führten diese jedoch nicht auf die politökonomischen Krisendynamiken zurück, sondern interpretierten sie als eine Folge übersteigerter gesellschaftlicher, in erster Linie sozialpolitischer und partizipatorischer, Ansprüche an den Staat (Crozier et al. 1975; Kielmansegg/Matz 1978). Die zentrale Ursache für die politische Instabilität bestünde also in einer "Anspruchsinflation", die vor allem durch zu starke Gewerkschaften und soziale Bewegungen genährt wurde. Um die drohende Unregierbarkeit abzuwenden, forderten die Kritiker eine Begrenzung der gewerkschaftlichen Gestaltungsmacht und eine Beschneidung wohlfahrtsstaatlicher Programme. In vielen Ländern – in Großbritannien, den USA, abgeschwächt aber auch in Kontinentaleuropa – bestimmten diese Ziele kurze Zeit später nachdrücklich die politische Agenda und führten zu einer angebotsorientierten, vielfach neoliberal, d.h. durch Konzepte der Deregulierung, Privatisierung und Flexibilisierung geprägten Wirtschaftspolitik, die im Kontext der Globalisierung das Zusammenspiel von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft nachhaltig veränderte. In diesen Wandel mit eingeschlossen waren weitreichende Machtverschiebungen zulasten der abhängig Beschäftigten und Gewerkschaften und zugunsten der transnational operierenden Wirtschaftsakteure, allen voran der Transnationalen Konzerne (TNKs) (Harvey 2007). Gleichzeitig erweiterten sich das Spektrum (Ökologie-, Friedens- und Gleichberechtigungsfragen) und die Handlungsoptionen – Stichwort: Global Governance – von sozialen Bewegungen und Nichtregierungsorganisationen (NROs).

Ausblick: Die These von der "Postdemokratie"

Nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus 1989/90 schien zunächst, ganz im Sinne der von Francis Fukuyama (1989) vorgebrachten These vom "Ende der Geschichte", der Siegeszug von Kapitalismus und liberaler Demokratie unaufhaltsam. Doch einige Zeit später prägte erneut eine kapitalismuskritische Zeitdiagnose die politik- und sozialwissenschaftliche Diskussion. Die von Colin Crouch (2008) formulierte These von der Postdemokratie erinnert partiell an die These der spätkapitalistischen Struktur- und Legitimationsprobleme von Offe und Habermas, beruht jedoch nicht auf einer umfassenden Politisierung der Gesellschaft (Schäfer 2009), sondern im Gegenteil – hierauf verweist die Entwicklung hin zu weniger Parteimitgliedschaften, geringeren gewerkschaftlichen Organisationsgraden und einer nachlassenden Wahlbeteiligung (Mair 2006) – auf dem Rückzug der Massen aus der Politik. Crouch sieht hierin einen Substanzverlust der demokratischen Verfahren. Diese mögen formal zwar intakt bleiben, trocknen ohne die aktive Beteiligung großer Bevölkerungsgruppen aber aus. Als "Postdemokratie" bezeichnet er entsprechend ein Gemeinwesen,

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in dem zwar nach wie vor Wahlen abgehalten werden, Wahlen die sogar dazu führen, dass Regierungen ihren Abschied nehmen müssen, in dem allerdings konkurrierende Teams professioneller PR-Experten die öffentliche Debatte während der Wahlkämpfe so stark kontrollieren, dass sie zu einem reinen Spektakel verkommt, bei dem man nur über eine Reihe von Problemen diskutiert, die die Experten zuvor ausgewählt haben. Die Mehrheit der Bürger spielt dabei eine passive, schweigende, ja sogar apathische Rolle, sie reagieren nur auf die Signale, die man ihnen gibt. Im Schatten dieser politischen Inszenierung wird die reale Politik hinter verschlossenen Türen gemacht: von gewählten Regierungen und Eliten, die vor allem die Interessen der Wirtschaft vertreten.

Crouch 2008: 10

Auch andere Sozialwissenschaftler teilen die Einschätzung, dass es für viele schwieriger geworden ist, im Rahmen der etablierten politischen Verfahren demokratisch zu partizipieren und Einfluss zu nehmen. Die Ursachen hierfür werden – gleichsam ergänzend zum Rückzug großer Teile der Bevölkerung – strukturell in der ökonomischen Globalisierung, dem Machtzuwachs Transnationaler Konzerne (TNKs) und dem Einfluss von Experten, Wissenschaftlern und Think Tanks in der durch Massenmedien dominierten politischen Öffentlichkeit gesehen. Hinzu kommen die Prozesse der Privatisierung, die Herausbildung informeller Machtnetzwerke (Wirtschaftsforen, Lobbying etc. ) und die damit verbundene Umgehung etablierter demokratischer Verfahren, so etwa bei der Bankenrettung oder in der Eurokrise. In der Konsequenz – so die Einschätzung einiger Kritiker wie Chantal Mouffe (2007) oder Jacques Rancière (2002) – habe sich eine durch vermeintliche Sachzwänge legitimierte Konsenskultur herausgebildet, die das Lebenselixier einer lebendigen Demokratie, d.h. den politischen Streit und Konflikt, tendenziell erstickt.

Gegen diese machtpolitische und prozedurale Aushöhlung der Demokratie ist zuletzt ein Ansatz entwickelt worden, der durch eine gestärkte Transparenz von Lobbying-Aktivitäten und die Einbeziehung schwacher Interessen die gesellschaftliche Partizipation und Effizienz der Politik verbessern möchte. Das Ziel der Mobilisierung von hinreichenden Informationen und Einschätzungen verschiedener Interessengruppen wird Drutman und Mahoney (2017) zufolge nicht nur durch die ökonomische Ungleichheit gefährdet, sondern auch durch die enorme Komplexität der politischen Themen und Einflussnahmen. Oft sind die Abgeordneten und ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit den Aufgaben der Sichtung, Sortierung und ergänzenden Recherche schlicht überfordert. Mit Blick auf das Grünbuchverfahren der EU, in dessen Rahmen die EU-Kommission Interessengruppen zur Stellungnahme zu Gesetzesvorhaben einlädt, und auf vergleichbare Verfahren U.S.-amerikanischer Regulierungsbehörden, schlagen Drutman und Manoney vor, dass die Lobbydokumente durch eine geeignete Einrichtung öffentlich dokumentiert (post) und sortiert (map) werden, um auf dieser Basis gezielt um weitere Eingaben von unterrepräsentierten Interessengruppen zu bitten (ask). Falls sich bei der Dokumentation und Sortierung der Positionspapiere zum Beispiel herausstellt, dass in einem Gesetzgebungsverfahren zur Wohnungspolitik Eingaben von Mieterschutzverbänden fehlen, könnten diese noch zur Beteiligung animiert werden. Damit würde trotz bestehender Ungleichheit verschiedener Interessen dafür gesorgt, die unverhältnismäßige Einflussnahme einiger Akteure sichtbar zu machen und durch weitere Stimmen auszugleichen. Demokratietheoretisch ist jedenfalls relevant, dass eine möglichst umfassende Information und Berücksichtigung verschiedener Interessen (Pluralismus) nicht nur postuliert werden, sondern durch institutionalisierte Verfahren des politischen Ausgleichs gewährleistet werden.

Möglicherweise kann ein effektiv institutionalisierter Lobbying-Pluralismus dazu beitragen, die politische Protest- und Konfliktkultur, die unter den Bedingungen der Finanz- und Eurokrise zum Teil wieder stimuliert worden ist, in den etablierten politischen Prozess zu überführen: Dies gilt zum einen für die Widerstandsbewegungen gegen die sparpolitischen Reformprogramme in vielen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, die die Verteilungseffekte des Krisenmanagements wie auch den exekutivlastigen, vielfach autoritären Modus dieser Politik scharf kritisiert haben (della Porta 2015). Dies gilt zum anderen aber auch für einen Teil der (selbst-) ausgeschlossenen Massen, die sich durch erstarkte rechtspopulistische Organisationen in der öffentlichen Debatte erneut – nun allerdings nationalistisch orientiert – Gehör verschaffen (Kriesi 2014). Die demokratiepolitischen Effekte beider Protestbewegungen sind allerdings sehr unterschiedlich: Während die Proteste gegen Sparpolitik und Strukturreformen die solidarischen Grundlagen einer inklusiven sozialen Demokratie verteidigen, betreiben die rechtspopulistischen Kräfte eine ressentimentgeladene Politik, die sich gegen Minderheiten und sozial schwache Gruppen richtet, mithin entsolidarisierend wirkt. Mehr noch, in den Ländern, in denen rechtspopulistische Parteien die Regierungsverantwortung übernommen haben, werden rechtsstaatliche Strukturen und die Wissenschafts-, Presse- und Meinungsfreiheit eingeschränkt. Kurzum, die rechtspopulistisch orientierte Rückkehr der Massen in die Politik stellt nicht nur anspruchsvolle Demokratiekonzeptionen – die Demokratie als "Lebensform" – in Frage, sondern scheint selbst noch die prozeduralen Elemente der liberalen Demokratie vielfach zu gefährden.

Quellen / Literatur

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Fussnoten

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Prof. Dr. Hans-Jürgen Bieling ist seit 2012 Professor für "Politik und Wirtschaft und Wirtschaftsdidaktik" an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen der Internationalen Politischen Ökonomie und Europäischen Integration. Darüber hinaus forscht er auch zu gesellschafts-, staats- und politiktheoretischen Fragestellungen.