Von der lokalen zur globalen Ökonomie
Die Rindfleischsuppe von Liebig machte schon zu Kaisers Zeiten weltweit die Runde
Populär wurde "Globalisierung" erst in den neunziger Jahren. Der Begriff steht für die fortschreitende weltweite Arbeitsteilung. Internationalisierung ist jedoch kein neuartiges Phänomen, sondern begleitet die Ökonomie seit langem. Bereits um 1900 sprach man sogar vom Welthandel.- "Globalisierung ist sicher das am meisten gebrauchte - missbrauchte - und am seltensten definierte, wahrscheinlich missverständlichste, nebulöseste und politisch wirkungsvollste (Schlag- und Streit-)Wort der letzten, aber auch der kommenden Jahre."
Prof. Dr. Ulrich Beck, Soziologe
Die pompöse Kaiserkrönung beendet die deutsche Kleinstaaterei und feuert nach einem halben Jahrhundert politischer Streitereien endlich den Startschuss für eine vereinigte deutsche Volkswirtschaft ab. Lange Zeit mussten Pfeffersäcke von Hamburg nach München bis zu einem Dutzend Zollschranken überwinden. Im Pferdekarren, auf schlechten Wegen und per Lastkahn über enge Flüsse ging die lange und beschwerliche Reise unter anderem durch das Herzogtum Lauenburg, Königreich Hannover, Herzogtum Braunschweig, Kurfürstentum Hessen-Kassel oder die thüringischen Staaten bis ins Königreich Bayern. Nur wenige Kaufleute hatten Lust auf solche Strapazen, zumal sich der Gewinn aufgrund der hohen Zollgebühren in Grenzen hielt. Daher blieb das wirtschaftliche Leben in Deutschland - wie beispielsweise auch in Japan - jahrhundertelang vor allem auf die lokale Ökonomie beschränkt, die Bauernfamilie produzierte für sich, nur ein kleiner Teil wurde in der nahen Kleinstadt verkauft. Dort arbeiteten auch Handwerker, Gewerbetreibende und Viehhändler, deren geschäftlicher Horizont meistens nur so weit wie ein halber Tagesmarsch reichte, damit sie Abends wieder rechtzeitig zu Hause waren. Diese Enge konnte selbst der Deutschen Zollverein 1834 nicht aufbrechen, wie der Volksmund wusste: "Bleibe im Lande und nähre dich redlich."
Bewegung in die, im internationalen Vergleich, rückständige Wirtschaft brachte nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 die Reichsgründung in Versailles bei Paris. Aus kleinen Fabriken wachsen nun große Aktiengesellschaften, aus provinziellen Privatbankiers entstehen Deutsche, Dresdner und Commerzbank, und neue Technologien revolutionieren die Fabriken. Deutschland wächst endlich zu einer Volkswirtschaft heran, wie sie in England, dem führenden Industriestaat, schon lange existiert.
Exportweltmeister
Reisen wir an dieser Stelle heim in unsere Gegenwart. Unterbrochen von der Ära der Weltkriege und dem westdeutschen "Wirtschaftswunder" macht seit den 90er Jahren das Schlagwort Globalisierung die Runde. Autos, Chemieprodukte, Werkzeugmaschinen und andere Waren und Dienstleistungen im Wert von 733,5 Milliarden Euro exportierte Deutschland alleine im Jahr 2004 ins Ausland –Exportweltmeister. Umgekehrt kommen zu uns T-Shirts aus China, Computersoftware aus den USA, Containerschiffe aus Südkorea und Apfelsinen aus Israel. Konzerne investieren zudem weltweit. So beteiligte sich die Deutsche Bank 2005 an Finanzfirmen in China und Indien und Siemens beschäftigt heute über 250.000 Menschen im Ausland, in Deutschland sind es nur rund 150.000. "Der Standort Deutschland ist nicht abgeschrieben, aber in einem globalen Unternehmen muss die Wertschöpfung global verteilt werden", verteidigt Siemens-Aufsichtsrat Heinrich von Pierer den Abschied von der Volkswirtschaft.Doch auch wenn alle ihn verwenden: Der Begriff Globalisierung bleibt schwammig. Klar ist nur, dass er weniger Neuartiges beschreibt, als es zunächst scheint. Denken wir an Justus Liebig. Wen? Justus Liebig! Er dürfte manchem aus dem Filmklassiker "Feuerzangenbowle" bekannt sein, anderen als weltberühmter Wissenschaftler. Der Darmstädter revolutionierte als Chemiker die Landwirtschaft und erfand tatsächlich die gleichnamige Trockensuppe, die heute immer noch ein Markenartikel ist. Vor 150 Jahren benötigte er drei Kilogramm Fleisch, um einen einzigen Liter Brühe herzustellen - und das war entschieden zu teuer. Liebig erfuhr in Gießen, dass im fernen Peru die Rinder geschlachtet wurden, nur um die Häute zu gerben - das Fleisch landete auf dem Müll. Seit 1862 ließ der professorale Unternehmer daher seine Suppenwürfel in Peru und Uruguay, später auch in Deutsch-Südwestafrika produzieren. Von dort verschiffte er seine Suppenpaste nach Europa und in die Kolonien.
Dynamischer Welthandel
Liebigs Geschichte klingt sehr modern, und sie ist sehr modern. Denn bereits zu Kaisers Zeiten genossen Außenhandel und Auslandsinvestitionen eine überragende volkswirtschaftliche Bedeutung. So wurde mit dem neuen Reich auch die Deutsche Bank gegründet, um das deutsche Exportgeschäft anzukurbeln. Ohne Kredit lief schon damals in Wirtschaft und Handel wenig. In den führenden Industriestaaten stieg der Außenhandel bis auf ein Drittel des Bruttosozialproduktes an, und die Hafenstadt Hamburg unterhält Konsulate in 279 Staaten; in der maritimen Logistikindustrie sprach man spätestens zur Jahrhundertwende 1900 allgemein vom "Welthandel".
Also war die Dynamik bereits damals, in der "guten, alten Zeit", atemberaubend. Im jungen Kaiserreich werden Millionen Menschen ihre Arbeitsplätze verlieren, werden Dorf oder Kleinstadt in der Altmark und Ostpreußen verlassen, um vor Armut und Not nach Frankfurt, Berlin oder München zu fliehen oder um von Bremen und Hamburg nach Amerika zu segeln. Die revolutionären Technologien Chemie und Elektro werden ganze Berufszweige vernichten. Ökonomen und Wissenschaftler sorgen sich um die Auswirkungen des Weltmarktes und der "Gründerkrach" vernichtet tausende Firmen. Telegrafie, Überseekabel und neue Verkehrssysteme beschleunigen Informationen und Wirtschaftsabläufe in rasende Geschwindigkeitsbereiche, Informationen, die früher mehrere Wochen brauchten, branden nun in Stunden von Kontinent zu Kontinent, von New York nach London und Paris. Die Herausforderungen von damals sind die Herausforderungen von heute, nennen wir sie Globalisierung.