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Keynote von Thomas Krüger bei der Tagung „Lokale Öffentlichkeit und politische Partizipation“ am 6. Juli 2012 in Siegen | Presse | bpb.de

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Keynote von Thomas Krüger bei der Tagung „Lokale Öffentlichkeit und politische Partizipation“ am 6. Juli 2012 in Siegen

/ 15 Minuten zu lesen

Was tragen lokale Öffentlichkeiten zur politischen Partizipation bei?

Ich freue mich, auf dieser Tagung meine Gedanken einbringen zu können. INLOK – die „Initiative Lokaljournalismus in Nordrhein-Westfalen“ – hat sich zum Ziel gesetzt, in einem immer schwieriger werdenden Umfeld die Qualität lokaljournalistischer Arbeit zu fördern. Im Zusammenwirken von Verlagen, Wissenschaft und Stifterverbänden bringt sie die Qualifizierung der Journalistinnen und Journalisten voran. Bedeutend sind die festangestellten ebenso wie die freien Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, auf die sich die redaktionelle Arbeit zunehmend stützt.

Sie setzt sich damit – wie auch die bpb – für einen hochwertigen Lokaljournalismus ein. Das Lokaljournalistenprogramm der bpb als Fortbildungsmöglichkeit um das „Projektteam Lokaljournalisten“ hat eine jahrzehntelange Tradition. Wir politischen Bildnerinnen und Bildner haben die Medien immer als natürliche Verbündete gesehen, wenn auch das Rollen- und Selbstverständnis unterschiedlich sein müssen. Ohne mediale Öffentlichkeit hätte eine bürgerliche Gesellschaft sich nie konstituieren und dem Staat gegenübertreten können. Unabhängige Medien schufen die Grundvoraussetzung für Demokratie. Journalistinnen und Journalisten erreichen regelmäßig einen Großteil der Bevölkerung. Das macht ihre Arbeit in der Demokratie so verantwortungsvoll. Deshalb haben wir eine Plattform geschaffen, auf der sie in Seminaren, Tagungen und Publikationen ihre Verantwortung reflektieren und sich für diese Arbeit vertiefend qualifizieren.

„Was tragen lokale Öffentlichkeiten zur politischen Partizipation bei?“ heißt mein Vortrag. Diese Frage führt zum Kern der gesellschaftlichen Umbrüche, die wir gerade erleben und mit denen sich die Medien und die politische Bildung gleichsam auseinandersetzen müssen. Deshalb enthält die Antwort zwei Aspekte: sozusagen einen historischen und einen analytisch-prognostischen. Wie war es früher, wie liegen die Dinge heute – und was soll daraus werden? Wie wollen wir die Zukunft der Öffentlichkeit und der politischen Partizipation gestalten? In dieser Zukunft spielt, davon bin ich überzeugt, der Lokaljournalismus als Zentrum der lokalen Öffentlichkeiten weiterhin eine Schlüsselrolle.

Im republikanischen Demokratieverständnis betrachten wir soziale und politische Partizipation als Basisvoraussetzungen und Stabilitätsfaktoren von Demokratie – als etwas, das von unten wächst und nicht von oben verordnet werden kann. Früher waren die Felder dieser Teilhabe leicht zu identifizieren: Sieht man von den allgemeinen Wahlen ab, war die Basis fast jeder Form von politischer und gesellschaftlicher Teilnahme lokal – der Schützenverein, die Kirchengemeinde, die Ortsgruppe der Partei, die Gewerkschaftsgruppen, die Freiwillige Feuerwehr – die organisierten wirtschaftlichen Interessen bildeten die Öffentlichkeiten, in denen man über alle Belange sprach, in denen sich Meinungen bildeten und oft den Menschen auch gesagt wurde, was sie zu meinen hatten. In diesen mehr oder weniger offenen Gemeinschaften kristallisierte sich auch die meinungsführende Elite heraus, reifte das Führungspersonal der demokratischen Institutionen heran.

Es waren sich überschneidende und gegenseitig durchdringende Öffentlichkeiten, deren integrierende mediale Mitte die Lokalzeitungen bildeten. In diesen örtlichen Öffentlichkeiten bildeten sich die Anliegen der Menschen. Und Parteien, Kirchen oder Vereine trugen sie dann in die regionalen und nationalen Diskurse hinein. Anders herum brachen Zeitungen und später auch andere Medien übergeordnete Fragen der großen Politik auf das Lokale herunter.

Alle diese lokalen Teilöffentlichkeiten gibt es auch heute noch und wir sind froh, dass Einiges an Gemeinschaftsgeist und bürgerschaftlichem Engagement in der Kommune geblieben ist – und sogar wieder erstarkt. Allerdings tragen diese Strukturen nicht mehr wie früher. In der modernen, mobilen Welt haben sich immer mehr Menschen den lokalen Milieus entzogen, die ja nicht nur Geborgenheit, sondern auch soziale Kontrolle bedeuten.

Gesellschaftliche Organisationen aller Art haben es heute oft schwer, Menschen an sich zu binden – und das betrifft nicht nur die politischen Parteien. Die Gesellschaft ist heterogener, die Bürgerinnen und Bürger eigensinniger und entschlossener in ihrer Wahrnehmung eigener Interessen geworden. Die sich in letzter Zeit vermehrt formierenden Bürgerinitiativen als Form der Teilnahme am Gemeinwesen sind Ausdruck dieser Individualisierung: Wo es um ein wichtiges Ziel oder manchmal auch ein ganz egoistisches Interesse geht, ist das selbstbewusste Individuum zur Partizipation auf Zeit bereit. Bürgerinnen und Bürgern akzeptieren politische Entscheidungen nicht schon deshalb, weil sie durch gesetzlich vorgesehene Verfahren zustande gekommen sind. Die Forderung nach Transparenz muss die Politik äußerst ernst nehmen, um die Legitimität politischer Entscheidungen weiterhin gewährleisten zu können. Diese 'deliberative Demokratie' erfordert nach Jürgen Habermas eine Politik der argumentativen Abwägung, der gemeinsamen und transparenten Beratschlagung und Verständigung über öffentliche Angelegenheiten – genau das, was bei der Entscheidung über den Bahnhofsneubau in Stuttgart ursprünglich zu kurz kam und unter Strapazen nachgeholt wurde. Mag der Baubeschluss nach repräsentativem Demokratieverständnis noch so korrekt zustande gekommen sein: Gründe und Gegengründe waren unvollständig zur Bevölkerung durchgedrungen.

Die Lehre für die Politik, für uns als politische Bildner und letztlich auch für die lokalen Medien lautet: Es hängt immer mehr davon ab, inwieweit es gelingt, diejenigen Bürgerinnen und Bürgern zu beteiligen, die beteiligt werden wollen.

In diesem Zusammenhang spielt das Internet eine große Rolle. Nicht als Ursache dieser Weiterentwicklung der politischen Kultur, wohl aber als Verstärker und Beschleuniger. Politiker,Politikerinnen und PR-Profis versuchten lange, die ihnen vertrauten Kommunikationsformen einfach nun zusätzlich auch über das Internet zu senden. Das musste schiefgehen, denn im Rückblick sehen wir klar, dass Twitter, Facebook, Blogs, Wikis & Co. auch die Formen von Kommunikation und Information verändern – und damit die Formen und Möglichkeiten gesellschaftlicher Willensbildung und -artikulation. Mit den Social-Media-Diensten ist der Konsument ist zum Prosument geworden, also zum Nutzer, der nicht nur empfängt, sondern gleichzeitig selbst produziert und veröffentlicht.

Im Internet sind in schier unübersehbarer Zahl neue Teilöffentlichkeiten entstanden. Dort finden wir eine Fülle selbstorganisierter Gemeinschaften hoch engagierter Menschen, die über Grenzen wie formellen Status, Geschlecht, Alter und Geographie hinweg ein gemeinsames Ziel verfolgen. Im Grunde organisiert jedes Individuum, das sich vernetzt, um sich herum seine ganz persönliche Öffentlichkeit, in der es Nachrichten austauscht, Ideen diskutiert und Meinungen bildet und beeinflusst.

Vieles davon ist im klassischen Verständnis lokal, anderes eher global. Möglicherweise ist diese Unterscheidung aber gar nicht mehr so wichtig. Ob Freunde, mit denen ich mich vernetze, zwei Straßen weiter oder in einer anderen Ecke der Welt leben, spielt kaum eine Rolle. Wer einen Teil seiner Lebensrealität im Netz verbringt, dem ist das Ferne nah und das Nahe, das ihn nicht interessiert, so fern wie der Mond. Wo neue Öffentlichkeiten sich nicht mehr anhand von Staatsgrenzen, geschweige denn von Grenzen traditioneller Regionen und Gebietskörperschaften verorten lassen, kommt es auf die Gemeinsamkeit der Werte und Ziele an. In sozialen Medien kann man Hobbys pflegen, den schlechten Kundendienst von Unternehmen sanktionieren oder eben sich in die Politik einmischen – also tut man es in vielfältiger Weise. NGOs oder kleinere Gruppen bekommen die Chance, sich Gehör zu verschaffen. Nichts ist leichter als eine Awareness-Kampagne: Mit Videos lässt sich schnell Aufmerksamkeit bei den Menschen verschaffen. Denn in der Demokratie regieren Mehrheiten. Wer es schafft, via Internet und Social Web Mehrheiten zu generieren, der gewinnt an Einfluss.

Das sieht auch die Politik. In Zeiten sinkender Wahlbeteiligung, steigender Politikverdrossenheit und fallenden Mitgliederzahlen in den politischen Parteien scheint es nur vernünftig, dort präsent zu sein, wo Menschen zunehmend ihre Zeit verbringen. Aber wo die gängigen Darstellungsformen von Politik und ihre verquaste formelhafte Sprache ins Netz getragen werden, machen die Menschen heute ihrer Ablehnung Luft. Sie schlagen auf Twitter oder Facebook unmittelbar verbal zurück – und das mit oft nachhaltiger Wirkung.

Ich gestehe: Das fasziniert den politischen Bildner. Wir brauchen keine respektvollen Untertanen, sondern aktive Bürgerinnen und Bürger, die das Gemeinwesen als ihre Sache verstehen. Mehr Beteiligung schafft mehr Freiheit für den Einzelnen und fördert Legitimation, Zusammenhalt und Stabilität des Ganzen – das ist unsere Ausgangsposition. Wenn wir also von unserer Warte aus auf Internet und Politik schauen, dann stellen wir fest, in welchem Umfang hierzulande bereits neue Teilhabeformen existieren und welche Dynamik sie in das öffentliche Geschehen hinein tragen.

„Zeitalter der Partizipation“ haben wir daher in diesem Jahr unseren Bundeskongress Politische Bildung genannt, weil wir der Meinung sind: Die gesellschaftliche Realität macht dieses Thema in hohem Maße virulent. Eine neue Partei ist auf dem Vormarsch in die Parlamente, die denen eine politische Heimat geben will, die das Gefühl haben: Die etablierten Parteien haben die Problematik von Teilhabe in einer zunehmend digitalen Gesellschaft nicht begriffen. Die Piraten sind Bürgerinnen und Bürger, die als citoyens tagtäglich ernst genommen werden, nicht nur alle vier Jahre ihr Kreuzchen machen wollen.

Die Position der bpb ist es, so viel Teilhabe wie möglich zu eröffnen und dazu auch neue, noch unerforschte Wege zu beschreiten. Dabei sind wir keineswegs blauäugig, sondern sehen ganz klar: Social Media macht nicht aus jedem User einen citoyen – also einen Staatsbürger, der aktiv und eigenverantwortlich am Gemeinwesen teilnimmt und dieses mitgestaltet – und wer unter einer politischen Forderung auf Facebook den „Gefällt mir“-Button klickt, ist noch lange kein politischer Aktivist. Bloß weil es technisch möglich geworden ist, werden sich nicht Millionen Menschen um einen virtuellen runden Tisch versammeln, um gemeinsam politische Fragen zu diskutieren. 50 Prozent der Bevölkerung in Deutschland beteiligen sich nicht an politischer Kommunikation. Die Mediennutzung dieser Bevölkerungsgruppe ist weitgehend unpolitisch. Die „Passiven Mainstreamer“, wie wir sie nennen, nehmen allenfalls an Wahlen teil und nutzen ansonsten keine Möglichkeiten der Partizipation – weder online noch offline. Selbst der überwiegende Teil der Onliner ist eher passiv – egal, ob jung oder alt. 30 Prozent der hiesigen Bevölkerung sind sogar noch ganz und gar offline.

Das Internet als neue Agora, wo sich alle Individuen aktiv um das Gemeinwesen kümmern – das bleibt eine Utopie, aber eben auch eine Kompassnadel für die Richtung, in die wir marschieren wollen. Dabei gilt es auch, die Probleme im Blick zu haben: Das Internet kann die Bildung von Teilöffentlichkeiten begünstigen, fördert aber auch die Spaltung in eine digitale Kommunikationselite und die abgehängten Bürgerinnen und Bürger der analogen Welt. Aber der Wandel hat gerade erst begonnen. Die Mehrheit bleibt bei ihren Gewohnheiten, auch in der politischen Kommunikation.

Wir haben es mit einer pluralen, äußerst vielfältigen Gesellschaft zu tun – genauso vielfältig sind die Beteiligungsformen. Nicht immer sind die Ergebnisse auf den ersten Blick ermutigend, nicht immer bleiben denen, die ihr Herzblut und viel Zeit in ihr Engagement gesteckt haben, Frustrationen erspart. Auch hierfür ist Stuttgart 21 ein Exempel. Letztlich ist es aber doch ein phantastisches Ergebnis, wie viele Menschen beteiligt waren, wie viele sich selbst ermächtigt haben, sich in diese komplizierte Entscheidung einzumischen. Auf jeden Fall ist es ein Zeichen für eine vitale, eine lebende Demokratie.

Diese Vitalität der Partizipationswünsche zwingt Staat und Verwaltungen, Bürgerbeteiligung und Diskurs ernst zu nehmen und selbst Räume dafür zu eröffnen. Solche E-Government- oder E-Democracy-Konzepte sind meist die Digitalisierung altbewährter Partizipationsformate, der Partizipation 1.0 gewissermaßen, gekennzeichnet durch ein klares Oben und Unten, die Trennung in Initiatorinnen und Initiatoren sowie Mitmachende. Machtgefälle und Machtstrukturen der analogen Welt werden digital reproduziert. Allerdings ist auch der qualitative Mehrwert der Digitalisierung für die Bevölkerung nicht zu verkennen: Die Hürden für Bürgerinnen und Bürger sinken, weil sie sich zeit- und ortsunabhängig ein Bild machen und eigene Standpunkte einbringen können. Demzufolge haben auch Beteiligungsformen von oben ihren Wert und können, mit der nötigen Ernsthaftigkeit betrieben, gut funktionieren.

Aber Bürgerinnen und Bürger wollen sich häufig gerade da einmischen, wo sie nicht oder nicht ernsthaft genug gefragt werden. Da kann die Berichterstattung in den Medien der Auslöser sein, aber auch die Aktivität Einzelner im Netz, die Informationen und Mitsprache einfordern. Und das wird noch zunehmen in dem Maße, wie die Transparenz steigt. Deshalb ist beispielsweise das Thema „Open Data“ für uns so spannend: Wenn die Informationssammlungen des Staates und der öffentlichen Verwaltungen wirklich öffentlich sind, entstehen ganz neue Perspektiven für die Einmischung des Bürgers in seine eigenen Angelegenheiten. Der Blick in die USA und nach Großbritannien zeigt, was da alles möglich ist. Natürlich sind hier hoch informierte und technisch bewanderte Einzelne die Vorreiter.

Doch soziale und technische Barrieren sind nichts Neues. Die Diskrepanz zwischen denen, die mitmachen, und denen, die sich fernhalten, gab und gibt es auch bei herkömmlichen Beteiligungsformen. Je anspruchsvoller und komplexer die Teilnahme ist, desto mehr beschränkt sie sich auf diejenigen, welche die Sachverhalte durchschauen und das nötige Know-how mitbringen. Wichtig ist, dass wir hier die soziale Schranke nicht als unverrückbar hinnehmen: Politische Bildung arbeitet daran, Prozesse so zu gestalten, dass alle daran teilhaben können, und dass das nötige Wissen verbreitert wird. Es geht darum, mehr niedrigschwellige Angebote zu entwickeln, Hindernisse abzubauen und Komplexität zu reduzieren. Dass so etwas funktioniert, zeigt der Erfolg unserer Wahl-O-Maten: Da muss man eben nicht tief in politisches Wissen eingetaucht sein, um Fragen zu wichtigen Diskussions- und Entscheidungsthemen zu beantworten und etwas über die eigene Parteipräferenz zu erfahren.

Doch bei solchen Angeboten wollen wir nicht stehen bleiben. Auch nicht dabei, Veranstaltungs- und Projektformate gemeinsam mit der Zielgruppe zu entwickeln. Wenn wir Partizipation fordern, können wir uns als staatliche Behörde ihr nicht verweigern. Feedbackbögen und Abstimmung über Themen reichen uns nicht. Wir wollen zu einer kollaborativen Behörde werden, die die Gestaltungshoheit über ihre Projekte aufgibt, Beteiligung sowie freie Verbreitung und Verarbeitung der Angebote zulässt. Deshalb entwickeln wir interaktive Lernformate und qualifizierte Peer-Netzwerke für und mit Jugendlichen weiter. Wir stärken den partizipativen Charakter unserer Veranstaltungsformate durch Live Streams und Twitterwalls, durch die Vernetzung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer über Social Media, Veranstaltungsblogs mit Beiträgen von Gästen sowie Expertinnen und Experten, Pod- und Vodcasts. Wir entwickeln ein Community Management für die bpb-Angebote und mobile Formate, also Angebote, die sich veränderten Lern- und Lebensgewohnheiten anpassen und dazu herausfordern, Inhalte mitzuentwickeln, eigene Ergebnisse zu teilen und zu verbreiten. Aus der Website der bpb soll eine Plattform werden für Widerspruch, Diskussion, Kritik.

Das Netz zwingt zur Entscheidung, ob wir den Gedanken der Volkssouveränität ernst nehmen, auch wenn das die Prozesse nicht einfacher macht, sondern komplexer und unbequemer. Aber wenn wir den Frust über den gegenwärtigen Politikbetrieb nicht in eine Demokratiekrise auswachsen lassen wollen, sehe ich keine andere Chance, als demokratische Institutionen und Entscheidungsprozesse durch authentische und echte Bürgerbeteiligung erneut zu legitimieren.

Und damit bin ich endlich bei der Rolle des Lokaljournalismus. Wir politischen Bildner trauen uns viel zu, aber wir leiden nicht an Selbstüberschätzung. Auch mit mehr Mittel und Personal wären wir nicht in der Lage, im Alleingang einer adäquaten Partizipation der Bürgerinnen und Bürger zum Durchbruch zu verhelfen. Alle Bildungsinstitutionen zusammen, so bedeutend ihre Rolle ist, werden das nicht schaffen. Ob und in welchem Maße neue und alte Partizipationswege der Demokratie neues Leben einhauchen können, hängt ganz wesentlich davon ab, inwieweit es dem Journalismus im Lokalen gelingt, als informierende, moderierende und kritische Instanz weiterhin wahr- und ernst genommen zu werden. Anders formuliert: Kann der Lokaljournalismus seine Rolle, die er früher bei der Integration der lokalen Teilöffentlichkeiten und Partizipationsfelder gespielt hat, auf die neue Welt der digitalen Medien übertragen?

Vieles von dem, was ich gerade erörtert habe, ist Ihnen bekannt. Die Herausforderungen sind für den Journalismus wie für die politische Bildung ähnlich. Sie setzen sich mit den gleichen Phänomenen auseinander, suchen seit Jahren nach Wegen aus der Krise, in die die veränderten Strukturen der Öffentlichkeit und Verhaltensweisen der Menschen insbesondere die Tageszeitungen gestürzt haben. Cross-Medialität, Leser-Community, Bürgerreporterinnen und -reporter oder User-Generated Content – so lauten die bekannten Schlagworte. Sich darauf einzulassen ist schwierig, zumal niemand sagen kann, wie sich das alles auf die Wirtschaftlichkeit, auf die Möglichkeiten der Refinanzierung auswirken wird. Sich nicht darauf einzulassen, scheint mir das größere Risiko. Es gibt kein Monopol der Nachrichtenvermittlung mehr, auch nicht im Kommunalen, auch nicht auf dem plattesten Lande in der hintersten Provinz. Die Welt wird von Nachrichten überflutet, sie verbreiten sich anders als früher und viel schneller und auf sehr vielen Kanälen. Es ist interessant: In dieser beschleunigten Medienwelt bekommen die auf Nachrichten fixierten Tageszeitungen Schwierigkeiten, während die behäbigen, langatmigen Wochenzeitungen sich recht gut behaupten können. Mitten in der Beschleunigung durch digitale Medien entsteht nämlich eine Nachfrage nach Slow Media. Und das heißt ja nichts anderes, als dass es angesichts der unüberschaubaren täglichen Flut von Informationen an Antworten mangelt, welche Informationen denn verlässlich und belastbar sind.

Lokaljournalistinnen und -journalisten sind heute gefordert als Instanz, die sich kompetent der Diskussion über die Nachricht und ihre Bedeutung stellt – auch und gerade im Netz. So befähigen sie die Bürgerinnen und Bürger nicht nur kompetente Wahlentscheidungen zu treffen: Indem er Debatten mit sorgfältig recherchierten Informationen anreichert und Argumenten diskursiven Raum gibt, schafft der Lokaljournalismus die Grundvoraussetzung für lebendige Partizipation. Diese Verantwortung für die Demokratie müssen Journalistinnen und Journalisten ganz bewusst wahrnehmen. Tun wir das nicht heute bereits, fragen Sie sich vielleicht? Mein Eindruck ist: Nein. Nicht in der Konsequenz, die nötig wäre.

Manche lokale Medien, zum Beispiel, haben durch langweiligen, unkritischen Honoratioren- und Terminjournalismus viel Kapital verschenkt. Wer sich die Mühe macht, an einem Tag mehrere Regionalzeitungen zu vergleichen, braucht nicht lange, um die vielen Agenturmeldungen zu identifizieren, die nahezu unverändert in die verschiedenen Medien übernommen werden. Dabei lassen sich im Lokalen die Auswirkungen globaler Interdependenzen anschaulich und beispielhaft aufzeigen, hier werden sie erfahr- und fassbar. In der Kommune bietet die Nähe zu den Bürgerinnen und Bürgern und zum Geschehen viele Chancen des Dialogs und der Beteiligung, die das lokale Medium zu dem öffentlichen Forum machen können, das wir brauchen und das auch den Bürgerinnen und Bürgern unverzichtbar ist. Nur so, meine ich, können die „alten“ Medien neben den „neuen“ ihre Existenzberechtigung beweisen und ihr Alleinstellungsmerkmal neu definieren.

Der mit Unterstützung der Bundeszentrale für politische Bildung und des Projektteams Lokaljournalisten erstellte Forschungsbericht „Crossmedia 2012“, der gerade erschienen ist, zeigt die Lokalzeitungen hier auf einem guten Weg. Die sozialen Netzwerke haben nicht nur für die Recherche, sondern auch als Publikationskanal binnen kurzer Zeit enorm an Bedeutung gewonnen. 90 Prozent der befragten Lokalredaktionen nutzen Facebook als Kanal, zwei Drittel (64%) twittern über einen Redaktionsaccount bzw. erstellen eine Mobile-Website (66%). Allerdings heißt es auch: Mit neuen journalistischen Formen wird meist nur punktuell experimentiert, es gibt noch viel Potenzial für eine systematische Integration und permanente Evaluation neu zu entwickelnder Formen der öffentlichen Kommunikation.

Viel Raum also für noch mehr Innovation. Aber gut recherchieren und schreiben können, crossmedial mit Bild und Video umgehen und Inhalte in viele Kanäle einzuspeisen, ist ebenfalls nicht alles. Zusätzlich ist eine neue Einstellung notwendig. Journalistinnen und Journalisten bestimmen heute die Agenda nicht mehr alleine. So mancher Ihrer Leserinnen und Leser hat auch eine Stimme im Konzert der Meinungsbildung. Mancher Blogbeitrag, mancher Tweet entfaltet mehr Wirkung als der Leitartikel in der Lokalzeitung. Daher müssen Journalistinnen und Journalisten mehr zuhören, Anregungen und Kritik anzunehmen und mit anderen zusammenzuarbeiten.

Wir brauchen einen Lokaljournalismus, der den lokalen Raum nicht bloß geografisch definiert, denn jene „Nähe“, die Wesen und Erfolg des Lokaljournalismus ausmacht, ist nicht mehr räumlich abgegrenzt. Wo die Menschen den Netzzugang per Tablet oder Smartphone überall mit sich tragen, hat sich ihre Lebenswelt ausgeweitet. Räumliche Nähe und digitale Nähe sollten auch im Lokaljournalismus zu einer neuen Form von „Nahwelt“ verschmelzen, die in erster Linie emotional definiert ist. Lokaljournalistinnen und -journalisten sollten mehr danach fragen, wie lokales Geschehen, das Tun oder Lassen von Bürgerinnen und Bürgern, sowie Politik und Wirtschaft mit den großen Fragen unserer Zeit zusammenhängen. Alles, was den Menschen vor Ort wichtig ist, ist ein lokales Thema. Um diese Themen zu kennen, mussten die Journalisten und Journalistinnen früher in die Kneipe oder in den Verein. Heute müssen sie zudem in der digitalen Medienwelt dabei sein, müssen dazugehören und im Gespräch sein. Hierbei hilft „Open Journalism“, wie der Guardian das nennt, gestützt auf Wissen und Erfahrungen der Leserinnen und Leser, die in den Arbeitsprozess einbezogen werden.

Mit solchem Know-how kann Lokaljournalismus sich neben und in den Sozialen Medien als Referenz für verlässliche Informationen behaupten. Jeder, dem an lebendiger Demokratie gelegen ist, muss hoffen, dass dieser Sprung gelingt. Wir brauchen diese mediale Mitte der sich immer weiter zersplitternden Öffentlichkeiten. Wir brauchen eine Kraft, die den Fliehkräften des Individualismus und der Interessenvertretung durch Aufklärung über die Bedeutung der Gemeinschaft und des allgemeinen Wohls entgegenwirkt. Ich sehe keine andere Instanz, die – nicht punktuell, sondern auf breiter Front – diese Dienstleistung erbringen könnte. Journalistinnen und Journalisten haben in der Regel diese Kompetenz, auch wenn sie aus vielerlei Gründen nicht immer Gebrauch davon machen. Was sie an neuen crossmedialen Fertigkeiten noch brauchen, kann ihnen eine qualifizierte Weiterbildung vermitteln, wie sie im Rahmen Ihrer Initiative entwickelt wird. Weiterbildung sollte sich aber nicht auf diese Fertigkeiten beschränken. Sie sollte auch den Ehrgeiz haben, das Feuer wieder anzufachen, das die meisten Journalisten und Journalistinnen in diesen Beruf geführt hat: Den Willen zur positiven Weiterentwicklung und die Verantwortung für unser Gemeinwesen.

Dazu wünsche ich eine glückliche Hand und einen langen Atem. Denn unsere Demokratie braucht so viel exzellenten, recherchestarken Lokaljournalismus, wie sie bekommen kann.

- Es gilt das gesprochene Wort -

Fussnoten