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Kommt Europa an seine Grenzen? - Dinner Speech auf dem European Newspaper Congress (2. Mai 2016, Wien) | Presse | bpb.de

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Kommt Europa an seine Grenzen? - Dinner Speech auf dem European Newspaper Congress (2. Mai 2016, Wien)

/ 9 Minuten zu lesen

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Medienschaffende,

vielen Dank für die Einladung, einige Worte an Sie richten zu dürfen. Als politischer Bildner einer staatlichen Institution in Deutschland betrete ich bei Ihnen allerdings dünnes Eis und berufe mich darum vorab auf den deutschen Dichter Johann Wolfgang Goethe, der in seinem Roman „Die Wahlverwandtschaften“, anknüpfend an die damaligen Kenntnisse der Chemie, besagten Begriff geprägt hat, um die potentielle Nähe von Partnern zu beschreiben, die mehr miteinander zu tun haben, als ihnen auf den ersten Blick auffällt.

Mit Blick auf unsere finalen Betätigungsfelder in den europäischen Öffentlichkeiten verstehen wir uns als Erklärer und Ergründer gesellschaftspolitischer Fragestellungen. Auch meine Institution, die Bundeszentrale für politische Bildung, hat Europa im Blick. Zu unserem Programm gehören Magazine, Bücher und Online-Dossiers über Europa, sowie zahlreiche Seminare und Konferenzen zu einzelnen Themenbereichen. Besonders hervorheben möchte ich das Lokaljournalistenprogramm, das seit gut 35 Jahren Fortbildungen und Services bereitstellt.

Vor allem verfolgen wir aber dieselben Ziele wie Sie: Bürgerinnen und Bürger zu informieren über das, was in und mit Europa passiert. Wir wollen aufmerksam machen auf politische Entwicklungen und Mitbestimmung anregen, aber auch Missstände thematisieren und ausleuchten. Der Drang, Haltung zu bestimmten Themen europäischer Politik zu artikulieren und mehr mitzubestimmen, bewegt Menschen in ganz Europa dieser Tage wie vielleicht nie zuvor – und damit auch uns als Medienschaffende und politische Bildner.

Vorab eine Beobachtung, die auch empirisch belegt ist. Auch wenn Europa in den Medien immer noch ein sperriges, nicht einfach zu vermittelndes Thema ist, hat die europapolitische Berichterstattung in den Tageszeitungen und elektronischen Medien fast aller europäischen Öffentlichkeiten quantitativ und qualitativ zugenommen. Auf der anderen Seite ist dabei aber kaum so etwas wie eine gemeinsame europäische Öffentlichkeit gewachsen.

Im Gegenteil: Fast erscheint es so, dass Europa heute zum Steinbruch von Populisten und Autokraten „gelenkter Demokratien“ wird, die Europa einen Kulturkampf erklären, um gegen liberale, offene Gesellschaftsmodelle mit nationalen Identitätspolitiken zu Felde ziehen. Journalisten werden hier Farbe bekennen müssen, gerade auch angesichts der Schicksale von liberalen Kolleginnen und Kollegen aus Ungarn, Polen und der Türkei, die ein Menetekel für die vor uns stehenden Auseinandersetzungen sind.

Ich möchte Ihnen vier kurze Thesen zum Nachdenken vorlegen und beginne mit einer viel diskutierten Frage: Kommt Europa an seine Grenzen?

Das Titelbild unseres aktuellen bpb-Magazins ist für mich besonders erschütternd. Sie kennen es alle. „Hope for a New Life“ hat der Fotograf Warren Richardson sein Bild genannt, das als „World Press Photo 2016“ vor kurzem um die Welt ging. Darauf zu sehen: Eine Lücke im Stacheldraht, durch das ein Mann hektisch ein Kind reicht – nur knapp vorbei an den scharfen Kanten der Befestigung. Das Bild ist düster, verschwommen, voller Bewegung, Gefahr und Ungewissheit. Es ist eine Metapher für Europas Grenzen. Der Mann, der das Kind hält, ist Syrer. Und dieser Stacheldraht wurde an Ungarns Grenze verlegt, um Menschen wie diesen Mann und sein Kind daran zu hindern, hier die EU zu betreten.

Mauern gab es in Europa schon einmal. Damals haben die Ungarn maßgeblich dazu beigetragen, sie einzureißen. Ich habe die Mauern selbst erlebt, in Berlin als Ostberliner. Die Berliner Mauer war ein Symbol für Gewaltherrschaft und den Kalten Krieg und damit für die Menschen im Osten das Ende der Welt. Mindestens 136 Menschen wurden dort bei dem Versuch, aus der DDR in den Westen zu fliehen, ermordet. Mit dem Fall der Mauer begann eine neue Ära – nicht nur für die deutsche, sondern auch für die europäische Geschichte.

Eine der wichtigsten Errungenschaften der EU war „ihre stabilisierende Rolle bei der Verwandlung Europas von einem Kontinent der Kriege zu einem des Friedens“. Mit dieser Begründung erhielt die EU erst 2012 den Friedensnobelpreis. Was ist aus diesem Kontinent geworden? Ich bin schockiert zu sehen, dass in Europa wieder Mauern – in Form von Zäunen – errichtet werden. Das bereits zitierte Foto wurde im August letzten Jahres aufgenommen. Seitdem sind viele weitere Zäune hinzugekommen, auch an den Grenzen Österreichs. Und plötzlich wird sogar das Schengen-Abkommen in Frage gestellt, das bis vor kurzem noch als eine der großen Errungenschaften der EU gefeiert wurde. Die einzelnen Staaten sind in der Flüchtlingsfrage zerstritten. Europa, so behaupten viele, kommt an seine Grenzen. Oder in Anlehnung an einen anderen deutschen oder besser europäischen Dichter, der auf dem Cimetière de Montmatre in Paris seine letzte Ruhe gefunden hat – die Rede ist von Heinrich Heine: „Denk ich an Europa in der Nacht/ Dann bin ich um den Schlaf gebracht.“ Haben etwa die Europäer schon nach wenigen Jahren den Glauben an ihre neue Erzählung verloren?

Doch – und dies ist meine erste These – in der Herausforderung, eine menschenwürdige Politik für Flüchtlinge zu finden, liegt auch eine Chance. Für Europa, und für Sie als Journalistinnen und Journalisten. Denn: Mit der Fokussierung auf ein transnationales, die europäischen Werte berührendes Thema wächst die europäische Öffentlichkeit durch die Berichterstattung zusammen.

Seit Beginn des Jahres – so schätzt die Internationale Organisation für Migration – sind über 700 Menschen bei dem Versuch ertrunken, über das Mittelmeer nach Europa zu kommen. Diesem Europa gelingt es gleichzeitig nur mit größter Anstrengung, sich auf ein gemeinsames Vorgehen im Umgang mit der wachsenden Zahl Geflüchteter zu einigen. Trotz der teilweise sehr unterschiedlichen politischen Herangehensweisen ist aber klar geworden: Europa war selten so greifbar und lebendig wie heute. Der Referenzrahmen vieler Menschen weitet sich über den Nationalstaat hinaus, denn die europäische Öffentlichkeit wächst durch die Berichterstattung rund um das Thema Flucht zusammen.

Der letztes Jahr verstorbene Politikwissenschaftler Benedict Anderson prägte u.a. den Begriff der „vorgestellten Gemeinschaft“ - im Original „imagined communities“ als eines von vier Merkmalen von Nation (die anderen sind „begrenzt“, „souverän“ und „gemeinschaftlich“). „Vorgestellt“ deshalb, weil seine Mitglieder “nie alle anderen Mitglieder kennen, treffen oder auch nur von ihnen hören werden, aber doch im Bewusstsein von jedem das Bild der Gemeinschaft lebt“. Dieses Bild der Gemeinschaft lebt auch in den Bürgerinnen und Bürgern Europas. Und obgleich Europa keine von Anderson beschriebene Gemeinschaft im Sinne einer Nation ist, wird es heute als Akteur wahrgenommen und in den Medien widergespiegelt.

Sie alle machen keinen isolierten Journalismus, sondern arbeiten gemeinsam an der Vorstellung eines handlungsfähigen Europas, bei dem es noch jede Menge Optimierungsbedarf gibt. Meinungsbildung und politische Beteiligung hatten selten einen so grenzüberschreitenden Bezug wie heute. Sie haben die Chance, daran anzuknüpfen, und die Köpfe zu öffnen für Problemlösungen, die auf politischer Ebene noch erkämpft werden müssen.

Doch – und da kommen wir auch schon zu meiner zweiten These – wachsen gleichzeitig auch populistische Gegenöffentlichkeiten. Damit geraten Europäische Medien in eine Glaubwürdigkeitskrise.

Bilden Sie noch die Klammer in einer pluralen zivilisierten Öffentlichkeit und geraten sie auf eine Seite neu aufgeworfener Schützengräben? Können Sie diesen Spagat aushalten, diese Krise überwinden?

Nationalpopulisten von links wie von rechts haben Erfolg, weil manche das Vertrauen in die Aufrichtigkeit der großen Medien wie auch der demokratischen Institutionen verloren haben. Weil sie sich mit ihren Sorgen und Ängsten nicht mehr ernst genommen fühlen. Und ja, auch weil sich viele „Etablierte“, wie sie abschätzig genannt werden, weigern, mit diesen Menschen in Kontakt, in einen ernstgemeinten Dialog zu treten. Die Enttäuschten wenden sich ab, im Internet finden sie Gleichgesinnte, jede Menge Verschwörungstheorien und die Antworten, nach denen sie suchen.

Meine Damen und Herren, ich glaube, dass der Journalismus bei aller Kritik nicht schlechter, sondern die Leserinnen und Leser, die Rezipienten eher kritischer geworden sind. Und dass Nachrichtenblasen im Internet, ob wir es wollen oder nicht, diese kritische Haltung noch verstärken. Denn wenn diese Menschen in ihren selbstgeschaffenen Medienumwelten dann doch mit einer anderen Meinung konfrontiert werden, erscheint ihnen diese vorschnell als falsch. Debatten über Fehler von Medien finden – glücklicherweise – verstärkt statt und sind mittlerweile zum Markenzeichen eines selbstkritischen Journalismus geworden, werden aber allzu oft auch aufgebauscht und verzerrt.

Das historisch von nationalsozialistischen Provokateuren geprägte Wort der „Lügenpresse“ ist in Deutschland in den letzten Monaten zum gängigen Schlachtruf von Populisten geworden, die ausgerechnet Russia Today als „Gegenbeispiel“ anführen. Ich bin aber überzeugt, dass „in the long run“ die etablierten Medien nicht in der Glaubwürdigkeitskrise stecken bleiben werden, wenn sie sich auf ihre wirklichen Stärken besinnen.

Meine dritte These lautet daher: Ein qualitativer Journalismus, der sein Handwerk und seine gesellschaftliche Verantwortung ernst nimmt, kann ein Teil der Lösung werden.

Medienmacher stehen in diesen Zeiten vor einem schwierigen Spagat: Auf der einen Seite müssen sie der Verantwortung gegenüber der Allgemeinheit nachkommen, indem sie umfassend berichten. Dabei müssen sie beispielsweise auch auf Probleme bei der Bewältigung der Aufnahme und Integration von Geflüchteten hinweisen. Auf der anderen Seite blicken Journalistinnen und Journalisten – Sie wissen das selber viel besser – sowieso schon verstärkt auf die Dinge, die falsch laufen.

Brauchen wir, so fragen einige mit Blick auf die sich neu polarisierende Öffentlichkeit, eine Art von „Konstruktivem Journalismus“? Kann das ein Ausweg aus dem Dilemma aufzeigen? Können Journalisten und Medienschaffende, wenn sie verstärkt nach Lösungen und Best-Practice-Beispielen Ausschau halten, das Vertrauen verlorener Leserschaften zurückgewinnen? Muss man nicht in unübersichtlichen Zeiten den Lesern alternative Sichtweisen zumuten, in jedem Fall aber der TINA Rhetorik (there is no alternative) widersprechen? Und wenn man den Rezipienten dann noch öfter Hintergründiges zutraut statt im Minutentakt Wasserstandsberichte zu liefern, kann dann die Kredibilität der Medien wieder gestärkt werden?

Von einem Punkt allerdings bin ich überzeugt. Die Aufgaben der Recherche, des Nachfragens, des Überprüfens, der aufklärenden und schlüssigen Verkettung von Fakten werden ein Herzstück qualitativen Journalismus in Europa bleiben. Und das gilt gerade auch mit Blick auf die prekärer werdenden Ökonomien von Berichterstattung. Wer hier spart, sägt den Ast ab, auf dem zukunftsrelevanter Journalismus in Europa sitzt.

Wie dies gelingen kann, zeigten jüngst die Enthüllungen der Panama Papers. Der Rechercheverbund, an dem die die Süddeutsche Zeitung maßgeblichen Anteil hat, hatte die Dokumente des massiven Datenleaks gemeinsam mit dem International Consortium for Investigative Journalists ausgewertet und enthüllt, wie Investoren, aber auch jede Menge Politiker und Prominente weltweit Geld waschen. Dabei blieb das Team eben nicht an der Oberfläche, sondern verfasste Hintergrundberichte zu Ursachen, einzelnen Beteiligten und möglichen Folgen. Gut gemachter Journalismus wie dieser, der nachfragt, Missstände einordnet, Lösungswege aufzeigt und dranbleibt, ist glaubwürdig und wird respektiert. Er stärkt die Fähigkeit, sich eine durchdachte Meinung zu bilden.

Den gleichen Zweck verfolgen übrigens politische Bildungsangebote, wie wir sie machen. Sie finden innerhalb und außerhalb von Schulen und Bildungseinrichtungen statt, immer öfter aber auch informell in Selbstlernkontexten und communities.

Aufgrund der aktuellen Entwicklungen in Europa fühlen sich viele Menschen dazu gedrängt und ermutigt, ihre Meinung zu äußern, Stellung zu nehmen und sich dementsprechend zu verhalten. Sie machen das auch, um sich zu positionieren und Farbe zu bekennen. Dass sich so viele Menschen zu einem Thema eine Meinung bilden, ist prinzipiell etwas Gutes und von zentraler Bedeutung für eine wachsende europäische Öffentlichkeit. Das aristotelische „zoon politikon“ hat einen neuen Auftritt. Seine Polis ist heute nicht nur die eigene lokale Öffentlichkeit, sondern immer auch Europa als transnationale und kontinentale Öffentlichkeit, die sich gemeinsamer Werte versichert. Es wird deshalb zu einer zentralen Frage Europas werden, ob die Menschen bereit sind solidarische Teilhabe auch grenzüberschreitend zu leben. Oder es wird Europa nicht mehr als wertebasierende Erzählung geben.

Wichtig für die gesellschaftlichen Debatten wird deshalb, dass die Meinungsbildungen möglichst sowohl kontrovers als auch ausgewogen und konstruktiv verlaufen. Überall in Europa, grenzübergreifend. Gerade in diesen Zeiten werden guter Journalismus und politische Bildung, die sich neu erfinden und auf ihre ureigenen Stärken besinnen sollten, dringend benötigt. Journalistinnen und Journalisten sind in diesem Sinne Partner der politischen Bildung, sie sind Wächter und Aufklärer.

Meine letzte These ist deshalb gleichzeitig auch ein Appell: Wir benötigen – und zwar so dringend wie noch nie – mehr politische Bildung in ganz Europa.

Wie auch immer man das organisiert, ob durch eine zentrale Servicestelle oder durch ein neues europaweites Programm für „Civic Education“, das sei dahin gestellt. Aber es gilt in der Zukunft auch mit EU-Mitteln europaweit Projekte der zivilgesellschaftlichen Arbeit zu fördern und in allen Amtssprachen überparteiliche Informationen, Lehrmaterialien und Online-Angebote bereit zu halten. Es sollten Ressourcen geschaffen werden, um eben europäische Debatten zu begleiten und anzetteln zu können. Ein außergewöhnliches und nützliches Projekt – erlauben Sie mir diese Werbung pro domo – ist der dreisprachige Onlineservice www.eurotopics.net. Hier werden europäische Debatten grenzüberschreitend abgebildet und gebündelt, die Sie als Journalistinnen und Journalisten erst herstellen. Dafür brauchen wir Begegnungen und Austausch von aktiv engagierten Europäern, politischen Bildnern, aber auch Journalistinnen und Journalisten. Sie tragen mit Ihren Aktivitäten deshalb zur Stärkung der europäischen Demokratie und Zivilgesellschaft bei.

Meine Damen und Herren, Es gibt keinen Grund, den Kopf in den Sand zu stecken. Im Gegenteil: Kopf hoch und nicht die Hände!

Vielen Dank

- Es gilt das gesprochene Wort. -

Fussnoten