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Keynote zum Thema “Importance of political neutrality in politics education and German cases in point” | Presse | bpb.de

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Keynote zum Thema “Importance of political neutrality in politics education and German cases in point” Am 13.04.2021 sprach Thomas Krüger eine Keynote im Rahmen einer Online-Veranstaltung der Korea Democracy Foundation

/ 13 Minuten zu lesen

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

„Die ideologische Schieflage der Bundeszentrale ist evident“, urteilte eine Journalistin der Berliner Redaktion der liberalkonservativen Neuen Zürcher Zeitung am 7. Februar dieses Jahres über die Arbeit unserer Behörde. Anlass der Berichterstattung war die Frage, wie das politische Phänomen des Linksextremismus auf unserer Website beschrieben werden soll. Auch die politisch linksorientierte Berliner Tageszeitung äußerte sich in dieser Angelegenheit und warf die Frage auf, „ob die Bildungsinstitution diesen Grundsätzen [der Ausgewogenheit] gerecht wird – und wie unabhängig sie überhaupt arbeitet.“

Nun könnten wir der deutschen Redensart folgen, dass zweimal minus plus ergibt und argumentieren: Wenn sich zwei Pole des politischen Spektrums in der gleichen Sache an der bpb abarbeiten, ist uns hier wohl eine überparteiliche Linie gelungen. So einfach machen wir es uns aber natürlich nicht, denn wie Sie sich sicherlich vorstellen können, ist es ist keineswegs unser Ziel, selbst zum Gegenstand publizistischer Debatten zu werden.

Was aber ist denn die Intention staatlicher politischer Bildung in der Bundesrepublik Deutschland? Ist es ihre Aufgabe, für die staatliche Ordnung zu werben und wenn ja: in welcher Form kann sie das tun, ohne oppositionelle Ansichten, Ideen oder Bewegungen zu benachteiligen? Wie ist ihr Verhältnis zu den – in einer Demokratie nicht nur legitimen, sondern wünschenswerten – Unterschieden in der Bewertung und Beschreibung von Phänomenen, Entwicklungen oder Ereignissen? Wie kann, bei Offenheit gegenüber den verschiedensten Positionen, die grundsätzliche Bejahung von Demokratie und Menschenrechten sichergestellt werden? Oder, in unserem und vielleicht auch in Ihrem Fall: Wie können Institutionen Teil der Regierung sein, ohne einem politischen Programm der Regierungsparteien zu dienen?

Zu diesen Fragen möchte ich Ihnen in den kommenden 30 Minuten einige Überlegungen vorstellen. Hierbei werde ich zunächst die historischen Grundlagen politischer Bildung in Deutschland skizzieren und – darauf aufbauend – über aktuelle Herausforderungen berichten. Dabei wird sich zeigen, dass manche Herausforderungen gar nicht neu sind, sondern Teil eines fortlaufenden Prozesses.

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Das Spannungsfeld zwischen Neutralitätsansprüchen und der Vermittlung und Stärkung von Urteilsfähigkeit als politischer Grundkompetenz beschäftigt die politische Bildung in Deutschland seit ihren Anfängen.

Bereits die erste deutsche Demokratie – Weimarer Republik genannt – verfügte über eine staatliche Institution der politischen Bildung. Sie sollte die Menschen mit sachlichen Informationen über Politik versorgen. Die Prämisse der Überparteilichkeit begleitete diese Vorläuferorganisation unserer Bundeszentrale für politische Bildung von Beginn an. 1921 mahnte das damalige deutsche Parlament, politische Bildung solle „nicht im Geiste einzelner Parteien, sondern vom Standpunkte des Staatsganzen“ aus agieren. Das Problem damals: Größere Teile der Parteienlandschaft unterstützten die Demokratie als Staatsform gar nicht, einige forderten offen (und schließlich erfolgreich) ihre Abschaffung! Wie sollte Demokratieförderung und überparteiliche Bildungsarbeit unter diesen Umständen unter einen Hut passen? Letztlich kam weder die Weimarer Republik noch ihre staatliche politische Bildung hier zu einer befriedigenden Antwort – womit beide zum Scheitern verurteilt waren.

Diese Erfahrungen, die unmittelbare Vergangenheit des Nationalsozialismus und die zeitgenössische kommunistische Herausforderung sorgten nach 1945 dann für eine Neuausrichtung im westlichen Teil Nachkriegsdeutschlands. Im Zentrum der Arbeit politischer Bildung stand nun zunächst die normative Festigung der Demokratie.

Bei der 1952 noch unter einem Vorläufernamen gegründeten Bundeszentrale für politische Bildung handelt es sich um eine dem Ministerium nachgeordnete Behörde, die per Organisationserlass des Bundesinnenministers gegründet worden ist. Der Minister legt die grundsätzlichen Aufgaben per Erlass fest, über eine Fachaufsicht im Ministerium wird unsere Arbeit darauf kontrolliert, dass wir den dort fest gelegten Ansprüchen folgen.

Jener Anspruch war in den Anfangsjahren in erster Linie, als sog. „positiver Verfassungsschutz“ präventiv gegen die totalitären Gefahren zu wirken. Tatsächlich gelang es – auch durch den großen wirtschaftlichen Erfolg und den sozialen Aufstieg breiter Schichten ¬– zunächst im Westen Deutschlands eine stabile Republik zu errichten. Doch das gesellschaftliche Klima war miefig, bald forderte eine neue Generation mehr Demokratie, mehr Emanzipation, mehr kritische Debatten. Die Politik reagierte darauf und reformierte auch den Auftrag an politische Bildung. So erklärte die Bundesregierung 1968: „Die […] bislang praktizierte ‚harmonisierende‘ und ‚verklärende‘ Darstellung der Demokratie und die Überbetonung von Gemeinschaft, Verständigung und Partnerschaft führten leicht zu einer Verkennung des Wesens der Politik. Zukünftig müssten Begriffe wie Interesse, Konflikt und Macht stärker berücksichtigt werden, um ein realistischeres Bild der Demokratie zu zeichnen.“

In diesem Sinne soll auch der ein Jahr danach eingerichtete Wissenschaftliche Beirat der bpb ausdrücklich verschiedene Professionen und auch unterschiedliche Denkrichtungen vertreten. So gehören dem aktuellen Beirat unter anderem eine Politikwissenschaftlerin mit Schwerpunkt „Linke Militanz“ (Monika Oberle), ein Migrationsforscher und Psychologe (Haci-Halil Uslucan) oder mit Christoph Neuberger ein Fachmann für Kommunikationswissenschaften und Digitale Medien an. Geleitet wird das Gremium derzeit vom Bildungswissenschaftler Hermann Josef Abs. Um stetig offen für neues Denken zu sein, scheiden Beiratsmitglieder turnusmäßig nach zwei Amtszeiten aus. Wenn der Abschied eines Mitgliedes bevorsteht, berät der Beirat im Vorfeld bei einer Sitzung über die mögliche Nachfolge und tauschst sich auch über deren Profil aus. Die einzelnen Fachdisziplinen sollen hier in der Regel beibehalten werden und zudem Geschlechterparität herrschen.

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Wie aber soll kontroverse Bildungsarbeit in der Praxis konkret funktionieren? Wie kann in Zeiten politischer Polarisierung deren indoktrinierende Instrumentalisierung verhindert werden? Diese heute wieder aktuellen Fragen beschäftigten unsere Profession in den 1970er Jahren bereits einmal besonders intensiv.

Die westdeutsche Gesellschaft der Zeit war geprägt von emotionalen und zum Teil scharfen Debatten über Fragen der Außenpolitik, der Innen- und Rechtspolitik – und nicht zuletzt auch über Bildungspolitik. Zwei großen Lager standen sich gegenüber: In der Tradition der Studentenbewegung von 1968 und einer (kapitalismus-)kritischen Denkrichtung entwickelte sich ein Konzept von Bildung als emanzipatorischer Akt. Politikdidaktik dieser Richtung trat jeglicher Herrschaft grundsätzlich kritisch gegenüber und forderte ein stetiges In-Frage-Stellen auch der gegenwärtigen Ordnung. Auf der anderen Seite sah ein liberalkonservatives Spektrum die in der Bundesrepublik realisierte Demokratie als weitgehend gelungen an. Aufgabe von (politischer) Bildung war aus dieser Perspektive eher die Verteidigung des erreichten status quo und der Werte des Grundgesetzes. Emanzipatorische vs affirmative Bildung lautete die Schlachtordnung, die sich auch im Parteiensystem der Republik und ihrer föderalen Tektonik institutionalisierte: Sozialdemokratisch geführte Bundesregierung und Länder gegen von den Oppositionsparteien CDU/CSU regierte Gliedstaaten. 1973 fasste ein überforderter Moderator eine hochrangig besetzte bildungspolitische Diskussionsveranstaltung im Bundesland Hessen – ein Hauptschauplatz der gesamten Auseinandersetzung – mit den Worten zusammen: „[W]ir können genauso gut mit Knüppeln aufeinander losgehen“.

Einer Gruppe um Siegfried Schiele, dem Leiter der Landeszentrale eines weiteren Bundeslandes – Baden-Württemberg – behagte dieser Zustand nicht. Statt zum Knüppel griff Schiele zum Telefonhörer. Es gelang ihm die Protagonisten des Konfliktes 1976 zu einer bundesweiten Tagung nach Beutelsbach (einem Ort in der Nähe von Stuttgart) zu versammeln. Hier einigte man sich auf einen modus vivendi von Bildungsstandards, der bis heute Leitlinie politischer Bildung in Deutschland ist, aber auch Missverständnissen unterliegt: Der sogenannte Beutelsbacher Konsens war geboren. Die Bezeichnung „Konsens“ ist missverständlich, denn es geht den Beutelsbacher Prinzipien ausdrücklich nicht darum, Lernenden einen inhaltlichen Konsens vorzuschreiben. Anders als vielfach behauptet macht „Beutelsbach“ auch keinerlei inhaltliche Vorgaben für die politische Bildung. Vielmehr sind hier drei methodische Prinzipien festgehalten:

1. Das Überwältigungsverbot, nach dem Lehrende der Schülerschaft ihre politische Meinung nicht aufnötigen dürfen. 2. Das Kontroversitätsgebot: Lehrende müssen ein in Wissenschaft und/oder Politik kontroverses Thema auch im Unterricht kontrovers darstellen und diskutieren lassen. 3. Die Schülerorientierung: Lehrende sollen Lernende in die Lage versetzen, politische Interessenlagen zu erkennen und ihre Interessen zu vertreten.

Analog zum Beutelsbacher Konsens strebt auch die Bundeszentrale keine „Neutralität“ an. Unser Ziel ist vielmehr „politische Ausgewogenheit“. Zu Zeiten des früheren Dreiparteiensystems hatten wir daher drei gleichberechtigte Direktoren aus den seinerzeit drei relevanten Parteien. Heutzutage soll die sehr viel heterogene Parteienlandschaft vor allem auch über das die bpb seit den Anfängen begleitende Kuratorium eingebunden werden.

Seit 1987 entsenden die Bundestagsfraktionen direkt ihre jeweiligen Vertreterinnen und Vertreter analog zu ihrer Fraktionsstärke in das Kuratorium. Somit spiegeln sich in dem heute 22 Personen umfassenden Gremium die Mehrheitsverhältnisse des Deutschen Bundestages wieder. Entsprechend hat die stärkste Fraktion den Kuratoriumsvorsitz inne, und auch kleinere Oppositionsparteien mit zum Teil sehr kritischer Haltung zum politischen Mainstream haben eine Stimme im Kuratorium, wenn sie mindestens fünf Prozent der Wählerschaft auf sich vereinigen und dadurch in das Parlament einziehen konnten. Das Kuratorium kontrolliert die Arbeit der Bundeszentrale auf Wirksamkeit und auf die schon angesprochene politische Ausgewogenheit.

Doch nicht nur durch externe Instanzen wie dem Wissenschaftlichen Beirat und dem Kuratorium soll politische Bildung im Sinne der Ausgewogenheit gewährleistet werden. Mit den drei methodischen Prinzipien des Beutelsbacher Konsens geht ein Verständnis politischer Bildung einher, das von geistiger Offenheit geprägt ist. Auf diesen offenen Charakter und die damit verbundenen Chancen wie auch Risiken möchte ich im Folgenden gerne näher eingehen.

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In diesem Jahr können wir den 45sten Geburtstag des Beutelsbacher Konsens feiern, nächstes Jahr den 70sten Geburtstag der bpb. Die Grundprinzipien politischer Bildung in Deutschland zeigen sich durch die Jahrzehnte und über viele politikdidaktische Debatten hinweg erstaunlich konstant. Doch in den letzten Jahren ist unsere Profession wie die liberale Demokratie insgesamt aus verschiedenen Gründen unter Druck geraten.

Eine wichtige Rolle spielt hierbei der mediale Wandel in Zusammenspiel mit einem erstarkenden Populismus. Das Beutelsbacher Überwältigungsverbot kann sich diesen Trends gegenüber nicht mehr in der (weiterhin richtigen) Vermeidung eigener Überwältigung erschöpfen. Angesichts von außen betriebener Indoktrinierungsversuche kommt politischer Bildung vermehrt auch die Aufgabe zu, externe Überwältigung durch Dritte abzuwehren. Bei der Interessenorientierung erscheint mir besonders wichtig, immer wieder auf die hinter populistischen Agenden stehenden (auch materiellen) Interessen zu verweisen.

Unter besonderen Druck ist aber sicherlich das Kontroversitätsgebot geraten. Das beginnt schon mit der Ursprungsformulierung des Beutelsbacher Konsens‘, es solle das kontrovers dargestellt werden, was „auch in der Wissenschaft oder Politik kontrovers erscheint“. In Zeiten, in denen ganze politische Bewegungen auf Wissenschaftsfeindlichkeit aufbauen, kommt es häufiger zu politischen Kontroversen, ohne wissenschaftliche Grundlage. Soll politische Bildung nun etwa die Leugnung von Klimawandel oder Coronavirus als eine legitime politische Position in einer Kontroverse darstellen?

In Europa verfolgen rechtsradikale Kräfte seit einigen Jahren eine neue Strategie, die sie Metapolitik nennen. Statt dem offenen Kampf gegen das System, oft bereits optisch demonstrativ vom Mainstream abgegrenzt, versuchen sie eher im breiten gesellschaftlichen Diskurs intellektuell Fuß zu fassen und sukzessive kulturelle Hegemonie zu erringen. Dadurch sind auch Bildungseinrichtungen und Schulunterricht in Deutschland (erneut) in den Fokus politischer Agenden geraten. Diese Neue Rechte setzt auch staatliche politische Bildung unter Druck und fordert etwa von Lehrkräften im Unterricht „Neutralität“. Wie uns aus der Praxis berichtet wird, stößt diese – wie ich gleich noch zeigen werde – unberechtigte Forderung zum Teil auf Resonanz. So berichtete die Politikdidaktikerin Anja Besand von der TU Dresden bereits vor einigen Jahren, dass Lehrerinnen und Lehrer im Umgang mit einer in dieser Stadt starken rechtspopulistischen Bewegung von einer aus dem Beutelsbacher Konsens resultierenden „Notwendigkeit, sich in der Sache neutral zu verhalten“ ausgingen. In der Folge können sich unter dem Etikett der Neutralität verfassungswidrige und menschenverachtende Inhalte gleichberechtigt neben „andere politische Meinungen“ stellen – und sich lauthals beschweren, wenn ihnen etwa durch kritische Kommentierung durch Lehrkräfte ein vermeintlicher Neutralitätsbruch „angetan“ wird. Was ein derartiges Verständnis von politischer Ausgewogenheit in der Konsequenz bedeuten würde, hat der Sozialwissenschaftler Frank Nonnenmacher pointiert formuliert: „Meinungen konkurrieren dann liberal wie Waren und überzeugen je nach Performanz und Verpackung“.

Normative Grundsätze liberaler Demokratien – wie Menschenwürde, Meinungsfreiheit und eine freiheitlich-demokratische Grundordnung – müssen zwar erklärt und begründet, der Diskurs offen gestaltet werden. Trotzdem sind sie auch nach den Beutelsbacher Prinzipien unverhandelbar, ja demokratische politische Bildung basiert geradezu auf diesen Werten.

Ein Kontroversitätsgebot etwa bedarf der Abwehr politischer Ideologien, deren Wesen gerade die Unterdrückung abweichender Meinungen ist. Die „Beutelsbacher“ Interessenorientierung widerspricht der Negierung von Interessen durch deren konstruierte Auflösung in vermeintlicher Gruppenhomogenität.

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In diesem Sinne wollen wir den skizzierten Öffnungsprozess unserer Profession im Laufe ihrer Historie – hin zu den Menschen und ihren jeweiligen Interessen und Ausgangspunkten – auch unter Druck nicht aufgeben. Der steigenden Aggressivität und Polarisierung, der scheinbaren Verengung der Debatten und Standpunkte setzen wir die geistige Offenheit politischer Bildung entgegen. Aus einem offenen Verständnis von politischer Bildung, in deren Fokus die Subjektorientierung und das Überwältigungsverbot stehen, ergibt sich das Ziel, Menschen dazu zu befähigen, sich ein eigenes Urteil zu bilden und das heißt: wie ihr Urteil ausfällt, obliegt den Menschen selbst.

Das Ziel mündiger Bürgerinnen und Bürger impliziert ein kritisches Hinterfragen und dieses Hinterfragen sollten wir allumfänglich verstehen. Der Rechtswissenschaftler Christoph Möllers beschrieb es so: In der politischen Bildung müsse man sich anders als in der Juristerei darauf einlassen, in einem Diskurs zu begründen, warum etwa die Menschenwürde wichtig sei. Denn das Grundgesetz gebe dafür keine Begründung.

Der Beutelsbacher Konsens mahnt dazu, demokratische Werte in den Mittelpunkt von Bildungsprozessen zu stellen. Aber im Umgang mit den skizzierten normativen Grundlagen sollte politische Bildung nicht auf sakrosankte Objektivität setzen, denn der unhinterfragte Glaube an eine Norm, selbst im Falle der besten Norm, hat etwas Autoritäres. Für die Akzeptanz normativer Perspektiven reicht nicht allein der Verweis auf sie als solche, es braucht eine Herleitung und Begründung. Mit der Auseinandersetzung, welchen Gewinn z.B. freiheitlich-demokratische Grundordnungen Gesellschaften in ihrer Gesamtheit wie Individualität bringen, verbindet sich ein offener Prozess. Statt sich einer Wand der starren Voraussetzung gegenüberzusehen sollte sich den Menschen die Möglichkeit bieten, einen Blick hinter diese Wand zu werfen und sich schließlich selbst dazu zu positionieren.

Demokratien markieren unterschiedliche Sichtweisen und damit Dissens. Das bedeutet nicht, dass jede Kontroverse, die gesellschaftlich existiert, im bildnerischen Kontext reflektiert und gleichberechtigt behandelt werden muss. Die Kulturwissenschaftler Aleida und Jan Assmann formulieren es so: „Nicht jede Gegenstimme verdient Respekt. Sie verliert diesen Respekt, wenn sie darauf zielt, die Grundlagen für Meinungsvielfalt zu untergraben.“ Mit den jeweiligen Landesverfassungen und Schulgesetzen sind juristische Vorgaben gegeben, die deutlich machen, dass sich Lehrkräfte in der Schule nicht nur nicht neutral verhalten müssen, sondern das gegenüber bestimmten Äußerungen nicht einmal dürfen. Anja Besand sagt dazu: „Ihnen ist vielmehr die Aufgabe übertragen, junge Menschen für demokratische Werte zu sensibilisieren, für ein diskriminierungsfreies Miteinander einzutreten sowie verantwortungsvolle Wege zu finden, sich an die deutsche Geschichte zu erinnern und einen antitotalitären Grundkonsens zu vertreten.“

Gemeinsam mit dem Beutelsbacher Konsens gibt es also für Lehrkräfte klare Vorgaben, die sie keineswegs zur Neutralität verpflichten, sondern sie an Werte binden. Sie beziehen also Positionen im Sinne einer demokratischen Parteilichkeit. Allerdings müssen sie diese Positionen auch begründen. Wenn im Unterricht zum Beispiel eine Schülerin eine Ungleichheit zwischen Staatsbürgern mit und ohne Migrationshintergrund behauptet, liegt es in der Verantwortlichkeit der Lehrkraft, diese Äußerung nicht als eine beliebige Meinung im demokratischen Meinungsspektrum stehen zu lassen. Der rechtsstaatlich-demokratische Volksbegriff verlangt, dass es eine derartige völkische Unterscheidung nicht geben darf. Darauf muss die Lehrkraft hinweisen.

Zur Dekonstruktion von menschenverachtenden, rassistischen und anderweitig diskriminierenden Äußerungen, besonders im Sozialraum Schule, gehört es in einem ersten Schritt sich ihrer anzunehmen. Ein alleiniges Zurückweisen solcher Äußerungen wird sich als nicht ausreichend erweisen und entspricht auch nicht einem bildnerischen Verhältnis auf Augenhöhe. Auch wenn es auf den ersten Blick nicht den Anschein erwecken mag, aber Gegenargumente sind ein Zeugnis von Respekt und Gehörtwerden – zeugen sie doch davon, dass sich die Lehrkraft aktiv mit der Äußerung beschäftigt. Vor dem Hintergrund des asymmetrischen Machtverhältnisses zwischen Schülerinnen und Schülern und Lehrkräften ist es umso wichtiger, dass Bildungsprozesse als Anerkennungsprozesse verstanden werden.

Anerkennung bedeutet dabei weder Neutralität noch Akzeptanz menschenfeindlicher Äußerung, Anerkennung zeigt sich in der inhaltlichen Beschäftigung mit einer Äußerung und deren Entkräftung durch Gegenargumente – nicht durch Verbote und Tabus. Diese Dekonstruktion sollte im engen Austausch mit allen Beteiligten stattfinden. Auch hierin zeigt sich die Offenheit politischer Bildung, die darauf zielt, dass sich Menschen nicht führen lassen, sondern eigene gefasste Urteile entwickeln. Dies kann nur in der Auseinandersetzung geschehen. Ohnehin sollten bildnerische Prozesse grundsätzlich immer auch als konflikthaft verstanden werden.

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Das Austragen von Konflikten ist als eine essenzielle neue „epochaltypische“ Herausforderung gegenwärtiger Gesellschaften zu verstehen. Wie Andreas Eis, Frederik Metje und Claire Moulin-Doos betonen, droht Politische Bildung immer dann ein „Instrument der Hegemoniesicherung“ zu werden, wenn sie nicht Dissens und Kontroversität ermöglicht, sondern vermittelt, dass es unter aufgeklärten Bürgerinnen und Bürgern einen Konsens gäbe oder geben müsse. Gesellschaftlicher Zusammenhalt bedeutet keineswegs Konfliktlosigkeit. Vielmehr sollte man echte Stabilität darin sehen, dass Konflikte auf produktive Art und Weise bearbeitet werden.

Der belgischen Politologin Chantal Mouffe zufolge könne die völlige Auflösung eines Konflikts nie das Ziel sein, vielmehr gelte es, den Dissens zu wahren. Mouffe betont: „Konsens ist das Ende der Politik“. Es gehe nicht darum, Antagonismen zu überwinden, sondern darum, sie zu akzeptieren und zu zähmen, ohne die zugrundeliegenden Gegensätze aufzuheben. Vielmehr liege das Ziel demokratischer Politik darin, „Antagonismen in Agonismen zu verwandeln". Agonismen sind entschärfte Antagonismen – Konflikte, in denen sich die Akteure zwar weiterhin als Gegnerinnen und Gegner wahrnehmen, aber einander nicht das Recht absprechen, für ihre jeweiligen Positionen einzutreten.

Politische Bildung sollte dementsprechend nicht nur einen Zugang zu unterschiedlichen Perspektiven ermöglichen, sondern zu einer pluralistischen Konfliktkompetenz befähigen. Es sollte ein Umgang mit Konflikten eingeübt werden, der nicht versucht, Meinungsverschiedenheiten durch die Herstellung eines Konsenses einzugrenzen und letztendlich „glattzubügeln“.

Stattdessen sollte die Suche nach Konsensen auch „Konfliktzähmung und Kompromissbildung als Wege der Konfliktaustragung beinhalten“ (Manon Westphal).

Indem es nicht zwangsläufig darum geht bzw. gehen muss, Standpunkte zu überwinden, zeigt sich der offene Charakter politischer Bildung. Sie setzt bei den Menschen selbst und ihren jeweiligen Ausgangspunkten an. Ausgehend von diesen sollen Bildungsprozesse generiert und politisches Interesse geweckt werden, welche im Dienst der Menschenrechte und freiheitlich-demokratischen Grundordnung stehen. In eine Schieflage geraten wir erst dann, wenn nicht mehr die Menschen selbst Anfangs- und Endpunkt bildnerischer Prozesse sind, sondern die Profession der politischen Bildung selbst. Dies zeigt sich besonders an der bereits skizzierten Debatte um Neutralität.

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Weder Legitimation ist die Aufgabe politischer Bildung in der Demokratie noch eine Positionierung und Vereinnahmung im parteipolitischen Spannungsfeld.

Unser Auftrag als bpb ist es, „Verständnis für politische Sachverhalte zu fördern, das demokratische Bewusstsein zu festigen und die Bereitschaft zur politischen Mitarbeit zu stärken“. Um diesem Auftrag nachzukommen gehört es zu unseren Aufgaben, uns selbst kritisch zu reflektieren, neue Wege zu gehen und uns dabei immer wieder bewusst zu machen, mit welchem Verständnis und normativen Grundlagen politische Bildung wie arbeitet. Wenn wir das transparent und glaubwürdig tun, können wir Behauptungen wie die eingangs zitierten Pressezitate zurückweisen und zu einer ausgewogenen, nicht parteipolitisch ausgerichteten politischen Bildung beitragen.

- Es gilt das gesprochene Wort -

Fussnoten