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Gesellschaftliche Arbeitsteilung als Leistung der Person | Entgrenzung von Arbeit und Leben | bpb.de

Entgrenzung von Arbeit und Leben Editorial Gesellschaftliche Arbeitsteilung als Leistung der Person "Familie als Herstellungsleistung" in Zeiten der Entgrenzung Familienfreundliche Betriebe - Anspruch und Wirklichkeit Work-Life-Balance im Topmanagement Der Angriff auf Raum und Zeit

Gesellschaftliche Arbeitsteilung als Leistung der Person

Kerstin Jürgens G. Günter Voß Kerstin Jürgens / G. Günter Voß

/ 17 Minuten zu lesen

Das Verhältnis von "Arbeit und Leben" befindet sich im Umbruch. Die Menschen müssen nun Privatheit jeweils für sich definieren und gegenüber externen Ein- und Übergriffen abgrenzen.

Einleitung

Westdeutschland war in den vergangenen Jahrzehnten von einem sehr erfolgreichen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell ("Modell Deutschland") geprägt. Innovative Produkte, rentable Unternehmen, sozialpartnerschaftliche Arbeitsbeziehungen und ein florierender Massenkonsum, aber auch ein renommiertes Bildungs- und Ausbildungssystem sowie ein Sozial- und Wohlfahrtsstaat, der die Menschen in Krisensituationen zuverlässig absicherte, waren das Ergebnis. Der Wirtschaft brachte dies erhebliche Produktivitätssteigerungen und Gewinnmargen, für die Mehrheit der Berufstätigen ergaben sich nachhaltige Verbesserungen der Arbeitsbedingungen und Konsummöglichkeiten sowie kollektive Zeitmuster ("Feierabend", "Wochenende"), die Raum für ausreichend Regeneration und ein vielfältiges Freizeit- und Sozialleben boten.



So erfolgreich dieses Modell anmutet, stets waren auch vielfältige soziale Asymmetrien mit ihm verbunden wie etwa eine Dominanz der Arbeitszeit über die Freizeit und der Erwerbstätigkeit über unbezahlte Eigenarbeit, Haus- und Familienarbeit sowie andere Tätigkeiten. Damit einher gingen folgenreiche soziale Ungleichheitslagen, die sich aus dem Grad und der Qualität der Einbindung der Menschen in die jeweiligen Lebens- und Arbeitsbereiche ergaben.


Gegenwärtig mehren sich die Anzeichen dafür, dass die Differenzierung der beiden Sozialsphären "Arbeit" und "Leben", welche die "fordistische" Arbeits- und Lebensweise in unserer Gesellschaft über Jahrzehnte hinweg prägte, an Einfluss auf individuelles Handeln einbüßt. Wir wollen im Folgenden zunächst skizzieren, wodurch das Verhältnis der Bereiche "Arbeit" und "Leben" in der Phase des Fordismus gekennzeichnet war, um anschließend auf aktuelle Grenzverschiebungen hinzuweisen. Zwar lösen sich die Unterschiede zwischen Erwerbsarbeit und Privatleben nicht auf, aber die strikte Trennung und hohe kollektive Regulierung von "Arbeit und Leben" gerät unter Druck. Ungleichheiten bestehen dabei nicht nur fort, sondern es kommt auch zu neuen Polarisierungen, weil Menschen unterschiedliche Ressourcen zur Verfügung stehen, um die sich ändernden Anforderungen zu bewältigen.

Die Trennung von "Arbeit und Leben" im Fordismus

War die vorindustrielle Zeit durch eine für die meisten Menschen weitgehende Vermischung verschiedener Aktivitäten gekennzeichnet, so bildete sich mit der Durchsetzung des Industriekapitalismus eine folgenreiche strukturelle Separierung von Tätigkeitsformen in der Gesellschaft heraus: Große Teile der Arbeit verlagerten sich von der gemeinsamen Produktions- und Reproduktionsstätte des "ganzen Hauses" in separierte Orte wie Manufakturen, Fabriken und Büros. Dort wurden unter organisatorisch-technischer Steuerung spezialisierte Tätigkeiten verrichtet, die einen Gelderwerb ermöglichten. Dieser entwickelte sich zur Grundlage der Existenzsicherung, wodurch die Erwerbsarbeit eine Sonderstellung gegenüber allen anderen Tätigkeitsformen erhielt.

Diese Differenzierung und Hierarchisierung entwickelte sich im 20. Jahrhundert weiter. Das für diese Zeit typische fordistische Modell der Gesellschaft war von einer sozial- und arbeitspolitisch regulierten Arbeitsteilung zwischen zwei Sphären geprägt - der "Arbeit" (Erwerbsarbeit) und dem "Leben" (alle anderen Tätigkeiten). Die mit der Industrialisierung breitflächig durchgesetzte und in der Nachkriegszeit staatlicherseits stabilisierte Trennung von "Arbeit und Leben" prägt den Alltag der meisten Menschen bis heute tiefgreifend: In der Sphäre der erwerbsbezogenen und formell geregelten "Arbeit" ("Produktion") stellen abhängig Beschäftigte in hierarchischen Organisationen vermarktbare Güter und Dienstleistungen her und sichern über bezahlte Erwerbsarbeit ihre Existenz. In der Sphäre des privaten und eher informellen "Lebens" ("Reproduktion") erholen sie sich von den Beanspruchungen; sie "re-produzieren" ihre Arbeitskraft, indem sie Kinder großziehen, Alte und Kranke versorgen und ihre von erwerbsbezogenen Verpflichtungen "freie" Zeit zum Beispiel für soziale Kontakte, individuelle Bedürfnisse oder ehrenamtliches Engagement nutzen.

Diese sachliche und räumliche Trennung von Tätigkeiten in der Gesellschaft führte - zusammen mit der Institutionalisierung von kollektiven, auf Arbeit bezogenen zeitlichen Mustern - nicht nur zu einer spezifischen Strukturierung der Lebensführung der betroffenen Erwerbstätigen, sondern strahlte auch auf die Ordnung der Gesellschaft insgesamt aus. Der private Haushalt und die dort verrichteten vielfältigen Arbeiten blieben zwar hochgradig funktional für die biologische und soziale Reproduktion des Arbeitsvermögens der Erwerbstätigen. Sie wurden jedoch als "privat" deklariert und waren abhängig von einem in der Erwerbsarbeit erzielten Einkommen. Während es in anderen Staaten (etwa der DDR) eine Verstaatlichung von Teilen der Familienarbeit (Kinderkrippen und -horte) gab, blieb diese in der Bundesrepublik Deutschland weitgehend im Privathaushalt angesiedelt: Haus- und Familienarbeit wurden hauptverantwortlich von Frauen geleistet, die über den Familienlohn und die Sozialversicherung des Mannes zwar abgesichert, aber dadurch auch vom ihm abhängig waren.

Das westdeutsche Muster einer strikten Trennung von "Arbeit und Leben" ging auf diese Weise mit der ungleichen Aufteilung von gesellschaftlichen Aufgaben einher; es schrieb fundamentale Ungleichheiten der Geschlechter fest: Männer wurden zum "Ernährer" und Haushaltsvorstand deklariert, Frauen auf ihre Aufgaben als Hausfrauen und Mütter mit begrenzter staatlicher Unterstützung reduziert. Frauenbewegung und Bildungsexpansion lieferten zwar Impulse für eine steigende Erwerbsorientierung von Frauen, aber es blieb - im Vergleich zu anderen Ländern - bis heute bei einer "Teilzeit- Integration" in den Arbeitsmarkt. In der Folge ist der deutsche Arbeitsmarkt bis heute geschlechtlich segregiert: Frauen arbeiten vorwiegend in Branchen und befinden sich in Positionen mit schlechten Einkommens- und Aufstiegschancen und entsprechenden Nachteilen für die Alterssicherung. Das "Normalarbeitsverhältnis", das existenzsichernde Entlohnung und sozialversicherungsrechtliche Absicherung ermöglicht, war und ist ein auf die "männliche", erwerbsfixierte Lebensweise ausgerichtetes Beschäftigungsverhältnis.

Die Auswirkungen der Trennung der beiden sozialen Sphären betrafen jedoch nicht nur das Thema der "Vereinbarkeit" bei Frauen. Die beschriebene Arbeitsteilung beeinflusste das Handeln und die Orientierungen aller Menschen in nahezu jedem Bereich der Gesellschaft. Dies lässt sich an den Dimensionen Zeit und Raum veranschaulichen.

Im Zuge der Industrialisierung bildete sich eine in Tarifverträgen und Gesetzen geregelte Struktur von Arbeitszeiten heraus, die auch auf andere Sphären ausstrahlte. Zwar gab es immer Berufsgruppen, deren Arbeitszeit in Lage und Dauer von den Standards abwich, aber dies waren Ausnahmen. Der Arbeitszeit stand prinzipiell eine eigenständige und faktisch ebenfalls regulierte Sphäre der so genannten Freizeit gegenüber. Dies war zwar keine von (etwa sozialen) Verpflichtungen "freie" Zeitsphäre, aber doch ein Bereich, der sowohl die Erholung von der Erwerbsarbeit sicherte als auch Möglichkeiten des Konsums und der gesellschaftlichen Integration über nicht erwerbsförmige Aktivitäten gewährleistete. Durch die Regulierung der Arbeitszeiten hatten sich auch hinsichtlich der Lebensläufe standardisierte Muster etabliert: Für Frauen mit Kindern war die wiederholte Unterbrechung des Erwerbsverlaufs typisch, für Männer die erwerbslebenslange Vollzeitbeschäftigung bis zum "Ruhestand". Große Teile vor allem der männlichen Bevölkerung konnten nach einer Ausbildung direkt in eine Vollerwerbstätigkeit im erlernten Beruf übertreten und meist über lange Zeiträume beim gleichen Arbeitgeber bleiben. Charakteristisch war eine hohe Bindung nicht nur an Betriebe, sondern auch an den erlernten Beruf mit vergleichsweise verlässlicher "Karriere".

Auch in räumlicher Hinsicht dominierte das Prinzip der Trennung: Es gab einerseits Orte, an denen erwerbsbezogen in betrieblichem Rahmen gearbeitet wurde und andererseits vielfältige Räume, die anderen, nicht explizit zweckrationalen Tätigkeiten dienten. Auf der persönlichen Ebene fand dies in der Trennung eines konkreten Raums der Berufstätigkeit von einem engeren privaten Raum seinen Niederschlag, der fast nur noch der individuellen Rekreation, dem Konsum, den familialen Sozialbeziehungen und der Intimität diente. Auf raumstruktureller Ebene spiegelte sich dies wider in einer Trennung der speziell für Erwerbsarbeit ausgewiesenen Areale von Wohn- und Freizeitquartieren sowie Bereichen, die speziell dem Erwerb von Konsumgütern oder kommerzieller Vergnügung dienten ("Einkaufszonen", "Shopping-Malls", "Freizeitparks").

Über die Dimensionen Zeit und Raum waren im Fordismus Grenzen zwischen den Sphären identifizierbar, die sich - aus heutiger Sicht - auch als rigide Beschränkungen des in den jeweiligen Bereichen Möglichen und ihres Austauschs interpretieren lassen: limitierende, zugleich aber genau dadurch auch ermöglichende und schützende Strukturen. Diese boten einen verlässlichen und somit entlastenden Rahmen für berufliches wie privates Handeln und hierauf bezogene alltägliche und biographische Entscheidungen.

Dieses Grundmuster der Verteilung von Tätigkeiten der Menschen auf zwei verschiedenartige und getrennte soziale Sphären erreichte einen solchen Grad kultureller "Normalität", dass es als quasi "natürlich" erschien oder immer noch erscheint. Es umfasste jedoch eine historisch vergleichsweise "kurze" Zeitspanne und existierte in anderen Ländern nicht in dieser Form. So markant und irreversibel diese Form gesellschaftlicher Arbeitsteilung sich bei uns bisher auch darstellte - es zeichnet sich ein grundlegender Wandel dieses gewohnten Verhältnisses von "Arbeit und Leben" ab.

"Arbeit" und "Leben" im Post-Fordismus

Die fordistische Trennung von "Arbeit und Leben" gerät seit einigen Jahren durch Strukturwandlungen nicht nur in der Arbeitwelt, sondern durch Veränderungen in beiden sozialen Bereichen unter Druck.

In der Erwerbssphäre lassen sich bereits seit Ende der 1980er Jahre neue Formen der Arbeits- und Betriebsorganisation erkennen, die auf eine Abkehr von bisher vorherrschenden fordistisch-tayloristischen Prinzipien einer strikten Aufteilung und Fremdkontrolle von Arbeitsvorgängen und Betriebsabläufen hinweisen. Im Zuge der sprunghaft gestiegenen internationalen Konkurrenz in der Wirtschaft und einer daraus folgenden zunehmenden Marktorientierung von Unternehmen bis hinein in die unternehmensinternen Beziehungen ("Vermarktlichung") verlieren nicht nur nationalstaatliche Grenzen an Bedeutung, sondern es fallen auch Grenzen innerhalb nationaler Ökonomien, Grenzen zwischen Betrieb und Markt sowie Grenzen innerhalb der betrieblichen Arbeitsorganisation. Diese "Entgrenzung von Arbeit" umfasst ein Nebeneinander von Neuem und Altem, das heißt ein Fortwirken bisheriger Organisationsprinzipien bei gleichzeitiger Herausbildung verstärkt flexibler Formen der Arbeitsorganisation.

Zentrales Kennzeichen neuer Arbeitsformen ist eine verstärkte Selbstkontrolle der Beschäftigten. Nicht mehr allein Vorgesetzte, sondern zunehmend auch die Arbeitenden selbst steuern die jeweiligen Arbeitsprozesse: Sie prüfen Arbeitsinhalte, planen Arbeitszeit, definieren den Arbeitsort oder entscheiden über notwendige Kooperationen. In Zielvereinbarungen werden lediglich zu erreichende Leistungen definiert - der hierfür erforderliche Arbeitsprozess muss eigenverantwortlich strukturiert werden. Damit scheinen sich alte Forderungen zur Humanisierung des Arbeitslebens einzulösen - zumindest auf den ersten Blick. Die neue Autonomie hat jedoch Grenzen und geht mit neuen Belastungen einher: Die Anforderungen werden komplexer, die Leistungspensen steigen und die Mitbestimmung über betriebliche Arbeitsabläufe bleibt meist eingeschränkt. Störungen innerhalb der Arbeitsprozesse, strukturelle Hindernisse oder unzureichende Qualifikationen sind dadurch nur noch bedingt Probleme des Betriebs. Verantwortlich sind nun die einzelnen Beschäftigten, die zur Lösung anstehender Probleme nicht nur ihre fachliche Qualifikation individuell weiterentwickeln sollen, sondern ihr gesamtes persönliches Potenzial einsetzen müssen ("Subjektivierung von Arbeit"). Als besonders problematisch erweist sich in diesem Zusammenhang, dass sich die Beschäftigten dabei mehr als bisher mit den Unternehmenszielen identifizieren und die Marktlogik verinnerlichen müssen. Den Interessenkonflikt, in dem sie stehen, erkennen sie nur noch diffus; Erfahrungen des Scheiterns schreiben sie allein sich selbst zu.

Gleichzeitig zeichnen sich in der Privatsphäre Veränderungen ab, die das Verhältnis der Bereiche Arbeit und Leben neu konturieren. Vor allem die Lebensentwürfe und Einstellungen von Frauen zu Elternschaft und Erwerbstätigkeit haben sich grundlegend gewandelt. Eine in den Nachkriegsjahrzehnten herrschende Familienorientierung wird abgelöst von einem Nebeneinander von Beruf und Familie; statt eines Phasenmodells dominiert Gleichzeitigkeit: Familienbedingte Ausstiege aus dem Erwerbsleben werden kürzer. Aufgrund mangelnder Infrastruktur in der Kinderbetreuung hat dies nicht nur erhebliche Doppelbelastungen erwerbstätiger Mütter zur Folge; es führt auch dazu, dass bisherige Muster der Arbeitsteilung in der Familie in Frage gestellt werden. Frauen leisten nach wie vor das Gros der privaten Sorgearbeit, doch geraten Männer zunehmend unter Druck, sich stärker zu beteiligen. Eine aktivere Vaterrolle ist jedoch nicht nur dem Anpassungsdruck an eine gesteigerte Erwerbseinbindung von Frauen geschuldet, sondern entspricht - zumindest für eine kleine Gruppe - auch veränderten männlichen Lebensentwürfen, die sich als beginnende Abkehr von der Ernährerrolle deuten lassen. Zudem haben sich die Erwartungen an Familienleben generell verändert: Die Entscheidung zur Elternschaft ist an Motive der Selbstverwirklichung gekoppelt, Partnerschaftsentwürfe zielen auf romantische Liebesideale - und gleichzeitig soll genügend Raum für "eigenes Leben" bleiben.

Veränderungen zeigen sich zudem in den Lebensläufen: Die Ausbildungszeiten verlängern sich und die Berufseinstiege werden "prekärer"; gleichzeitig verlagern sich Eheschließung und Familiengründung auf einen späteren Zeitpunkt. Dies kann dazu führen, dass Familiengründung und berufliche Etablierungsphase zeitlich zusammenfallen - oder aber der Zeitpunkt für Partnersuche und Familiengründung "verpasst" wird und in ungewollter Kinderlosigkeit mündet.

Auf die vielfältigen Veränderungen in privaten Lebensformen kann hier nicht näher eingegangen werden. Boomende Ratgeberliteratur zu "Beziehungsarbeit", höhere Erwartungen an Eltern aufgrund des "PISA-Schocks" oder die veränderten Wohn- und Sozialumwelten von Familien verweisen auf neue Anforderungen auch im privaten Bereich.

Neben diesen Veränderungen in den jeweiligen Lebensbereichen ist ein Wandel auch im Verhältnis von "Arbeit und Leben" festzustellen. Wurde in der fordistischen Phase auf die strikte Trennung von Produktion und Reproduktion gesetzt, lassen sich heute neuartige Vermischungen identifizieren, wie exemplarisch noch einmal an den Dimensionen Zeit und Raum gezeigt werden kann:

Seit den 1980er Jahren zeichnet sich eine weitreichende Flexibilisierung der Arbeitszeit ab. Inzwischen sind mehr als die Hälfte der abhängig Beschäftigten in Deutschland nicht mehr im Rahmen des so genannten "Normalarbeitstages" tätig, sondern müssen atypische Arbeitszeiten, etwa in Schicht-, Wochenend- oder Nachtarbeit, akzeptieren. Doch nicht nur Lage und Dauer der Arbeitszeit werden zunehmend flexibler, sondern auch deren Verteilung: So führen etwa Arbeitszeitkonten dazu, dass Beschäftigte phasenweise sehr lange Arbeitszeiten hinnehmen müssen und dafür erst später (wenn überhaupt) einen Zeit- oder Geldausgleich erhalten. Acht Prozent der Beschäftigten hatten bereits 2003 keine Zeiterfassung mehr, sondern arbeiteten in der so genannten "Vertrauensarbeitszeit", das heißt, sie regelten ihre Arbeitszeit individuell. Diesen und ähnlichen "neuen" Modellen ist gemeinsam, dass sie potenziell eine erweiterte Zeitsouveränität und partielle Befreiung von den Nöten alltäglicher Synchronisation ermöglichen. Gleichwohl belegen Forschungsergebnisse, dass die Flexiblisierung überwiegend nach betrieblichen Belangen erfolgt. Die Berücksichtigung privater Zeitbedarfe findet sich meist nur dort, wo Betriebs- und Personalräte Obergrenzen der Arbeitszeit und Fristen zur Entnahme von Zeitguthaben regulieren konnten.

In zeitlicher Hinsicht ergeben sich also vielfältige Anforderungen an die Betroffenen: In der Erwerbssphäre müssen Arbeitstempo, Pausen und das Zeit-Leistungs-Verhältnis individuell austariert werden; im Privatbereich kommt es zu Synchronisationsproblemen bei der Abstimmung von Sozial- und Familienzeiten. Sind die Arbeitszeiten einseitig an den Anforderungen des Marktes ausgerichtet und daher individuell kaum planbar, zieht dies private Konflikte nach sich. "Fremdbestimmte" Flexibilisierung erweist sich insofern oft als weitere Belastungsquelle im Konfliktfeld "Arbeit-Leben".

Darüber hinaus setzt die nach wie vor angespannte Arbeitsmarktlage Berufstätige zunehmend unter Druck, auf Freizeit zu verzichten. Viele leisten freiwillig (unbezahlte) Mehrarbeit, bilden sich in ihrer Freizeit (auf eigene Kosten) weiter, nehmen lange Pendelzeiten oder Wochenendbeziehungen in Kauf. Nicht nur zeitlich, sondern auch räumlich ergeben sich damit erhebliche Anpassungserfordernisse, die das Verhältnis von "Arbeit und Leben" verändern. Hinzu kommen Vermischungen der beiden Sphären, die durch neue Informations- und Kommunikationstechnologien forciert werden - etwa flexible Erwerbstätigkeit an unterschiedlichen Orten ("Mobilarbeit") oder am heimischen PC ("Teleheimarbeit").

"Arbeit und Leben" als Leistung der Person

Während die Auslagerung privater Belange aus der Erwerbssphäre über Jahrzehnte hinweg als zentrales Instrument der Effizienzsteigerung im Betrieb galt, wird diese Trennung nun tendenziell wieder aufgehoben. Die Sphäre der "Reproduktion" als ein zeitlich und räumlich von der Sphäre der Arbeit getrennter Bereich, der den Menschen einen annähernd verlässlichen Rückzugsraum gegenüber den Anforderungen der Erwerbssphäre bot, droht in diesem Prozess seine bisherige Schutzfunktion zu verlieren. Die diagnostizierte "Entgrenzung von Arbeit und Leben" bringt daher keineswegs nur neue Chancen für die Gestaltung eines "offeneren" eigenen Lebens mit sich, sondern sie geht mit der Öffnung einer Grenze einher, die bislang den Bereich des Privaten schützte. Entgegen manchen Verlautbarungen kommen Entgrenzungen meist einseitig der Erwerbssphäre und damit wirtschaftlichen Anforderungen zugute, während Vorteile für das private Leben oder die Familie eher spärlich ausfallen bzw. sich auf bestimmte privilegierte Gruppen reduzieren. Die bisherige Hierarchie der Lebensbereiche spiegelt sich somit auch in den nun anzutreffenden neuen Überschneidungen wider: Es handelt sich nicht um "neutrale" Vermischungen oder Wechselwirkungen, sondern es zeigt sich erneut (und sogar verstärkt) eine Dominanz wirtschaftlicher Anforderungen über die privaten Lebenserfordernisse und -zusammenhänge der Menschen. Die Veränderungen innerhalb der Erwerbssphäre strahlen massiv in den privaten Bereich aus und erfordern dort vielfältige Anpassungen. Die Unternehmen greifen in diesem Prozess in ganz neuer Qualität auch auf private Potenziale und persönliche Ressourcen der Beschäftigten zurück wie etwa auf die private Freizeit, den häuslichen Wohnraum, persönliche Netzwerke oder Unterstützungsleistungen von Partnern.

Die sich in der Gesellschaft mehr denn je durchsetzende Logik von Effizienzsteigerung und Ökonomisierung hält auf diese Weise auch in wachsendem Maße Einzug in die private Lebenssphäre. Zwar ist der Bereich der "Produktion" nach wie vor auf reproduktive Leistungen angewiesen, doch büßt das "Private" zusehends den Charakter einer eigenlogischen Sphäre ein, eines Handlungskontextes, der in vielfältiger Weise gegenüber den Erwerbsanforderungen abgegrenzt und durch den Wohlfahrtsstaat geschützt ist. Privatheit muss daher zunehmend durch die Person und in der Person selbst konstituiert und gegen "fremde" Einflüsse geschützt werden. Die gesellschaftliche Arbeitsteilung von "Arbeit und Leben" wird dadurch aber nicht aufgehoben und ermöglicht keineswegs (oder nur in seltenen Fällen) eine neue ganzheitliche und selbstbestimmte Lebensweise; sie wirkt im Gegenteil vielmehr auf paradoxe neue und verstärkte Weise strukturell als Handlungsbedingung fort: Sie öffnet sich für Ein- und Übergriffe des Ökonomischen ins Private, um in der Erwerbssphäre mehr Flexibilität zu ermöglichen, und verliert dabei ihre bisherige Schutzfunktion für das Private der Person. Die persönliche und gesellschaftliche Dominanz der erwerbsförmigen Arbeit über den "Rest des Lebens" wird also nicht verringert, sondern erweitert. Das Verhältnis und die Vermittlung von "Arbeit und Leben" sind in der Folge nicht mehr primär über eine stabile Differenzierung von deutlich von einander abgegrenzten Sphären der Gesellschaft wirksam, sondern sie wird zur komplexen Anforderung an individuelles Handeln, dessen Möglichkeiten aber nach wie vor begrenzt sind.

Die Erosion des Fordismus als Wirtschafts- und Politikmodell geht also mit der Erosion des fordistischen Modus der Vermittlung von "Arbeit und Leben" einher. Die bisher strukturell vorgegebene Form des Verhältnisses der Bereiche wird dabei zu einer unausweichbaren Leistung der einzelnen Person. Dazu nur einige Beispiele:

  • Entgrenzungen von "Arbeit und Leben" erfordern eine zunehmend systematische Organisation des gesamten alltäglichen Lebenszusammenhangs. Stehen weder für Erwerbsarbeit noch für die Vereinbarkeit von "Arbeit und Leben" orientierende Handlungsmuster und unterstützende institutionelle Rahmungen zur Verfügung, müssen Betroffene wesentlich stärker als bisher eigene Verfahren und Strukturen schaffen, die eine Bewältigung der komplexen Anforderungen aus beiden Bereichen (und deren Koordination) erlauben. Die alltägliche Lebensführung wird dadurch zu einer eigenen Form von Arbeit: zur "Arbeit des Alltags". Fähigkeiten zum effizienten (und zugleich flexiblen) Management des Alltags werden entsprechend zu einer Ressource der Person, ohne die Erwerbstätigkeit wie auch privates Leben kaum mehr zu bewältigen sind.

  • Ein wichtiges Handlungsfeld ist die zeitliche Organisation von Erwerbstätigkeit und Privatleben und deren Zusammenspiel. Die schon seit Jahren anhaltende Konjunktur von Zeitratgebern ist dafür ebenso Indiz wie der Siebte Familienbericht, der die Flexibilisierung von Arbeitszeit auch in ihren negativen Folgewirkungen für familiale Lebenszusammenhänge reflektiert. Die Deregulierung bisheriger kollektiver Arbeitszeiten erfordert nicht nur eine nun individuelle Gestaltung von Lage, Dauer, Verteilung und "Dichte" der Arbeitszeit, sondern eine umfassende Kompetenz des "Zeithandelns": In Alltag und Lebenslauf müssen Tätigkeiten in den Lebensbereichen und deren Vermittlung zeitlich so organisiert werden, dass trotz restriktiver struktureller Anforderungen Zeit für Für- und Selbstsorge bleibt - etwa für regenerative Bedürfnisse, soziale Einbindung oder ehrenamtliches Engagement.

  • Komplementär dazu erhöht sich die Notwendigkeit einer kompetenten räumlichen Organisation des Alltags. Die Anforderungen an die nahräumliche wie zunehmend aber auch an eine überregionale (und sogar globale) Beweglichkeit steigen massiv - nicht nur für "Global Players". In immer mehr Berufen werden die Bereitschaft und Fähigkeit zur Mobilität, eine regelrecht "mobile" Lebensform, zur Einstellungsvoraussetzung. Vereinbarkeit von "Arbeit und Leben" bedeutet daher nicht mehr nur die Vereinbarkeit von getrennten Orten für Erwerbstätigkeit und Privates, sondern die Auswahl und Gestaltung mehrerer Arbeits- und Lebensorte und die Bewältigung der aufwändigen Mobilität zwischen diesen. Noch hat sich eine solche "Raumkompetenz" nicht als ein neues Feld von Qualifikationen etabliert. Der Bedeutungsgewinn dieser Bereitschaft ist jedoch bereits heute mit Blick auf die Mobilitätsanforderungen in Stellenanzeigen oder die Verordnungen der Arbeitsagenturen absehbar.

  • Als Folge der Entgrenzung der Lebenssphären wird auch die soziale Gestaltung des Alltags aufwändiger. Soziale Beziehungen sind immer weniger dauerhaft und zuverlässig, sondern werden zu einer individuell zu regelnden Anforderung. Sind es im Erwerbsleben Personalfluktuation oder steigender Leistungs- und Konkurrenzdruck, die den Aufbau von Kontakten konterkarieren, erweisen sich im Privaten räumliche Mobilität und flexible Arbeitszeit als Hindernisse der Vergemeinschaftung. Soziale Einbindung ist insofern voraussetzungsvoll: Sie entsteht weniger zufällig (über einen gemeinsamen Lebensort oder kollektive Freizeiten), sondern muss durch die Person selbst aufwändig hergestellt werden. Zwar ist die Vermischung privater und beruflicher Kontakte für viele Menschen durchaus wünschenswert, doch handelt es sich hierbei nicht mehr ausschließlich um Entscheidungen nach persönlicher Sympathie: Zahlreiche Unternehmen fordern die Bereitschaft zu strategischem beruflichen "Networking" ein und bedienen sich sozialer Beziehungen und privater Unterstützungsleistungen als unbezahlt nutzbare Ressourcen der Person.

    Der Wandel der Erwerbsarbeit hat das "alte" Thema der Vereinbarkeit von Beruf und Familie überholt. Nach wie vor stellt sich Fürsorge, das heißt das Sorgen für Kinder, Kranke oder pflegebedürftige ältere Menschen als ein Problem dar, das in unserer Gesellschaft überwiegend individuell, in der privaten Sphäre zu lösen ist. Und es sind vor allem Frauen, die diese Arbeit leisten und die entsprechenden Belastungen sowie eine Schlechterstellung am Arbeitsmarkt in Kauf nehmen müssen. Soziale Ungleichheit generiert sich nach wie vor primär über die unterschiedliche Einbindung von Personen in die jeweiligen Arbeitsbereiche der Gesellschaft.

    Zugleich rücken jedoch neue Polarisierungen ins Blickfeld, die alle Erwerbstätigen betreffen. Der Wandel von Erwerbsarbeit setzt - in Verbindung mit einem Rückbau sozialer Sicherungssysteme und einem Einflussverlust kollektiver Interessenvertretung - neue individuelle Kompetenzen voraus: allgemeine "Lebens-" und "Selbst-Kompetenzen". Wird "Re-Produktion" weniger strukturell denn individuell abgesichert, müssen Menschen nun selbst Grenzen gegenüber Anforderungen aus der Sphäre der Produktion setzen. Nur so können sie den Erhalt ihrer einmaligen Ressource "Arbeits- und Lebenskraft" absichern: ihre physische und psychische Stabilität erhalten sowie ihre soziale Einbindung aktiv betreiben. Die "Fähigkeit zur Sorge um sich selbst" (Foucault) wird dadurch zu einer neuen Dimension sozialer Ungleichheit.

    Fazit



    Wechselwirkungen zwischen den Lebensbereichen trafen stets in der Person und ihrer Lebensführung aufeinander und waren immer individuell zu bewältigen; sie konnten jedoch im Rahmen strukturell fixierter Muster bearbeitet werden. Kollektive Freizeiten, der Raum des Privaten und Formen sozialer Einbindung, die sich nicht auf berufliche Kontakte reduzierten, boten Anknüpfungspunkte für die Durchsetzung und Verteidigung reproduktiver Interessen. Sowohl individuell als auch gesellschaftlich war diese Trennung - bei allen Restriktionen - hochgradig funktional.

    Die strukturelle Trennung von "Arbeit und Leben" wurde lange Zeit als eine für moderne Gesellschaften notwendige und irreversible Entwicklung angesehen. Auch im post-fordistischen Wandel bleibt sie als Strukturprinzip bestehen, doch wird die Gestaltung des Verhältnisses von "Arbeit und Leben" zusehends zur Leistung der Person. Privatheit als Raum und Zeit der je eigenen geschützten Existenz entsteht zukünftig nur, wenn die Person diese selbst herstellt und in der Lage ist, sie gegen Übergriffe zu schützen. "Arbeit und Leben" als eine aktive individuelle Strukturierung des Lebens ist insofern kein Ausdruck neuer Möglichkeiten zur Selbstentfaltung, sondern ein existenzielles Handeln, mit dem Menschen nicht nur ihre eigenen reproduktiven Ressourcen, sondern auch die Ressourcen von Gesellschaft insgesamt bewahren. Die Suche nach Lösungen dafür, wie gesellschaftliche Akteure diese Leistungen strukturell unterstützen können, ist eine zentrale politische Aufgabe der nächsten Jahre.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Sozialwissenschaftlich werden oft zwei historische Phasen der industriellen Gesellschaft unterschieden: eine nach Henry Ford benannte "fordistische" Phase in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die sich durch Massenproduktion und -konsum sowie starke staatliche Sozialsysteme auszeichnete; und eine "post-fordistische" Phase, in der gegenwärtig die bislang prägenden Strukturen von Arbeit, Sozialpolitik und Privatleben "dereguliert" und "flexibilisiert" werden (vgl. u.a. Joachim Hirsch/Roland Roth, Das neue Gesicht des Kapitalismus, Hamburg 1986).

  2. Die Unterschiede von Arbeitsbereichen in der Gesellschaft werden meist mit Begriffspaaren ausgedrückt: "Öffentlich-Privat", "Arbeitszeit-Freizeit", "Arbeit-Leben" oder auch "Familie-Beruf". Zu beachten ist, dass in beiden Lebensbereichen (aber in unterschiedlichen Formen) "gearbeitet" und "gelebt"wird. Um den ökonomischen Vermittlungszusammenhang der Bereiche zu betonen, beziehen wir uns vor allem auf die Unterscheidung "Produktion-Reproduktion".

  3. Zwar waren in der DDR Frauen stark in die Erwerbssphäre integriert und konnten sich auf eine gute Infrastruktur der öffentlichen Kinderbetreuung verlassen, aber auch hier war die verbleibende Haus- und Familienarbeit zu ihren Lasten verteilt.

  4. Vgl. exemplarisch Karin Gottschall/G. Günter Voß (Hrsg.), Entgrenzung von Arbeit und Leben, München-Mering 2005(2); Nick Kratzer, Arbeitskraft in Entgrenzung, Berlin 2003; G. Günter Voß, Die Entgrenzung von Arbeit und Arbeitskraft, in: Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, 31 (1989) 3, S.473 - 487.

  5. Vgl. als Überblick sowie zu empirischen Daten: Kerstin Jürgens, Die Ökonomisierung von Zeit im flexiblen Kapitalismus, in: WSI-Mitteilungen, (2007) 4, S. 167 - 173.

  6. Anmerkung der Redaktion: Siehe hierzu auch den Beitrag von Karlheinz A. Geißler in diesem Heft.

  7. Vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Familie zwischen Flexibilität und Verlässlichkeit, Siebter Familienbericht, Berlin 2006.

  8. Vgl. Karin Jurczyk/G. Günter Voß, Flexible Arbeitszeit - Entgrenzte Lebenszeit. Die Zeiten des Arbeitskraftunternehmers, in:Eckart Hildebrandt, Reflexive Lebensführung, Berlin 2000, S. 151 - 206.

  9. Vgl. Kerstin Jürgens, Arbeits- und Lebenskraft. Reproduktion als eigensinnige Grenzziehung, Wiesbaden 2006.

PD Dr. phil., geb. 1970; seit 2006 Vertretungsprofessorin für Soziologie an der Leibniz Universität Hannover, Institut für Soziologie und Sozialpsychologie, Schneiderberg 50, 30167 Hannover.
E-Mail: E-Mail Link: k.juergens@ish.uni-hannover.de
Internet: Externer Link: www.kerstin-juergens.de

Dr. rer. pol., geb. 1959; seit 1994 Professor für Industrie- und Techniksoziologie an der Technischen Universität Chemnitz, Institut für Soziologie, Reichenhainerstr. 41/III, 09126 Chemnitz.
E-Mail: E-Mail Link: guenter.voss@phil.tu-chemnitz.de
Internet: Externer Link: www.tu-chemnitz.de/