Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Deutschlands Regionen – wie es vor Ort aussieht | Demografischer Wandel | bpb.de

Demografischer Wandel Editorial Warum der demografische Wandel uns alle betrifft Der demografische Wandel in Deutschland Weltbevölkerung – stoppt der Anstieg bei 11 Milliarden? Diskurse über den demografischen Wandel Die Ursachen der Geburtenentwicklung Die Folgen des demografischen Wandels Deutschlands Regionen – wie es vor Ort aussieht Politische Strategien Glossar Quellen-, Literaturhinweise und Internetangebote Impressum
Informationen zur politischen Bildung Nr. 350/2022

Deutschlands Regionen – wie es vor Ort aussieht

Martin Bujard

/ 9 Minuten zu lesen

In Deutschland gibt es große regionale Unterschiede hinsichtlich Faktoren wie Geburtenrate, Bevölkerungswachstum und Zuwanderung. Ein Vergleich zwischen München, Gießen und der Uckermark verdeutlicht dies.

Wittenburg im mecklenburgischen Landkreis Ludwigslust-Parchim: eine Frau geht am 12. November 2020 an geschlossenen Ladengeschäften vorbei. (© dpa, dpa-Zentralbild | Jens Büttner)

Großstädte und ländliche Gebiete

Innerhalb von Deutschland existieren bezüglich demografischer Entwicklungen große regionale Unterschiede. Es gibt urbane Regionen mit einer hohen Bevölkerungsdichte und Wohnungsengpässen, beispielsweise in München oder dem Rhein-Main-Gebiet. Gleichzeitig gibt es Regionen mit einer geringen Bevölkerungsdichte, leerstehenden Häusern und wegbrechender öffentlicher Infrastruktur, beispielsweise in den ländlichen Regionen im Norden und Osten der Bundesrepublik.

(© Statistisches Bundesamt 2021, Genesis Online, eigene Darstellung)

Die höchste Bevölkerungsdichte haben die Millionenstädte Berlin, Hamburg, München und Köln sowie das Rhein-Main-Gebiet, die Metropolregionen Stuttgart und Düsseldorf sowie das Ruhrgebiet. Deutschland hat derzeit vier Millionenstädte und zehn weitere Großstädte mit einer Einwohnerzahl von über 500.000. In den vergangenen Jahren sind vor allem München, Frankfurt und Leipzig deutlich gewachsen.

Deutschland hat im Durchschnitt eine Bevölkerungsdichte von 233 Einwohnern pro Quadratkilometer, was höher ist als in den meisten europäischen Staaten. In kreisfreien Städten wohnen durchschnittlich zwischen 1.000 und 3.000 Menschen pro Quadratkilometer, die höchste Bevölkerungsdichte haben Frankfurt am Main mit 3.077, Berlin mit 4.112 und München mit 4.790 Menschen pro Quadratkilometer.

Eine geringe Bevölkerungsdichte findet sich vor allem in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Brandenburg, aber auch in Nordbayern, der Lüneburger Heide und der Eifel.

11 der 401 Kreise in Deutschland haben eine Bevölkerungsdichte unter 60. Mit Ausnahme des niedersächsischen Lüchow-Dannenberg liegen diese alle in den ostdeutschen Bundesländern: in den Kreisen Elbe-Elster, Ostprignitz-Ruppin, Prignitz und Uckermark in Brandenburg, Mecklenburgische Seenplatte, Vorpommern-Greifswald und Ludwigslust-Parchim in Mecklenburg-Vorpommern sowie im Altmarkkreis Salzwedel, Jerichower Land und Stendal in Sachsen-Anhalt. In den beiden Landkreisen Prignitz und Altmarkkreis Salzwedel ist die Bevölkerungsdichte mit jeweils 36 Einwohnern auf einem Quadratkilometer am geringsten.

Auch bei der individuellen Lebensführung gibt es daher große regionale Unterschiede. Die in eng besiedelten Großstädten lebenden Menschen können dort auf ein vielfältiges kulturelles Leben, auf viele unterschiedliche Arbeitsplätze und eine gut ausgebaute öffentliche Infrastruktur – bestehend aus Internet, (öffentlichem) Verkehrsnetz, Krankenhäusern oder Freizeitangeboten wie Sportstadien – zurückgreifen.

Bevölkerungsdichte in kreisfreien Städten und Landkreisen. Einwohner je km², 2020. Datenquelle: Statistisches Bundesamt, Berechnungen: BiB (© GeoBasis DE/BKG 2020)

Allerdings bedeutet ein Leben in urbanen Großstädten häufig auch ein Leben mit Lärm, Verkehrsüberlastung und hohen Kosten für Mieten oder Immobilien. Daher ist die Politik dazu angehalten, in urbanen Zentren Naherholungsgebiete und günstigen Wohnraum zu schaffen. Umgekehrt steht die Politik in ländlichen Gebieten vor der Herausforderung, die öffentliche Daseinsvorsorge zu gewährleisten und ausreichend attraktive Arbeitsplätze bereitzustellen und zu sichern.

Boomende Städte und verlassene Dörfer? Wanderungsdynamik innerhalb Deutschlands

Auch aufgrund dieser erheblichen regionalen Unterschiede siedeln Menschen in andere Regionen um. So ziehen viele junge Familien aus den Städten in die Vorstädte, da sie dort günstigeren Wohnraum für Familien – möglichst auch mit Garten – und familienfreundlichere Quartiere und Verkehrslagen finden. Umgekehrt zieht es junge Menschen häufig in Großstädte, um dort zu studieren und einen Arbeitsplatz zu finden; häufig auch aufgrund der kulturellen Attraktivität von Städten.

QuellentextDas ist unser Haus

An dem Wohnhaus in Prenzlauer Berg hängt ein Transparent, das sich über vier Stockwerke zieht. "Danke" ist in riesigen Buchstaben darauf gemalt. […] Die Bewohnerinnen und Bewohner der Choriner Straße 12 bedanken sich bei allen, die ihnen geholfen haben, dass ihr Haus nicht an einen Investor verkauft wird. […]

Berlin, Stadt des Immobilienbooms. Wer hier lebt, tut das mit dem Gefühl, nicht zu wissen, wie lange man noch in seiner Wohnung bleiben kann. [...] [N]irgendwo in Deutschland sind die Angebotsmieten dermaßen gestiegen wie in Berlin – um 42 Prozent in den vergangenen fünf Jahren. Und nirgendwo sonst sind die Bodenpreise ähnlich in die Höhe gegangen. So war ein Grundstück, das 2009 in Friedrichshain-Kreuzberg gekauft wurde, zehn Jahre später 1578 Prozent mehr wert.

Wie in einem großen Monopoly werden in Berlin Häuser gekauft und wieder verkauft. Da stoßen die Konzerne Deutsche Wohnen und Vonovia auf einen Schlag 20.000 Wohnungen ab, oder ein schwedischer Immobilienmogul wirft 14.500 Wohnungen auf den Markt, die ein anderes schwedisches Unternehmen für geschätzt 4,5 Milliarden Euro übernimmt. Als Mieter ist man da oft nur noch Teil eines Aktienpakets, das hin und hergeschoben wird. […]

Am Beispiel der Choriner Straße 12 lässt sich aber auch gut erzählen, mit welchen Mitteln die Berliner Politik versucht, den überhitzten Wohnungsmarkt zu regulieren. Da waren der wenig erfolgreiche Mietendeckel, der vor Gericht gekippt wurde, oder das Verbot, Wohnungen als Ferienunterkünfte zu vermieten, das kaum zu kontrollieren ist. Aber es gibt auch Ideen, die ein Vorbild für andere Städte sein könnten: die massive Einrichtung sogenannter Milieuschutzgebiete etwa, in denen es nur unter strengen Auflagen erlaubt ist, Häuser zu kaufen. Mehr als ein Viertel aller Berlinerinnen und Berliner lebt inzwischen in solchen Vierteln. Und es wird immer öfter das Vorkaufsrecht angewendet, ein Passus aus dem Baurecht, der es Gemeinden ermöglicht, in Kaufverträge einzutreten, wenn dies im Sinn der Allgemeinheit ist. In Berlin läuft das dann so: Wird ein Haus in einem Milieuschutzgebiet verkauft, soll sich der Käufer verpflichten, es gemeinwohlorientiert zu bewirtschaften. Weigert er sich, kann ihm das Haus von einer landeseigenen Wohnungsbaugesellschaft, Stiftung oder Genossenschaft weggekauft werden, die es sozial verträglich vermietet. Das war auch der Kniff, auf den sie schließlich in der Choriner Straße 12 kamen.

Was einfach klingt, bedeutete praktisch, dass die Hausgemeinschaft eine Lawine an Bürokratie in Gang setzen musste, […] denn im Hintergrund tickte die Uhr: Ist ein Hausverkauf erst auf den Weg gebracht, bleiben nur etliche Wochen, um das Vorkaufsrecht auszuüben. Die Hausgemeinschaft klapperte Genossenschaften, Wohnungsbaugesellschaften und Stiftungen ab, kontaktierte Politiker und Behörden, forschte nach Fördertöpfen, in denen Geld für einen Vorkauf sein könnte. Und das alles, um etwas zu erreichen, das eigentlich selbstverständlich sein sollte: die eigene Wohnung zu behalten. […]

[...] [K]urz vor Ablauf der Frist fand sich schließlich eine Genossenschaft, die einsteigen wollte. […] [D]ie Hausgemeinschaft muss sich mit 600.000 Euro an dem Kredit beteiligen, mit dem die Genossenschaft die Choriner Straße 12 erworben hat.

Die Frage ist zudem, was solche Vorkäufe bewirken. Eine Hausgemeinschaft in Berlin-Charlottenburg zählte einmal nach, wie viele Wohnungen das Firmengeflecht aus Luxemburg, an das ihr Haus gehen sollte, in Berlin besitzt. Es waren fast 2.000. 20 davon konnten ihm über das kommunale Vorkaufsrecht abgenommen werden. Nicht zuletzt spielt Berlin mit solchen Ankäufen selbst beim großen Häuser-Monopoly mit. Vor Kurzem hat der Berliner Senat den Konzernen Deutsche Wohnen und Vonovia 14.700 Wohnungen abgekauft. Für mehrere Milliarden Euro, was den Markt weiter anheizen dürfte.

Aber wahrscheinlich geht es auch um etwas anderes. Um eine Art von Nachbarschaft, die so gar nicht dem Bild der anonymen Großstadt entspricht. In der Choriner Straße sind die meisten schon lange miteinander befreundet, sie sitzen gemeinsam vor dem Späti […]. Dadurch bekamen sie nicht nur mit, wie plötzlich Leute ihr Haus fotografierten oder in Marcel Hellsterns Café fragten, wie das hier so sei. Sie konnten auch schnell handeln – viele Hausgemeinschaften erfahren von einem Verkauf erst, wenn schon alles in trockenen Tüchern ist. […]

Der Stadtsoziologe Andrej Holm sieht darin den Beginn von etwas Größerem. Eine neue Art der Mobilisierung. Hätten die Menschen bis vor zehn Jahren mit Slogans wie "Keine Rendite mit der Miete" gegen die Veränderungen auf dem Wohnungsmarkt protestiert, sieht er jetzt zunehmend Mieterinnen und Mieter, denen es darum gehe, Programme zu entwickeln und sogar Politik zu machen. In München wollte ein Volksbegehren einen Mietenstopp erreichen, in Berlin gab es einen Volksentscheid über die Enteignung von großen Immobilienkonzernen. In Amsterdam setzt das progressive Regierungsbündnis auf eine Beteiligung von Bürgerinitiativen, in Zagreb sind Leute aus einer Bürgerplattform in der Regierung, und in Barcelona ist aus den Reihen von Wohnungsaktivisten sogar eine Bürgermeisterin hervorgegangen. Wenn es so weitergeht, könnten Mieterinnen und Mieter eine neue politische Kraft werden. […]

Verena Mayer, "Wir können auch anders", in: Süddeutsche Zeitung vom 30. Oktober 2021

Diese Wanderungsbewegungen gleichen sich nicht immer aus, sodass sich boomende Regionen und Abwanderungsregionen gegenüberstehen. So gestaltete sich die Bevölkerungsentwicklung zwischen 1990 und 2019 in Deutschlands Städten und Landkreisen sehr unterschiedlich: In Hamburg, Berlin und München – und vor allem auch im Einzugsgebiet dieser Metropolen – ist die Bevölkerung deutlich gewachsen, meist über ein Fünftel. Auch das Emsland, das Rhein-Main-Gebiet, die Region Freiburg-Schwarzwald sowie weite Teile Oberbayerns bis zu Regensburg und Neumarkt in der Oberpfalz sind die großen Wachstumsregionen der vergangenen Jahrzehnte.

Im Umkehrschluss gab es zwischen 1990 und 2019 auch einige Regionen, die stark von Abwanderung betroffen waren. Da es in Deutschland zeitgleich einen Überschuss an Strebefällen im Verhältnis zu Geburten gab, führte dies in den von Abwanderung betroffenen Regionen zu einem erheblichen Bevölkerungsrückgang. Betroffen waren insbesondere viele Kreise in den ostdeutschen Bundesländern. Mit Ausnahme von Berlin, dem Berliner Umland sowie den Städten Dresden, Erfurt, Jena und Leipzig haben fast alle ostdeutschen Kreise deutlich an Einwohnerinnen und Einwohnern verloren. Rückgänge von über einem Fünftel der Bevölkerung verzeichneten vor allem Landkreise in Sachsen, Sachsen-Anhalt sowie den östlichen Kreisen in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern. Aber auch in einigen westdeutschen Bundesländern ist aktuell ein Bevölkerungsrückgang zu beobachten, insbesondere im Saarland, im Ruhrgebiet nordöstlich von Düsseldorf und im Süden Niedersachsens.

Zwei zentrale Fragen können in diesem Kontext gestellt werden: Darf bzw. müssen womöglich einzelne Dörfer "aufgegeben" werden, wenn deren Versorgung unverhältnismäßig teuer wird? Soll der Umzug junger Menschen in wirtschaftsstarke Regionen gefördert oder soll dem durch Industriepolitik und die Nutzung digitaler Möglichkeiten zur Telearbeit entgegengewirkt werden? Politische Entscheidungen hinsichtlich dieser Fragen müssen stets auch an den lokalen Rahmenbedingungen ausgerichtet werden. Boom- und Abwanderungsgebiete gab es historisch schon immer. Letztlich ist es Aufgabe der Politik, wirtschaftliche Überlegungen und das Ziel gleichwertiger Lebensverhältnisse in allen Regionen der Bundesrepublik in Einklang zu bringen. Dies gewährleistet das Sozialstaatsprinzip der Bundesrepublik Deutschland.

Wachstum und Rückgang der Bevölkerung in kreisfreien Städten und Landkreisen zwischen 1990 und 2020 in %. Datenquelle: Statistisches Bundesamt, Berechnungen und Grafik: BiB. Externer Link: https://www.demografie-portal.de/DE/Fakten/bevoelkerungsentwicklung-regional-seit-1990.html

Nach der Wiedervereinigung setzte eine starke Ost-West-Wanderung ein, da der Systemumbruch von der DDR-Staatswirtschaft zur westdeutschen Marktwirtschaft die Arbeitslosigkeit in den ostdeutschen Bundesländern sehr hoch anstiegen ließ, während die Karriereentwicklungs- und Einkommensmöglichkeiten dort deutlich sanken. Insbesondere junge Menschen wanderten ab. In den 1990er-Jahren zogen pro Jahr im Durchschnitt 59.000 Personen mehr von Ost nach West als umgekehrt, in den 2000er-Jahren waren es sogar 61.000 pro Jahr. Zwischen 1991 und 2016 lag der Wanderungsverlust der ostdeutschen Bundesländer bei insgesamt 1,235 Millionen Personen (jeweils ohne Berlin), besonders häufig wanderten junge Erwachsene von Ost nach West (bzw. Süd) ab. Allerdings gibt es aktuell eine Trendumkehr: Seit 2017 ziehen mehr Menschen von West nach Ost als umgekehrt, wobei die Wanderungsbilanz nur wenige Tausend beträgt. Ein Grund für diese Trendumkehr ist der deutlich entspanntere und attraktivere Arbeitsmarkt für junge Erwachsene in Ostdeutschland. Dies zeigt sich exemplarisch in Städten wie Jena oder Leipzig.

Wanderung zwischen Ost und West. Wanderungssaldo (Zuwanderung minus Abwanderung) von Ostdeutschland nach Westdeutschland (© picture-alliance, dpa-infografik, Globus 14 578; Quelle: Statistisches Bundesamt)

Hinsichtlich des Wanderungsverhaltens zwischen Stadt und Land gibt es keine langfristig eindeutigen Trends. In den 1990er-Jahren fand eine Suburbanisierung statt: Tendenziell zogen mehr Menschen von Großstädten in ländliche Kreise um. Zwischen 2005 und 2013 kehrte sich dies um und die kreisfreien Großstädte konnten große Wanderungsgewinne verzeichnen. 2014 änderte sich dies wiederum, seitdem legen die ländlichen Kreise zulasten der Großstädte wieder zu.

Spannend wird hier die weitere Entwicklung infolge der Coronavirus-Pandemie sein. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie Unternehmen und Behörden konnten während der Pandemie umfassende Erfahrungen mit der Arbeit im Homeoffice sammeln. Dabei wurden digitale Infrastrukturen ausgebaut, Videokonferenzen und Telearbeit eingeübt und die Zusammenarbeit auf Distanz erlernt. Für etwa 42 Prozent der Erwerbstätigen ist Homeoffice bis zu einem gewissen prozentualen Anteil in der Woche vorstellbar. Homeoffice, vor allem mit einer Anwesenheit an der Arbeitsstätte von ein oder zwei Tagen die Woche, eröffnet die Möglichkeit einer weitaus höheren Entfernung zwischen Arbeits- und Wohnort, da die Pendeldistanz nicht täglich zurückgelegt werden muss. Angesichts hoher Mieten in vielen Städten könnte eine Abwanderung in Vororte und ländliche Gebiete, die ein oder zwei Stunden per Auto oder öffentliche Verkehrsmittel entfernt liegen, durchaus eine Option für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sein.

QuellentextWittenberge – wider den Trend

[…] Unter dem Schlagwort 15-Minuten-Stadt haben es Städteplaner zum Ideal erklärt, in einem Quartier innerhalb einer Viertelstunde alles Wichtige erreichen zu können. Olaf Arndt sitzt im Bremer Büro von Prognos und leitet die Abteilung "Standort & Region". Er prognostiziert daneben den Aufstieg der 60-Minuten-Stadt, die in den kommenden Jahren zur neuen Normalität werden könnte. Am Stadtrand sind die Internetleitungen meist schnell genug für die Heimarbeit, die Grundstückspreise und Mieten aber noch relativ niedrig. […]

[D]ie Stadt Wittenberge [hingegen liegt] in Brandenburg. […] [Sie] hat nur wenige Einwohner, knapp 17.000, um genau zu sein, […] sie ist eine Kleinstadt im ländlichen Raum. […]

Vor der Wende war die Stadt ein Industriestandort. Eine Zellstofffabrik, ein großes Nähmaschinenwerk und eine Ölmühle gaben den Menschen Arbeit. Nach der Wiedervereinigung war fast über Nacht alles im Eimer. Die Stadt hat seitdem rund 40 Prozent ihrer Bevölkerung verloren. Und sie scheint auf den ersten Blick weiter leer auszugehen, denn Wittenberge liegt außerhalb der 60-Minuten-Grenze. Mit dem Wagen ist man nach Berlin wie Hamburg etwa zwei Stunden unterwegs.

Immerhin: An Wittenberge streicht die Bahnlinie vorbei, die die beiden größten Metropolen Deutschlands miteinander verbindet. Alle zwei Stunden hält ein Fernzug, und der braucht sowohl in die Hauptstadt als auch nach Hamburg kaum mehr als eine Stunde. Doch das hilft nichts: Wenn die 60-Minuten-These von Prognos-Berater Olaf Arndt stimmt, befindet sich Wittenberge gerade so weit von den Metropolen entfernt, dass die Stadt von der Landlust der Großstädter nicht profitieren kann.

Doch auch hier gibt es Geschichten, die Hoffnung machen. Zum Beispiel die von Christian Soult. Er hat viele Jahre als freier PR-Berater in Berlin gearbeitet – und ist im Juli 2019 nach Wittenberge gezogen. In den sehr ländlichen Raum an der Elbe lockte ihn ein ungewöhnliches Projekt: Unter dem Motto "Summer of Pioneers" lud Wittenberge 20 Digitalarbeiter für ein halbes Jahr zum Probewohnen ein. Man bekam eine frisch sanierte Wohnung und einen Platz in einem nagelneuen Coworking Space, der in einer freien Etage in einem der schönsten Gebäude der Stadt liegt, in der umgebauten alten Ölmühle. […]

Das Projekt war ein Erfolg. Laut Plan hätte es im Dezember 2019 enden sollen, doch mehr als ein Jahr später leben 15 der Pioniere noch immer in Wittenberge. Sie nennen sich die "Elblandwerker" und kommen vom Film, aus dem Onlinemarketing, dem Journalismus. Freiberufler, die überall arbeiten können, wenn das Internet schnell genug ist. […]

Die Kreativen aus der Großstadt ziehen weitere Kreative an. Wohnungen für kleines Geld gibt es genug, und mit dem Rad könne man zu den Landcafés in den umliegenden Dörfern fahren, wo es "die leckersten Kuchen" gibt. Die Elbe liegt vor der Haustür und Natur hat man hier mehr als genug – Wittenberge liegt in Deutschlands am dünnsten besiedelten Landkreis.

Die Elblandwerker sind ein Beispiel für einen anderen Trend, der sich in den kommenden Jahren wohl weiter verstärken wird. "Das Städtische wächst aufs Land – und das Ländliche in die Stadt", formuliert es Christian Schuldt vom Frankfurter Zukunftsinstitut. Bei den Zukunftsforschern spricht man seit einigen Jahren vom Megatrend der Urbanisierung. "Doch dazu entwickeln sich immer auch Gegenbewegungen, die dann wiederum neue Verbindungen mit dem Megatrend eingehen und ihn sozusagen auf eine höhere Stufe heben", erklärt Schuldt. […]

Festzustehen scheint, dass Stadt und Land in einen neuen Dialog treten. So lief es auch in Wittenberge. "Die Leute hier waren total aufgeschlossen", sagt Christian Soult, der Elblandwerker. "Und die Stadtverwaltung hat uns echt den roten Teppich ausgerollt." Jede Woche habe man mit dem Bauamtsleiter und der regionalen Wirtschaftsförderung zusammengesessen und überlegt, welche Projekte man gemeinsam anschieben könne. An dieser neuen Kreativkraft war die Kommune von Anfang an interessiert. Bei der Bewerbung, die mehr als 60 Menschen ausfüllten, musste man angeben, mit welchen Ideen man das Leben in Wittenberge bereichern könne. Die 20 besten erhielten den Zuschlag. […]

Aus vielen Einzelideen sind inzwischen feste Institutionen geworden. Etwa der Stadtsalon Safari. Den Raum dafür stellt die Stadt – in einem bis dahin nahezu leeren Bau in zentraler Lage. Hier können Tauschbörsen stattfinden, Reparaturcafés, Lesungen, Kinoabende oder Konzerte.

"Das ist ein lebendiger Ort der Kultur, wie man ihn sonst höchstens in Berlin findet", glaubt Oliver Hermann, promovierter Historiker und seit mehr als zehn Jahren Bürgermeister in Wittenberge. "Uns war klar: Wenn wir nur sagen, dass wir einen Coworking Space haben, interessiert das keinen Menschen. Niemand hat Wittenberge auf dem Zettel. Wir mussten die Sache mit einer Marketingaktion verbinden und auch finanziell ins Risiko gehen. Heute wissen wir: Es hat sich gelohnt." Stadtentwicklung per Kultur. Und das in einer Region, in der man hinter vorgehaltener Hand schon über Abwrackprämien für kleine, sterbende Dörfer spricht.

In den Neunzigerjahren lag die Arbeitslosigkeit in Wittenberge noch jenseits der 20-Prozent-Marke. "Zu Anfang meiner Amtszeit hatte ich genau drei Prioritäten: Arbeitsplätze, Arbeitsplätze und Arbeitsplätze", sagt Hermann. Inzwischen haben sich mehrere Firmen in der Stadt angesiedelt und neue Jobs gebracht […], die Arbeitslosenquote liegt heute [2021] bei acht Prozent. […]

Aus stadtplanerischer Sicht sind längst nicht alle Probleme gelöst. Noch immer hängt an vielen maroden Häusern der Altstadt ein Schild "Zu verkaufen". Zehn bis zwanzig Prozent Leerstand habe man in manchen Vierteln, sagt Bauamtsleiter Martin Hahn. Leere, nicht sanierungsfähige Häuser und Plattenbauten werden abgerissen. Jahr für Jahr fließen mehrere Millionen Euro in den Rückbau, der laut Hahn wohl auch in den kommenden Jahren weitergehen muss. […]

Doch parallel zur alten Geschichte vom schrumpfenden Osten registrieren Hahn und Hermann einen neuen Trend: Zum ersten Mal seit der Wende verzeichnet Wittenberge nennenswerten Zuzug aus den Metropolen und den alten Bundesländern. Ein Neubau oder ein sanierter Altbau in guter Lage sei inzwischen problemlos zu vermarkten. Dafür gebe es einen wachsenden Bedarf. "Daran war vor zehn Jahren nicht zu denken“, sagt Bürgermeister Hermann. Die Bevölkerungsentwicklung sei mittlerweile einigermaßen stabil. „Wir sind kein schrumpfendes System mehr", sagt er. […]

Jochen Metzger, "Die 60-Minuten-Stadt", in: Brand eins / thema vom 11. März 2021, Externer Link: www.brandeins.de/magazine/brand-eins-thema/unternehmensberater-2021/die-60-minuten-stadt

Regional unterschiedliche Kinderzahlen

Es gibt Kreise, in denen die durchschnittliche Kinderzahl von Frauen relativ hoch ist, und solche, in denen sie sehr gering ist. Die zusammengefasste Geburtenziffer ist hier nur bedingt aussagekräftig, denn sie ist beispielsweise in Studentenstädten sehr niedrig, da viele junge Menschen dort für einige Jahre zum Studium hinziehen, für den ersten Job aber wieder wegziehen und erst später im Leben Nachwuchs bekommen. Umgekehrt gibt es in manchen Gegenden, beispielsweise um 2010 im Stadtteil Prenzlauer Berg in Berlin, einen Pseudo-Babyboom. Dieser damals medial sehr beachtete Babyboom lag nicht an einer höheren Geburtenrate, sondern daran, dass besonders viele Frauen im Alter von 30 bis 35 Jahren dort lebten. Daher lohnt es sich, die endgültige Kinderzahl von Frauen zu betrachten, die im Alter von etwa 40 Jahren in unterschiedlichen Kreisen leben, in denen sie ihre Kinder dann auch aufziehen.

Endgültige Kinderzahl von Frauen der Jahrgänge 1969-72 in kreisfreien Städten und Landkreisen (© Bujard & Scheller 2017 (siehe Literatur) auf Basis von Zensus 2011)

Auf Basis des Zensus wurde vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) und dem Statistischen Bundesamt erstmals die endgültige Kinderzahl von Frauenjahrgängen (1969–72) auf Kreisebene berechnet. Am geringsten ist die durchschnittliche Kinderzahl im bayrischen Passau mit 1,05 Kindern, während sie im niedersächsischen Cloppenburg bei 2,01 Kindern liegt. Vergleichsweise hoch ist die Kinderzahl auf der schwäbischen Alb, im Allgäu, im Emsland, in Südfranken und in Ostsachsen mit Werten zwischen 1,7 und 2,0. Relativ niedrig ist sie im Saarland, im Rhein-Main-Gebiet, im Ruhrgebiet, im Osten Mecklenburg-Vorpommerns sowie in Großstädten wie München, Köln und Düsseldorf.

Wie in vielen anderen Staaten auch, ist die Kinderzahl in Großstädten deutlich niedriger als in ländlichen Regionen oder im Speckgürtel größerer Metropolen. Allerdings gibt es darüber hinaus einige Faktoren, die höhere Kinderzahlen in bestimmten Regionen begünstigen: Dies gilt sowohl für eine kulturelle katholische Prägung in den westdeutschen Bundesländern als auch in ostdeutschen Kreisen, wo relativ viele evangelische Christinnen und Christen leben. Einen positiven Zusammenhang mit höheren Kinderzahlen zeigt sich auch in Kreisen mit einer geringen Arbeitslosigkeit, einem Männerüberschuss und einer breiten Verfügbarkeit von relativ großen Wohnungen. Insbesondere für kinderreiche Familien ist Wohnraum mit fünf oder mehr Zimmern eine wichtige Voraussetzung, wobei manche ihren Wohnsitz auch nach der Geburt der Kinder in Regionen mit einem besseren Wohnungsangebot verlegen.

Regionale Unterschiede im Durchschnittsalter

Durchschnittsalter in kreisfreien Städten und Landkreisen in Jahren, 2019. Datenquelle: Statistisches Bundesamt, Berechnungen und Grafik: BiB. Externer Link: https://www.bib.bund.de/DE/Fakten/Fakt/B76-Durchschnittsalter-Bevoelkerung-Kreise.html

Auch die Altersstruktur und das Durchschnittsalter unterscheiden sich in Deutschlands Regionen erheblich. In Ostdeutschland leben, abgesehen von den Großstädten, relativ viele ältere Menschen, das durchschnittliche Alter liegt zwischen 45 und 51 Jahren. Am ältesten ist die Bevölkerung in der Stadt Suhl in Thüringen mit 50,8 Jahren. Eine ältere Bevölkerung findet sich auch im Saarland, in Nordhessen, in Südniedersachsen und in Teilen Schleswig-Holsteins wieder. Relativ jung ist die Bevölkerung in den größeren Städten, vor allem in Universitätsstädten, so liegt sie in Heidelberg mit 40,4 Jahren am niedrigsten. Relativ jung sind auch die beiden Bundesländer Baden-Württemberg und Bayern. Ein Vergleich der Karten mit den Wanderungsbewegungen und der Altersstruktur zeigt einige übereinstimmende Muster: Kreise, aus denen vor allem jüngere Menschen abwandern, haben eine entsprechend höhere Zahl an älteren Menschen, was dort häufig als nachteilig wahrgenommen wird.

München – Gießen – Uckermark: drei Lebenswelten

Die drei Regionen Stadt München, Landkreis Gießen und Landkreis Uckermark verdeutlichen exemplarisch die großen regionalen Unterschiede in Deutschland und regionale demografische Wandlungsprozesse. Knapp 10 Prozent der deutschen Bevölkerung lebt in einer der vier Millionenstädte, weitere 21 Prozent in Großstädten ab 100.000 Einwohnern. Etwa 15 Prozent sind in Dörfern mit weniger als 5.000 Einwohnern beheimatet. Mehr als die Hälfte der Deutschen lebt in kleineren und mittleren Städten: je 27 Prozent in Kleinstädten mit 5.000 bis 20.000 Einwohnern (wie Grünberg, Hungen, Lich oder Linden im Landkreis Gießen oder Angermünde, Prenzlau und Templin im Landkreis Uckermark) und in Mittelstädten mit 20.000 bis 100.000 Einwohnern (wie Gießen oder Schwedt im Landkreis Uckermark).

Eigene Zusammenstellung unter anderem aus Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) 2021, Bujard/Scheller 2017; INKAR 2021, Statistischen Ämter des Bundes und der Länder, Umweltbundesamt, Webseiten der Kreise München, Gießen und Uckermark

München ist eine Millionenstadt, die boomt – in die in den vergangenen Jahrzehnten viele Menschen gezogen sind –, mit einer hohen Bevölkerungsdichte, wirtschaftlicher Stärke, einem breiten kulturellen Angebot, einer hohen Breitbandquote für schnelleres Internet und einer engmaschigen ärztlichen Versorgung. Allerdings sind die Mietpreise und die Verkehrsdichte enorm hoch. Frauen bekommen dort weniger Kinder, die Kleinkindbetreuung ist nur wenig ausgebaut und es gibt wenig Naherholungsflächen in der Stadt selbst. Im Landkreis Uckermark sind die Mieten sehr günstig, es gibt viel Naherholungsfläche, eine umfassend ausgebaute Kleinkindbetreuung, wenig Verkehrsbelastung und damit verbundenen Lärm. Dort ist die Bevölkerungsdichte gering, viele Menschen sind in den vergangenen Jahrzehnten weggezogen, die Arbeitslosenquote ist höher und die Breitbandversorgung schlechter.

In Großstädten wie München ist der Anteil von Akademikerinnen und Akademikern relativ hoch, ebenso der der ausländischen Bevölkerung. Im Landkreis Uckermark sind diese Anteile geringer, zudem existieren dort ein Männerüberschuss und eine ältere Bevölkerung. Hier zeigt sich, dass vor allem jüngere Frauen wegziehen. Der Landkreis Gießen liegt bei vielen dieser Indikatoren in der Mitte. Er besteht aus einer Universitätsstadt mit rund 90.000 Einwohnerinnen und Einwohnern sowie mehreren kleineren Städten und Dörfern.

In allen diesen drei Kreisen macht es einen großen Unterschied, ob im Zentrum oder eher in der Peripherie gewohnt wird. Die jeweiligen Kombinationen aus urbanem Leben und grünem Land, aus kulturellen Angeboten, öffentlicher Daseinsvorsorge, Wirtschaftsstruktur, Wohnraum und Sozialstruktur sind jeweils verschieden und die jeweiligen Bedürfnisse sehr unterschiedlich. Bei der Wahl des Wohnortes existiert bei vielen Menschen mit normalem Einkommen ein Tradeoff: viel Wohnraum, Natur und wenig Lärm in der Peripherie oder ein breites kulturelles und berufliches Angebot im urbanen Zentrum – die meisten Menschen wünschen sich von allem eine gute Mischung. Die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse bei der öffentlichen Daseinsvorsorge – dazu gehören medizinische Versorgung, Kitas und Schulen, öffentlicher Personennahverkehr, schneller Internetzugang, Kultur und Naherholung – ist eine zentrale Herausforderung für die Politik. Spannend ist hier die Sicht auf Deutschland im internationalen Vergleich: In vielen Ländern unterscheiden sich die Lebensverhältnisse in Stadt und Land sehr viel deutlicher, die Entwicklungen in Deutschland sind unter anderem auf die mittelständisch geprägte Wirtschaftsstruktur und den Föderalismus (inklusive Finanzausgleich) zurückzuführen.

PD Dr. Martin Bujard ist stellvertretender Institutsdirektor am Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) in Wiesbaden.

Nach beruflichen Erfahrungen in der Privatwirtschaft und der Politik zog es ihn in die Schnittstelle von Wissenschaft und Politikberatung. Von 2009–2011 war er im Projekt "Zukunft mit Kindern" an der Humboldt Universität zu Berlin tätig. Seit 2011 wirkt er am BiB in Wiesbaden, seit 2015 als Forschungsdirektor des Bereichs "Familie und Fertilität", seit 2020 als stellvertretender Institutsdirektor. Der habilitierte Sozialwissenschaftler hatte Lehraufträge an den Universitäten Berlin, Mainz und Bamberg inne. Er ist Mitgründer des Familiendemografischen Panels FReDA und forscht zu Geburtenentwicklung, Public Health mit Schwerpunkt Familien und Kinder sowie Vereinbarkeit von Beruf und Familie.

Martin Bujard berät die Bundesregierung u. a. als Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat für Familienfragen des Bundesfamilienministeriums, bei der Demografiestrategie der Bundesregierung und in der Coronavirus-Pandemie bezüglich der Auswirkungen auf Jugendliche und Familien. Er ist Mitglied in wissenschaftlichen Gremien wie beispielsweise im Consortium Board des EU-weiten Generation and Gender Programme und der Arbeitsgruppe "Fortpflanzungsmedizingesetz" der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina. Ehrenamtlich setzt er sich als Präsident des evangelischen Familienverbandes eaf für Familien ein.

Danksagung: Der Autor dankt Samira Beringer, Felix Berth, Holger Bonin, Christian Fiedler, Mathias Huebener, Bernhard Köppen, Sandra Krapf, Elke Loichinger, Olga Pötzsch, Kerstin Ruckdeschel, Harun Sulak und Frank Swiaczny für viele wertvolle Kommentare zum Manuskript.