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"Zigeuner" und Juden in der Literatur nach 1945 | Vorurteile | bpb.de

Inhalt Editorial Was sind Vorurteile? Fremde, Fremdsein - von der Normalität eines scheinbaren Problemzustandes "Fremde" in den Medien Türkische Minderheit in Deutschland Polenbilder in Deutschland seit 1945 Rassistische Vorurteile Antisemitismus Sinti und Roma als Feindbilder "Zigeuner" und Juden in der Literatur nach 1945 Vorurteile gegen sozial Schwache und Behinderte Stereotype des Ost-West-Gegensatzes Literaturhinweise und Internetadressen Autorinnen und Autoren, Impressum

"Zigeuner" und Juden in der Literatur nach 1945

Mona Körte

/ 5 Minuten zu lesen

Der Schriftsteller Jurek Becker, 1997 gestorben, befasste sich in seinen Büchern mit den Möglichkeiten des jüdischen Lebens nach dem Zweiten Weltkrieg. (Leon Becker) Lizenz: cc by-sa/2.5/deed.de

Einleitung

Der "Zigeuner" und der Jude sind gängige Projektionsfiguren für das "Andere" oder das unverstandene "Fremde" einer Gesellschaft, die ihnen zugeschriebenen Merkmale werden zu den typischen Eigenschaften ihres ganzen Volkes stilisiert.

"Zigeuner"-Darstellungen

Die rassige Carmen, bunte Zigeunerwagen, wilde Zigeunermusik, die unheimliche Wahrsagerin, der Dieb oder der arbeitsscheue Vagabund sind traditionelle und bis heute wenig hinterfragte Typisierungen des "Zigeuners" bzw. der "Zigeunerin" in der Literatur und anderen Künsten. Reduziert auf ihre Funktion als spannungserhöhende und die Handlung vorantreibende Instanz, gehören sie seit dem 18. Jahrhundert zum Figurenbestand der populären Literatur (der Sagen, Märchen, Balladen, Schauerromane und Abenteuergeschichten). Neben den klassischen Behandlungen des Zigeunerstoffes diente der vagabundierende Fremde als bloße Randfigur einer exotischen Kulisse. Nach 1945 steht er mitunter als Protagonist im Zentrum des Geschehens.

Seit Jahrzehnten erfreuen sich Geschichten mit vorverurteilenden Erzählungen über "Zigeuner" aus aller Welt einer ungebrochenen Konjunktur. Manche der dort versammelten Erzählungen fanden gar Eingang in die Schulbücher, wie etwa Wolfdietrich Schnurres Kurzgeschichte "Jenö war mein Freund" (1958). Dieser Klassiker der Jugendliteratur geriet ins Kreuzfeuer der Kritik, da Schnurre in wohlmeinender Absicht - die Geschichte endet mit der Deportation und einer Anspielung auf den Völkermord an den Sinti und Roma - in der Figur Jenö die positiven wie negativen Klischees vom schlitzohrigen und stehlenden Zigeunerjungen fortschreibt.

Erzählt wird die Geschichte einer Freundschaft zwischen dem jugendlichen Ich-Erzähler und dem Zigeunerjungen Jenö, dessen "Leute [?] in ihren Wohnwagen" hausen und wie die Großmutter "unglaublich verwahrlost" sind. Eigentlicher Held der Geschichte ist der geliebte Vater des Ich-Erzählers. Obwohl seine Vorurteile bestätigt werden, klagt der Vater nicht, als nach Jenös Besuch ein Barometer und bald auch einiges mehr fehlt. Im Kontakt mit Jenö tauscht der Vater die anfänglich "zigeunerfeindliche" Haltung lediglich gegen eine "zigeunerfreundliche" ein, die die von Schnurre beschriebene Anders- und Fremdartigkeit im Ganzen unverstanden lässt. Das Verhalten des Zigeunerjungen, der Igel verspeist und Kinderspielzeug klaut, wird mit den "anderen Sitten" entschuldigt, der Junge aber bleibt auf seine Fremdheit reduziert und darin ohne persönliche Dynamik. Mangelnde Reflexion und fehlendes Problembewusstsein lässt Schnurre auch darin erkennen, das sein Zigeunerjunge nicht Romanes, sondern die auf das Mittelalter zurückgehende Gaunersprache Rotwelsch spricht. Diese weist Jenö als Nachfahren der so genannten Jenischer aus, bei Schnurre gehört er also irrtümlich der ethnischen Gruppe der Sinti und Roma an.

Die kritische Rezeption derartiger Erzählungen tat stereotypen Zigeunerdarstellungen keinen Abbruch. In dem 1990 erschienenen Buch "In meiner Sprache gibt es kein Wort für morgen" beispielsweise kombiniert die Autorin Elisabeth Petersen beharrlich fortbestehende und mit der Realität der Sinti und Roma unvereinbare Mythen wie den vom unbeschwerten Zigeunerleben und von zwanghafter Mobilität, verbunden mit der Unterstellung, Sinti lebten nach Art von Kindern in der puren Gegenwart und hätten daher kein "Wort für morgen".

QuellentextTradierte Zigeunerbilder

Auch wenn die gängigen Bilder von den "Zigeunern" nicht auf persönlichen Erfahrungen beruhen, so sind sie keineswegs aus der Luft gegriffen. Sie gehören zum kulturellen Erbe, auf das die Deutschen, "das Volk der Dichter und Denker", so stolz sind. [...]
Die Dichter haben sich für ihre Darstellung von "Zigeunerfiguren" nicht mit der realen Lebensweise der Sinti und Roma befasst, sondern ausschließlich aus schriftlichen, vor allem literarischen Quellen geschöpft. Der junge Goethe hat für das "nächtliche Zigeunerlager" im "Götz von Berlichingen" auf Cervantes und Wieland zurückgegriffen, die Romantiker haben Goethes Porträt der zigeunerhaften Mignon kopiert, die Autoren des Biedermeier und des Realismus haben Züge von Goethes Mignon und Mignons romantischen Schwestern kombiniert [...].
Die ethnische Dämonisierung der "Zigeuner" blieb nicht auf das späte Mittelalter beschränkt, sondern wurde durch die Volksliteratur, durch Märchen, Sagen, Legenden, Schwänke und Witze verbreitet und fand auch in mehreren Erzählungen der Romantik Eingang. Die "fahrenden Zigeuner" werden in den Sammlungen von Sprichwörtern, Schwänken und Fasnachtsspielen des 16. Jahrhunderts ebenso wie von Luther als Bettler, Diebe und Betrüger verurteilt, während sie in Grimmelshausens Schelmenromanen ungleich positiver als listige Gauner und Abenteurer porträtiert werden.
War die Figur des "Zigeuners" vor 1770 nur eine Randerscheinung, so haben sich danach die feindlichen "Zigeunerbilder" ebenso wie die Judenbilder schlagartig vermehrt und verschärft. [...]
So sind in verschiedenen Epochen verschiedene Vorurteile über Sinti und Roma in die Literatur eingegangen: erst die Dämonisierung der Einwanderer aus dem Nahen Osten, dann die Kriminalisierung der Fahrenden und seit der Aufklärung die Herleitung der ihnen aufgezwungenen Merkmale aus ihrer Rasse. Da diese Vorurteile durch die Literatur am Leben geblieben sind, haben sie einander nicht abgelöst, sondern sich zu einem todbringenden Feindbild addiert. [...]
Während die Sinti und Roma in Westeuropa längst sesshaft sind und bürgerliche Berufe ausüben, werden in schulischen Lesebüchern, in Editionen von "Zigeunermärchen", in Tatort-Krimis und auf Musikfestivals nach wie vor exotische Bilder von "Zigeunern" verbreitet, die lachen, singen oder weinen, sich prügeln oder sich umarmen und die Engel oder Hexen, Clowns oder Verbrecher darstellen, nur ja keine normalen Menschen.

Wilhelm Solms, "'Der Zigeunermythos' und seine Wurzeln", in: Neue Zürcher Zeitung vom 2./3. Dezember 2000.

Judendarstellungen

Ungleich der Figur des "Zigeuners", dessen Bildervorrat in der Literatur nach 1945 unverändert geblieben ist, existieren nach dem Holocaust neben den alten Stereotypen der "schönen Jüdin" und dem "gewissenlosen und geizigen Juden" auch neue.

Neu an den zunächst wenigen literarischen Judenbildern seit 1945 ist die Reduktion des Juden auf ein schutz- und wehrloses Opfer, wofür Bruno Apitz` Roman "Nackt unter Wölfen" (1958) ein Beispiel ist. Im Zentrum des Romans steht ein kleiner jüdischer Junge, der von Auschwitz nach Buchenwald geschmuggelt und dort von kommunistischen Häftlingen versteckt und gerettet wird. Die Konzentration auf ein Kinderschicksal ist ein bewährter Kunstgriff, bei dem, weil das Grauen "verkleinert" wird, die Sympathie und Identifikation der Leserschaft gewiss scheint. Nicht das Ausmaß der Vernichtung ist zentral und drängt ins Bewusstsein, sondern die Tatsache, dass ein Kind leiden muss.

Schwieriger ist das Werk von Alfred Andersch zu beurteilen, der wie kein anderer Nachkriegsautor Judenfiguren zum Thema gemacht hat. In seinem Roman "Efraim" (1967) führt er einen deutsch-jüdischen Intellektuellen als Ich-Erzähler ein, der - vom frühen Exil und der Ermordung der Eltern in Auschwitz geprägt - nach Berlin kommt, um nach seiner Kinderfreundin Esther zu suchen. Während Efraim zu Beginn von Esthers Tod überzeugt ist, hat er am Ende Grund zu der Annahme, dass sie bei Nonnen überlebt hat. Einerseits zeigt sich in Anderschs jüdischer Figur ein Hang zur Bagatellisierung der Ereignisse - als jüdische Figur darf Efraim ungestraft über die Zufälligkeit des Holocaust räsonieren; auch lässt sein Buch eine Faszination an der fragwürdigen Verbindung von "Kitsch und Tod" (Saul Friedländer) erkennen. Andererseits beschwört er die antisemitische Legendenfigur des "ewigen Juden" herauf, um dessen mythisches Schicksal als unzeitgemäßes Gegenmodell zu seinem differenziert entworfenen und sehr lebendigen Ich-Erzähler zu markieren.

Assoziative Wirkungen

Im Hinblick auf Stereotype in der Literatur ist zu unterscheiden zwischen der Intention des Autors und dem von ihm ungewollt zum Ausdruck kommenden Vorrat unreflektierter Bilder. Wie schmal der Grat zwischen Autorintention und im Text unkontrolliert wuchernden Stereotypen sein kann, zeigte die Auseinandersetzung um Martin Walsers Roman "Tod eines Kritikers" (2002), in dem der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki die Vorlage bildete. Durch die blinde Übernahme von Legenden und Vorurteilen hat die Belletristik dazu beigetragen, dass Juden zu holzschnittartigen Shylocks und aus Sinti und Roma "Zigeuner" wurden. Sterotype "Zigeuner"- Bilder treten in zwei mitunter auch zusammenwirkenden Varianten auf:

  • Als negatives Klischee, das dem "Zigeuner" wie in Schnurres Erzählung "Jenö war mein Freund" in der Kriminalisierung eine fundamentale Andersartigkeit unterstellt. Das traditionelle Bild des wie unter Zwang stehlenden Zigeuners ohne Unrechtsbewusstsein löst die Assoziationskette aggressiv, asozial, arbeitsscheu, betrügerisch, gefährlich, kriminell aus.

  • Als überwiegend in Schauerromanen und Abenteuergeschichten, aber auch in Jugendbüchern nach 1945 ("Mond, Mond, Mond" von Ursula Wölfel) greifendes positives Klischee, das romantisch-verklärend mit der Vorurteilsstruktur der "Zigeuner" als freien, stolzen, wilden, lebensfrohen, sinnlichen Genüssen ergebenen Menschen operiert. Die "positive" Kennzeichnung ist ebenso wie die negative ein Indiz für das Fehlen jeder Selbstverständlichkeit im Umgang mit den Figuren und birgt durch den Abbau an Komplexität die Gefahr einer Verklärung der Umstände zum Sozial- oder Milieukitsch.

Obwohl "Zigeuner"- und Judenbildern unterschiedliche Feindvorstellungen zugrunde liegen - der "Zigeuner" hat in der Personifikation von "Natur" keinen Anteil am Prozess der Zivilisation, während der Jude eben diesen Prozess, Modernität und Modernisierung, verkörpert - gilt das negative wie das positive Klischee vom Zigeuner gleichermaßen für stereotype Judendarstellungen.

Jenseits von Typisierungen

Eine wichtige Voraussetzung zur Vermeidung von Stereotypen ist die Einsicht, dass von außen herangetragene Zuschreibungen sehr viel mehr über die Mehrheitsgesellschaft als über leibhaftige "Zigeuner" und Juden aussagen. Bei Autoren wie Johannes Bobrowski ("Levins Mühle", 1964), Erich Hackl ("Abschied von Sidonie", 1989) und W.G. Sebald ("Die Ausgewanderten", 1992) bildet diese Einsicht einen Teil ihres Selbstverständnisses. In ihrer literarischen Annäherung an "Zigeuner" und Juden hinterfragen sie das bestehende Arsenal an Mythen und Stereotypen, indem sie der heiklen Tradition an Vorurteilen den Spiegel vorhalten.

Diese Beispiele erschöpfen sich nicht in der Aufhebung eines Informationsdefizits im Hinblick auf Sinti, Roma und Juden, sondern bieten in ihrer Darstellung und Bewertung von Problemen, Konflikten und Auswegen auch eine Form der Informationsverarbeitung jenseits traditioneller Zuschreibungen an.

Daneben werden literarische Selbstentwürfe der Betroffenen als Korrektur hartnäckiger Mythen wirksam. Erinnerungen wie Ceija Stojkas "Wir leben im Verborgenen: Erinnerungen einer Rom-Zigeunerin" (1988) oder Marcel Reich-Ranickis "Mein Leben" (1999) halten stereotyper Verengung die Vielfalt individueller Erfahrungen entgegen und verhindern, indem die eigene Geschichte selbst erzählt wird, die Degradierung zum Objekt.