Das personalisierte Verhältniswahlrecht
Was genau bedeuten eigentlich Erststimme, Zweitstimme, Landesliste und Direktmandat? Wähle ich "meinen" Abgeordneten oder eine Partei? Wie die Mechanismen des personalisierten Verhältniswahlrechts und ihre Ausnahmen funktionieren, wird häufig missverstanden. Ein Überblick: von der Wahlkreiseinteilung bis zum Wahlergebnis.
Mit der Zweitstimme werden Parteien gewählt. Die Zweitstimme entscheidet über die Zusammensetzung des Bundestages. Sie ist daher eindeutig wichtiger als die Erststimme.

Die Zusammensetzung des Bundestages
1. Ausschluss kleiner Parteien durch die FünfprozentklauselZunächst werden alle Zweitstimmen zusammengezählt, die eine Partei über die Landeslisten erhalten hat. Das ist die Anzahl ihrer Zweitstimmen. Wird sie durch die Gesamtzahl der gültigen Zweitstimmen geteilt, ergibt sich ihr Anteil an den Zweitstimmen aller Parteien. Dieser muss mindestens fünf Prozent betragen, sonst scheidet die Partei für die Vergabe von Sitzen grundsätzlich aus. Allerdings gilt dabei folgende Ausnahme: Eine Partei erringt mindestens drei Direktmandate (Grundmandatsklausel).
2. Feststellung der Mandatszahl jeder Partei
Nun wird nach dem Verfahren Sainte-Laguë berechnet, wie viele Mandate jede Partei im Bundestag erhält. Dabei werden nur noch die Zweitstimmen für Parteien berücksichtigt, die an der Mandatsvergabe überhaupt teilnehmen, indem sie die Fünfprozenthürde geschafft oder mindestens drei Direktmandate errungen haben.
3. Aufteilung der Sitze auf Landeslisten
Nachdem feststeht, wie viele Sitze eine Partei insgesamt im Bundestag hat, werden sie auf die verschiedenen Landeslisten aufgeteilt. Jedes Bundesland erhält entsprechend dem Anteil der Zweitstimmen für seine Landesliste Mandate. Die Berechnung erfolgt auch hier nach dem Verfahren Sainte-Laguë.
4. Berücksichtigung der Direktmandate
Von der Anzahl der Sitze, die auf eine Landesliste im Bundestag entfallen, wird die Anzahl der Direktmandate abgezogen. Die ihr verbleibenden Sitze werden mit Listenkandidaten besetzt. Es kommt vor, dass eine Landesgruppe mehr Direktmandate gewonnen hat, als ihr Mandate zustehen. Es ziehen trotzdem alle erfolgreichen Direktkandidaten in den Bundestag ein. Die Mandate, die "zu viel" vergeben werden, heißen "Überhangmandate". Die Anzahl der Bundestagsabgeordneten nimmt um die Überhangmandate zu. Ein proportionaler Ausgleich zugunsten von Parteien, die keine Überhangmandate erringen, findet bei Bundestagswahlen nicht statt.
Dieses Verfahren wird häufig missverstanden und als Mischung von Mehrheitswahl und Verhältniswahl dargestellt. Das ist nicht richtig. Zwar werden die Direktkandidaten und -kandidatinnen nach relativer Mehrheitswahl bestimmt. Wie viele Sitze eine Partei im Bundestag erhält, hängt aber allein (Ausnahme: Überhangmandate) vom Anteil der Zweitstimmen ab. Das bundesdeutsche Wahlrecht ist daher eindeutig ein Verhältniswahlrecht. Durch die direkte Wahl von Abgeordneten in Einpersonenwahlkreisen mit der Erststimme soll die Verbindung zwischen Abgeordneten und Wahlberechtigten gestärkt werden.
Man wollte die starke Trennung der Abgeordneten von den Wählerinnen und Wählern, wie sie in der Weimarer Republik die reine Verhältniswahl mit starrer Liste nach sich gezogen hatte, vermeiden. Ob in der Bundesrepublik die Bindung der Abgeordneten an die Wählerschaft im gewünschten Umfang gelungen ist, bleibt fraglich. Auch mit der Erststimme werden mehr Parteien als Personen gewählt. Doch gegenüber der Weimarer Republik ist das Wahlsystem der Bundesrepublik eindeutig mehr auf Personen zugeschnitten. Es wird daher als "personalisierte Verhältniswahl" bezeichnet. Wer detaillierte Einzelheiten erfahren möchte, muss im Bundeswahlgesetz von 1956 nachschlagen, das zuletzt am 17. März 2008 geändert wurde. Nachfolgend sollen einige wichtige Grundsätze aus diesem Bundeswahlgesetz vorgestellt und diskutiert werden.
Wahlkreiseinteilung
Wie viele Bundestagsmandate insgesamt verteilt werden, hängt von der Zahl der Wahlkreise im Bundesgebiet ab. Bis Juni 1990, also vor der deutschen Einheit, war das Bundesgebiet in 248 Wahlkreise eingeteilt. Dazu kamen noch 22 Vertreter West-Berlins, die vom Berliner Abgeordnetenhaus delegiert wurden und im Bundestag nur über ein eingeschränktes Stimmrecht verfügten. Unter Sonderbedingungen fand die Wahl von 1990 statt. Es blieb bei der Einteilung von 248 Wahlkreisen in den alten Bundesländern. Hinzu kamen in den fünf neuen Ländern weitere 67 Wahlkreise. Zusammen mit den 13 Wahlkreisen des wiedervereinigten Berlin ergab sich daraus die Gesamtzahl von 328 Wahlkreisen.In Paragraf 3 des Bundeswahlgesetzes ist festgelegt, was bei der Einteilung der Wahlkreise von der dafür zuständigen Wahlkreiskommission zu beachten ist. Diese Regelungen sind wichtig, weil der Zuschnitt der Wahlkreise einen großen Einfluss auf die Vergabe der Direktmandate haben kann.
- Bevölkerungszahl eines Wahlkreises: Wenn es zu große Unterschiede in der Bevölkerungszahl gibt, kann ein/e unterlegene/r Kandidat/in in einem sehr großen Wahlkreis mehr Stimmen errungen haben als der Gewinner eines kleinen Wahlkreises, oder anders ausgedrückt, kann in einem kleinen Wahlkreis eine Stimme ein größeres Gewicht haben als in einem großen – das aber widerspricht dem Gleichheitsgrundsatz. Deshalb legt das Bundeswahlgesetz in Paragraf 3, Absatz 1 fest, dass die Abweichung von der durchschnittlichen Größe nur 15 Prozent betragen soll und nicht mehr als 25 Prozent ausmachen darf. Dafür ist die Beobachtung der Bevölkerungsentwicklung durch die Wahlkreiskommission notwendig (ausländische Einwohner werden dabei nicht berücksichtigt); der Bericht wird in jeder Wahlperiode dem Innenministerium vorgelegt.
- Zuschnitt der Wahlkreise:Das Bundeswahlgesetz schreibt in Paragraf 3, Absatz 1 vor: "Der Wahlkreis soll ein zusammenhängendes Gebiet bilden." Hinter dieser trivial klingenden Vorschrift steckt folgender Gedanke: Unterschiedliche Wählerschichten sind geografisch oft sehr unterschiedlich verteilt. Das könnte man auf zweierlei Art ausnutzen, um ein gewünschtes Ergebnis zu begünstigen. Man kann durch die Wahlkreise eine Wählerhochburg einer Partei "zerschneiden" in der Hoffnung, dass so in keinem der Wahlkreise ihre Stimmenanzahl zu einem Mandatsgewinn ausreichen wird. Falls die Gefahr besteht, dass eine Partei auf diese Weise doch mehrere Wahlkreise gewinnen könnte, kann man eine Hochburg bilden. Dort wird die Partei mit einem großen Stimmenüberschuss gewinnen; diese Stimmen fehlen ihr aber dann in den umliegenden Wahlkreisen, sodass sie in diesen verlieren wird.
"Der Deutsche Bundestag wird mit Wirkung ab der 15. Wahlperiode auf 598 Mitglieder verkleinert. Dazu ist eine Neueinteilung des Bundesgebietes in 299 Wahlkreise erforderlich, die bis zum Ablauf der 13. Wahlperiode in einem die Anlage zu §2 Abs.2 des Bundeswahlgesetzes ändernden Gesetz festgelegt werden muss." (Deutscher Bundestag, Drucksache 13/8270)
Zugleich votierte das Parlament gegen eine grundsätzliche Veränderung des Wahlrechts. Die damalige Kommission machte folgende Vorschläge, die mit Gesetz vom 13. Februar 1998 umgesetzt wurden:
- Für die Wahl des Jahres 1998 wurden 29 Wahlkreise neu abgegrenzt, deren Bevölkerung um mehr als ein Drittel nach oben oder unten vom Durchschnitt abwich. Dagegen verzichtete die Kommission darauf, die Neuverteilung der Wahlkreise auf die Bundesländer bereits für die Wahl 1998 zu empfehlen. Zugleich gab die Kommission die Empfehlung, ab dem Zeitpunkt der Verkleinerung des Bundestages (im Jahre 2002) die Grenzen der zulässigen Ungleichgewichte bei der Wahlkreiseinteilung enger zu ziehen (max. 25 Prozent).
- Die Reformkommission hatte außerdem einen Vorschlag unterbreitet, der die zukünftige Neueinteilung des Bundesgebietes in 299 Wahlkreise regelt. Die vorgeschlagenen Wahlkreise weichen hinsichtlich ihrer Einwohnerzahl jeweils um höchstens 25 Prozent vom allgemeinen Durchschnitt ab und werden auch in Zukunft diese Grenze voraussichtlich nicht überschreiten.
Wahlorgane
Neben dem System der Wahl müssen auch die Organe bestimmt werden, die die Durchführung der Wahl leiten.Paragraf 8 des Bundeswahlgesetzes regelt, welche Organe mit welchen Aufgaben gebildet werden: