Da in Verhältniswahlsystemen die Zuteilung von Mandaten nach dem proportionalen Anteil von Parteien an den gültigen Stimmen erfolgt, sind Sperrklauseln ein Instrument, um die Anzahl von Parteien auf der parlamentarischen Ebene zu begrenzen. Dahinter steht der leitende Gedanke, dass die Regierungsbildung bei einer zu starken Zersplitterung des Parlaments erschwert und die Stabilität einer Regierung beeinträchtigt werden kann. Zu unterscheiden sind faktische (wahlsystemimmanente) Sperrklauseln, die sich aus der Wahlkreisgröße, der Anzahl der zur vergebenden Sitze sowie den Stimmverrechnungs- bzw. Sitzzuteilungsverfahren ergeben, und explizite ("künstliche") Sperrklauseln, die aufgrund von politischen Entscheidungen in ein Wahlsystem integriert werden, um die Anzahl von Parteien im Parlament zu beschränken. Die Niederlande zum Beispiel haben ein reines Verhältniswahlsystem ohne explizite Sperrklausel. Aufgrund der Anzahl der zu vergebenden Sitze und des Zuteilungsverfahrens reichen dort ca. 0,67 Prozent der gültigen Stimmen für eine Partei aus, um wenigstens einen Sitz im Parlament zu gewinnen.
Ursprünge und Entwicklung der Fünf-Prozent-Sperrklausel in der Wahlgesetzgebung der Bundesrepublik
In der Bundesrepublik geht die Einführung einer Sperrklausel auf Beratungen und Kontroversen im Interner Link: Parlamentarischen Rat zurück, der ab 1948 den Auftrag hatte, eine Verfassung für die Bundesrepublik auszuarbeiten. Die Vertreter der verschiedenen Parteien im Parlamentarischen Rat konnten sich zunächst nicht auf ein einheitliches Wahlrecht einigen. Befürwortern eines Mehrheitswahlrechts aus den Reihen der CDU standen die Befürworter eines Verhältniswahlrechts gegenüber, die sich vor allem aus Vertretern von SPD, FDP, Zentrum und KPD zusammensetzten.
Bundesinnenminister Robert Lehr spricht am 5. März 1953 während der Debatte über das Wahlgesetz im Deutschen Bundestag. (© dpa)
Bundesinnenminister Robert Lehr spricht am 5. März 1953 während der Debatte über das Wahlgesetz im Deutschen Bundestag. (© dpa)
Im Bundestag löste die Zersplitterung des Parlaments in der ersten Legislaturperiode eine lebhafte Debatte aus, die zu einer Reform des Wahlgesetzes von 1949 führte. Die Regierung mit der CDU an der Spitze legte einen Gesetzentwurf vor, in der die Fünfprozentklausel zur Bundestagswahl 1953 auf das gesamte Bundesgebiet ausgeweitet werden sollte. Robert Lehr, Bundesminister des Inneren (CDU), begründete den Entwurf im Bundestag folgendermaßen: "Die verfassungsmäßige Zulässigkeit einer solchen Sperrklausel ist unbestritten; sie kann nicht angezweifelt werden, denn die ist auch notwendig, um im Verhältniswahlsektor das sonst nicht gehinderte Aufkommen einer Unzahl von Splitterparteien zu hemmen" (Plenarprotokoll der 253. Bundestagssitzung vom 5.3.1953, S. 12183). Vertreter der KPD sowie kleinerer Regional- und Minderheitenparteien waren mit dieser Veränderung nicht einverstanden. Am schärfsten wurde die geplante Ausweitung der Fünfprozenthürde auf das gesamte Bundesgebiet von der KPD kritisiert. Der KPD-Abgeordnete Walter Fisch sah im Gesetzentwurf der Regierungsfraktionen ein politisches Manöver der Adenauer-Regierung, um, wie er es formulierte, unliebsame Parteien aus dem Bundestag herauszuhalten: "Schließlich will man durch die 5-%-Klausel im Bundesgebiet erreichen, daß keine politische Partei zu einem Bundestagsmandat kommt, die eine selbständige Politik verfolgt und sich durch Adenauer nicht gleichschalten lässt" (Plenarprotokoll der 254. Bundestagssitzung vom 18.3.1953, S. 12219). Die Parteien der Regierungskoalition setzten sich schließlich mit ihrer Mehrheit durch und der Bundestag beschloss in der 3. Lesung ein Wahlgesetz, dass nicht nur das bis heute gültige Zweistimmenwahlsystem mit Erst- und Zweitstimme, sondern auch eine Fünfprozentklausel für den nationalen Wahlkreis einführte
Als 1956 in einer weiteren Änderung des Wahlgesetzes die Zahl der Grundmandate von eins auf drei erhöht wurde, konnte das Wahlsystem mit Hilfe der Fünfprozenthürde und der höheren Grundmandatsklausel in der Folgezeit seine konzentrierende Wirkung voll und ganz entfalten, so dass zwischen 1957 und 1983 – von wenigen Ausnahmen abgesehen – nur noch CDU, CSU, SPD und FDP im Bundestag vertreten waren. Dadurch, dass sich die Fünfprozenthürde in der politischen Praxis bewährt hatte, gab es von Seiten der im Bundestag vertretenen Parteien kaum Gründe, an dieser Regelung etwas zu ändern. Nur in der ersten Großen Koalition (1966 – 1969) wurden Überlegungen angestellt, das personalisierte Verhältnissystem mit der Fünfprozentklausel ganz zugunsten eines Mehrheitswahlsystems abzuschaffen – eine Überlegung, die sich aber aufgrund des Widerstandes in Teilen der SPD nicht durchsetzen konnte.
Die deutsche Fünf-Prozent-Sperrklausel im internationalen Vergleich und Auswirkungen für die Europawahl 2014
Der folgende Vergleich von Verhältniswahlsystemen mit expliziten Sperrklauseln in einer Auswahl europäischer und außereuropäischer Länder zeigt, dass sich die Fünfprozenthürde in Deutschland zwar eher im oberen Bereich bewegt, aber durchaus nicht aus dem Rahmen fällt. Nur Russland und die Türkei haben deutlich höhere explizite Sperrklauseln.
Tabelle 1: Explizite Sperrklauseln in Ländern der EU sowie in Russland und der Türkei | ||
Land | Explizite Sperrklausel in % | Besonderheit |
Belgien | 5 | Gilt auf Wahlkreisebene |
Bulgarien | 4 | |
Dänemark | 2 | Ersatzweise 1 Direktmandat |
Deutschland | 5 | Ersatzweise 3 Direktmandate |
Estland | 5 | |
Griechenland | 3 | |
Italien | 4 | Für eine allein antretende Partei; 2 % für Parteien in Parteibündnissen; 10 % für Parteienbündnisse |
Kroatien | 5 | Gilt auf Wahlkreisebene |
Lettland | 5 | |
Österreich | 4 | Ersatzweise 1 Grundmandat |
Polen | 5 | 8 % für Parteienbündnisse |
Russland | 7 | |
Schweden | 4 | Ersatzweise 12 % in einem Wahlkreis |
Slowakei | 5 | 7 % bei Bündnissen aus zwei Parteien; 10 % bei Mehrparteienbündnissen |
Slowenien | 4 | |
Spanien | 3 | Gilt pro Wahlkreis |
Tschechien | 5 | |
Türkei | 10 | |
Darstellung Tabelle: Lothar Probst, 2014. |
Aufschlussreich sind auch die Regelungen der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union in Bezug auf Sperrklauseln zur Europawahl. Durch Artikel 1 des unionsrechtlichen Direktwahlaktes (DWA) ist zum einen festgelegt, dass "in jedem Mitgliedstaat […] die Mitglieder des Europäischen Parlaments nach dem Verhältniswahlsystem auf der Grundlage von Listen oder von übertragbaren Einzelstimmen gewählt [werden]" und dass zum anderen nach Artikel 3 die Mindestschwelle "landesweit nicht mehr als 5 % der abgegebenen Stimmen betragen" darf.
Tabelle 2: Sperrklauseln bei Wahlen zum Europarlament | |
Land | Explizite Sperrklausel in % |
Belgien | - |
Bulgarien | - |
Dänemark | - |
Deutschland | 3* |
Estland | - |
Frankreich | 5 |
Griechenland | - |
Italien | 4 |
Kroatien | 5 |
Lettland | 5 |
Niederlande | - |
Österreich | 4 |
Polen | 5 |
Schweden | 4 |
Slowakei | 5 |
Slowenien | - |
Tschechien | 5 |
Darstellung Tabelle: Lothar Probst, nach Angaben einer Studie des Europaparlaments, 2014. * Nach dem gegenwärtigen Stand der Gesetzgebung. |
Angesichts dieser Vergleichszahlen stellt Deutschland unter den großen EU-Ländern nach dem Urteil des BVerfG und der danach vom Bundestag bereits beschlossenen Absenkung der Sperrklausel auf 3 Prozent bei der Europawahl 2013 eine Ausnahmeerscheinung dar. Während das BVerfG das 1978 vom Bundestag beschlossene Europawahlgesetz mit der Fünf-Prozent-Sperrklausel nach einer Klage 1979 noch für verfassungskonform hielt, erklärte der Zweite Senat in seiner Entscheidung vom 9. November 2011 mit einer Mehrheitsentscheidung von 5 zu 3 Stimmen die Fünf-Prozent-Sperrklausel für nicht vereinbar mit dem GG.
Die Fünfprozenthürde in der öffentlichen Diskussion – Reformvorschläge und Alternativen
Michael Efler und Charlie Rutz von Mehr Demokratie e.V. beim Vorbereiten der Verfassungsbeschwerde gegen die Sperrklausel bei Europawahlen, die seit dem 18.12.2013 beim Bundesverfassungsgericht verhandelt wird. (© Mehr Demokratie e.V.)
Michael Efler und Charlie Rutz von Mehr Demokratie e.V. beim Vorbereiten der Verfassungsbeschwerde gegen die Sperrklausel bei Europawahlen, die seit dem 18.12.2013 beim Bundesverfassungsgericht verhandelt wird. (© Mehr Demokratie e.V.)
Das Urteil und seine Begründung erfuhren in der Folgezeit ein starkes Echo in der Öffentlichkeit und wissenschaftlichen Diskussion. Neue Nahrung hat diese Diskussion durch das Wahlergebnis der Bundestagswahl 2013 bekommen, bei der fast 16 Prozent der gültigen Stimmen bei der Sitzverteilung im Bundestag unberücksichtigt blieben. Das BVerfG hat inzwischen einer Klage gegen die vom Bundestag beschlossene Absenkung der Sperrklausel auf 3 Prozent bei der Europawahl stattgegeben und eine Sperrklausel zu dieser Wahl für nicht verfassungsgemäß erklärt, weil sie nach Ansicht des Gerichts den grundsätzlichen Bedenken aus der ersten Urteilsbegründung nicht Rechnung trägt . Beide Ereignisse fokussieren die Frage, ob nach 60 Jahren gefestigter Demokratie in Deutschland die Fünfprozentklausel bei Bundestagswahlen überhaupt noch angemessen und zeitgemäß ist. Auf jeden Fall bleibt die Frage, ob die Fünfprozentklausel auf Bundesebene noch verfassungskonform ist oder nicht, politisch umstritten.
Betrachtet man die Entwicklung des Gesamtstimmenanteils der durch die Fünfprozenthürde nicht im Bundestag vertretenen Parteien, die zwar zur Wahl zugelassen wurden, das Quorum von fünf Prozent aber nicht erreichten (Sonstige), seit der ersten Bundestagswahl von 1949 bis heute, ergibt sich folgendes Bild:
Tabelle 3: Prozentanteile Sonstige bei Bundestagswahlen seit 1949 | |
Bundestagswahlen | Gesamtprozentanteile Sonstige (nicht im Bundestag vertretene Parteien)* |
1949 | 1,1 |
1953 | 6,5 |
1957 | 6,9 |
1961 | 5,6 |
1965 | 3,6 |
1969 | 5,4 |
1972 | 0,9 |
1976 | 0,9 |
1980 | 2,0 |
1983 | 0,4 |
1987 | 1,3 |
1990 | 8,1 |
1994 | 3,5 |
1998 | 6,0 |
2002 | 3,0 |
2005 | 3,9 |
2009 | 6,0 |
2013 | 15,7 |
Darstellung Tabelle: Lothar Probst, nach Angaben des Bundeswahlleiters, 2014. * Die prozentualen Angaben beziehen sich auf die Summe der abgegebenen Stimmen, nicht auf die Summe der Wahlberechtigten. |
Bei sechs von 18 Wahlen lag der Anteil der sonstigen Parteien, der bei der Mandatszuteilung aufgrund der Fünfprozenthürde nicht berücksichtigt wurde, etwas über 5 Prozent und lediglich einmal – bei der letzten Bundestagswahl – über 10 Prozent. Es ist auch kein einheitliches Muster bzw. ein stetig aufstrebender Trend festzustellen. Insofern gibt es Grund zu der Annahme, dass der Ausgang der Bundestagswahl 2013 eine Ausnahmesituation darstellt. Gleichwohl bleibt die Tatsache, dass bei dieser Bundestagswahl 15,7 Prozent der Stimmen nicht den gleichen Zähl- und Erfolgsgleichwert hatten wie die Stimmen, die für Parteien mit einem Stimmergebnis über 5 Prozent abgegeben wurden, bedenklich – zumal nicht ausgeschlossen werden kann, dass angesichts der Veränderung und Ausdifferenzierung des Wahlverhaltens auch in Zukunft mehrere Kleinstparteien Stimmenanteile zwischen 0,5 und 4 Prozent erzielen, die sich dann auf höhere Stimmenanteile aufsummieren können. Vor diesem Hintergrund werden verschiedene Reform- und Alternativvorschläge zur Änderung der bisherigen Sperrklausel diskutiert.
Der einfachste und am leichtesten zu realisierbare Vorschlag ist eine Herabsetzung der Fünfprozentklausel. So gab z.B. Hans-Jürgen Papier, einst selber Präsident des Bundesverfassungsgerichts, angesichts des Bundestagswahlergebnis 2013 zu Bedenken, "ob man die Hürde nicht auf drei Prozent wie bei der Europawahl herabsetzen" sollte
Ob sich einer dieser Vorschläge in einem Verfahren vor dem BVerfG durchsetzen ließe, ist eine offene Frage. Voraussichtlich wird eine Klage nach dem Ergebnis der letzten Bundestagswahl nicht lange auf sich warten lassen. Und auch die Entscheidung des BverfG über die Verfassungskonformität der Dreiprozenthürde bei Europawahlen, über die die Karlsruher Richter seit Dezember 2013 verhandeln, steht noch aus.